Ich sehe was, was du nicht siehst

Der Radius, in dem Kinder sich ohne Aufsicht bewegen, hat sich in wenigen Jahrzehnten von 20 auf vier Kilometer verringert. Was heißt das für ihre Persönlichkeitsentwicklung?

Direkt vor unserem Haus lag "Müllers Wiese". So nannten wir das unbestellte, wilde Feld, das einem älteren Bauern gehörte, eben Herrn Müller, einem netten Mann mit Apfelbäckchen und feinen Falten, der einmal im Jahr vorbeischaute, zum Mähen, bei dem wir ihm dann "helfen" durften, was hieß, dass er uns auf seinem blauen Traktor mitfahren ließ.

Müllers Wiese war eine Art Gemeinschaftsgarten für alle Kinder der Nachbarschaft. Mal zu dritt, mal zu zehnt bauten wir Pfade durchs silbergrüne Gras und legten Lager an für unsere Schätze: Vogelfedern, glitzernde Steine, rote Oktoberfestschraubenzieher, all das magische Zeug. Von der anderen Seite des Felds tasteten sich die Munte-Kinder heran, und wenn wir uns nach ein paar Tagen in der Mitte trafen, gab es Entführungen, Schlägereien, es war herrlich. Heim kamen wir, wenn es dunkel wurde, und wenn unsere Mutter fragte, wo wir waren, sagten wir "draußen" oder "mit Amrei und den Sieberts unterwegs".

"Erinnerung", so schreibt Vladimir Nabokov, "Erinnerung ist der lange Sonnenuntergangsschatten der Wahrheit." In besonders warmes, goldenes Licht sind wahrscheinlich bei allen Erwachsenen die Erinnerungsbilder getaucht, die einen als Kind in der Natur zeigen: Im Wald, beim Baumhausbauen. Im Steinbruch. Im vollgerümpelten Hinterhof. Am Bach, an dem man einen Staudamm baut und plötzlich taucht im Wasser der glatt glänzende Rücken eines Fischs auf.

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Viel matter erinnert man sich an Szenen in Kinderzimmern, im Hort, einer Turnhalle oder einem Spielplatz mit Müttern drumrum, an Szenen in all den pädagogischen Käfigen also, in denen Kinder heute nur zu ihrem eigenen Besten beaufsichtigt und beschützt werden.

1972 ging der amerikanische Psychologiestudent Roger Hart in eine Kleinstadt in Vermont, um das Spielverhalten von Kindern, genauer die "Geografie der Kindheit" zu erforschen: Er hing mit den Kindern draußen rum, im Sommer lief er barfuß wie sie durch den Wald, half ihnen, Hütten zu bauen und bekam dabei heraus, wo sie bevorzugt spielten; was sie machten; und dass jedes der Kinder einen oder mehrere Orte hatte, die es als sein eigenes Reich betrachtete, einen Ort, an dem es sich vor der Welt verstecken konnte, an den es ging, um nachzudenken oder einfach um weg zu sein.

Im vergangenen Herbst kehrte Hart in dieselbe Kleinstadt zurück und kam auf einen fremden Planeten: Er fand draußen keine spielenden Kinder mehr. Natürlich, es gab exquisit ausgestattete Spielplätze und viele Gärten. Aber die Pfade, auf denen er sich damals mit den Kindern herumgetrieben hatte, waren überwachsen, die Gebüschlabyrinthe verwaist, die Hütten eingefallen.

Die damaligen Kinder sind inzwischen selber Eltern geworden. Während sie sich aber im Wohnzimmer mit Hart unterhielten und nostalgisch von Verstecken in Brombeerhecken, Tipis und Sandsteinhöhlen schwärmten, saßen ihre eigenen Kinder oben im Kinderzimmer, bewegten leise Spielzeug über den allergiefreien Teppich oder sahen fern.

Harts Befund, die Kinder wüchsen nur noch in umhegten, geschützten Räumen auf, fügt sich in Unmengen ähnlicher Untersuchungen ein. Man muss nicht so weit gehen wie der amerikanische Kinderpsychologe Mark Francis, der von der "eingesperrten Kindheit" spricht, aber die Zahlen sind deutlich: Hatten Kinder in Deutschland vor 20 Jahren einen Spielradius von 20 Kilometern, bewegen sie sich heute höchstens vier Kilometer von zu Hause fort; sie verbringen gerade mal zwölf Stunden in der Woche außer Haus. Und wenn sie draußen sind, dann fast ausschließlich in Gehegen wie Trainings- oder Spielplätzen mit DIN-gemäßen und TÜV-geprüften Gerätschaften.

