Ich wollte nie zu München gehören

Herbert Achternbusch und die Stadt, in der er lebt: Ansichten eines Hassliebenden.

Warum ich in München wohne? Warum ich immer noch in dieser elenden Stadt lebe? Das weiß der Himmel.
Es geht ja schon los mit den Bedienungen. Unansprechbar. Das kennt ein jeder Mann, der in Wirtshäusern verkehrt, dass auf einmal eine Bedienung auftaucht, die unansprechbar ist.
Im Lauf der Zeit traut man sich die Bedienung dann doch ansprechen, sie fragen, wie sie heißt. Ach Iboya. Oder: Ach Manu. Oder Barbara oder Traudl.

Und ja, das Unansprechbare verschwindet, wenn eine Berufsschädigung an die Oberfläche tritt, Schmerzen in der Hüfte, Schmerzen im Arm, verschwitztes Gesicht, Sorgen, dann wird es alles auf einmal menschlich. Aber wohne ich nicht in München, um ins Wirtshaus zu gehen? Ich mag die internationale Mischung der Bedienungen. Und hoffe immer noch, dass eine an meinen Tisch tritt, die mich verzaubert, so sehr, dass ich, wie vom Blitz gerührt, das Wort Bier nicht herausbringe und Schaum sage. Aber das Wort Schaum versteht sie dann nicht, sie ist Japanerin, und mir fällt der Name für Bier, also Bier, ums Verrecken nicht ein.

Daheim sitzt die Halimar, meine Frau. Du heute nicht kommen nach Hause. Wollte eh nicht. Du nichts Geld. Woher weiß sie, dass ich schon wieder kein Geld habe? Versaufen tu ich¹s nicht. Drei Bier sind doch mein Abendessen.

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Lieber ist mir, wenn sie grob ist. Unsere Gespräche führen wir so laut, dass neue Bedienungen oder Gäste meinen, wir zelebrierten unsere Intimitäten öffentlich, was der Münchner ja früher gern machte. Öffentlich zu streiten war einst eine Zelebrität, die Offenbacher und Hamburger entsetzte.

Auch mein Vater hat München immer laut mit seinem Weggang gedroht, 70 Jahre lang und von der ersten Stunde an. Im Zweiten Weltkrieg hat er es nur eine Woche lang in Frankreich als Sanitäter ausgehalten, dann hat er sich nach München versetzen lassen und ist einen jeden Tag nach Gräfelfing ins Lazarett geradelt und einen jeden Tag wieder zurück in die Georgenstraße.
Immerhin war er schon die zweite Generation Münchner, die erste ist ja immer eher zurückhaltend, während die Frischzugereisten sich aufführen wie alles Gschwerl, sinnlos euphorisch.

Und ich? Ich wollte nie zu München gehören, nichts wissen von der ständigen Kompetenzüberschreitung etwa der Polizei oder gar von der Kompetenzüberschreitung der Politik. Und Kultur in München? Davon halte ich so wenig, dass ich mir meine Hüte im Ausland kaufe. Schaum. Wo trinkt man mehr Bier mit weniger Kompetenz als in München?

Zum Beispiel: der Schnitt. Ein Schnitt ist wenig Bier mit viel Schaum, wie ein Milchglas schaut es am Anfang aus. Kein Mensch nimmt mir ab, dass der Schaum mehr Alkohol birgt als das Bier. Darum nehmen die Engländer, die mit Sicherheit mehr Kultur haben als wir, mit einem Holz den Schaum ab, das Lager-Bier ist flach wie der Bodensee und liegt auch so im Glas.

Blöde Gerste, sage ich dann, keiner will den Schaum, alle wollen sie nur das Bier, so sind sie, die Münchner, so wankelmütig. Ist doch wurscht, wovon man besoffen wird. Und ich wage mir nicht vorzustellen, wie lange so einer, der den Schaum nicht mag, nicht mehr den Himmel gesehen hat.

Also München. Ja. Wie lange wird der Rathausturm noch stehen oder gar das gebullte BMW-Hochhaus? Jedenfalls werden alle Türme flach sein, wenn die Frauentürme immer noch stehen. Die Frauentürme stehen der Morgendämmerung entgegen und sind zwei Nägel, die Europa zusammenhalten. Ohne sie würde ich München sofort verlassen.

Schlendere ich über den Marienplatz und spricht mich der Oberbürgermeister an: »Ja, so ein großer Künstler ganz allein«, dann sage ich nicht mehr: »Gehen Sie weg von mir, ich will mit Ihnen in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden.« Ja, aus Angst sage ich das nicht mehr, weil mich die Stadt aus der Wohnung werfen könnte, in der ich dem Himmel so nah bin. So bin ich ein Münchner geworden, feige.

Denn »mutig wie ein Münchner«, das hat man noch nie gehört.

Den meisten Alkohol birgt nicht das Bier, sondern der Schaum – behauptet Herbert Achternbusch. Der Dichter und Filmemacher setzte sich in seiner Arbeit viel mit dem Rausch, den Münchnern und der Münchner Lust am Rausch auseinander (zum Beispiel im Oktoberfest-Film »Bierkampf« und in »Das Andechser Gefühl«). Er verbrachte auch unzählige endlose Nachmittage und Abende im »Weißen Bräuhaus« und sinnierte dort beim
Bier dem Leben hinterher.

Illustration: Dirk Schmidt