Nun klingen all die Erzählungen der Erwachsenen, wie sie mal aus Versehen das Feld vom Bauern Müller angezündet haben, weil sie mit dem Benzinkanister grillen wollten; wie sie unten am Fluss übernachtet haben oder in der Stadt in alten Ruinen herumstromerten, – all diese Erinnerungen klingen für viele heutige Kinder wie Geschichten aus einem fernen Land. Teilweise sind sie das auch: Die BRD der Sechziger- und Siebzigerjahre mit ihren Kriegsbrachen hat wenig zu tun mit dem Land, in dem unsere Kinder heutzutage aufwachsen.

Die Stadt ist ein optimal genutzter Raum. Brachen, Wildwuchsflächen, vollgerümpelte Hinterhöfe gibt es kaum noch, schließlich ist das potenzieller Baugrund. Auch Bauer Müller, so nett er war, hat seine Wiese irgendwann verkauft, heute steht dort ein klobiger Kasten mit xyladecorbraunen Balkonen und umzäumtem Rasenstück. Und wenn ich meine Eltern besuche, sehe ich in den kleinen Straßen, auf denen wir täglich unterwegs waren, nie Kinder. Nie. Es gibt aber auch kaum noch welche. Nur noch in 16 Prozent aller Münchner Haushalte lebt ein Kind. Und auf das wird aufgepasst wie auf eine chinesische Ming-Vase.

"Der Wert des einzelnen Kindes ist enorm gestiegen, seit Eltern entscheiden können, ob sie Kinder wollen", schreibt der Schweizer Kinderarzt Remo Largo. "Und wenn sie sich dafür entscheiden, muss es auch ein Erfolg werden." Laut einer Studie des britischen Innenministeriums spielen 33 Prozent aller Kinder bis zu zehn Jahren nie ohne Aufsicht Erwachsener im Freien. Dieselben Eltern wundern sich, wenn ihre Kinder kaum noch dazu in der Lage sind, Spiele zu erfinden und die Eltern dauernd fragen, was sie machen sollen.

"Kinder aus der Mittelschicht wachsen in viel stärkerem Maß unter den wachsamen Augen von Erwachsenen auf als noch in den Sechzigerjahren", schreibt die niederländische Sozial­geografin Lia Karsten. "Früher durfte mancher Vierjährige allein auf die Straße, heute kommt das kaum noch vor."

Es ist schön, dass Eltern heute eine enge Beziehung zu ihren Kindern haben, oft enger als die Beziehung dieser Erwachsenen zu ihren eigenen Eltern je war. Problematisch wird es aber, wenn Eltern denken, dass Kinder nur dann "richtig" lernen, wenn ein Erwachsener als Erklärer, Schiedsrichter, Lenker dabei ist. Das Gegenteil ist wahr: Kinder lernen im freien Entdecken, Erkunden, Erproben der Welt für ihre Persönlichkeitsentwicklung mehr, als wenn immer ein welterklärender Mediator neben ihnen steht. Auf eine Umfrage des Deutschen Jugendinstituts, was es sich am meisten wünsche, antwortete jedes dritte Kind: mehr Kinder zum Spielen.

Roger Hart fragte die heutigen Kinder von Vermont, wann sie andere Kinder ohne die Organisation Erwachsener treffen würden. Jedem Kind fielen zwar solche Momente ein. Es waren allerdings fast nur Scharnierzeiten, Momente des Leerlaufs im straff durchorganisierten Tagesablauf: Vor dem Fußballtraining. Im Schulbus. Nach dem Unterricht an der Straßenbahnhaltestelle. Hart folgerte lakonisch, die Gelegenheiten, sich gemeinsam ganz eigene Aktivitäten auszudenken, seien "sehr rar".

Fragt man Eltern, ob ihr Kind freie Tobezeit haben sollte, nicken wahrscheinlich erstmal alle eifrig. Gleichzeitig wollen sie aber, dass ihr Kind ein Instrument spielt, eine Sportart im Verein ausübt und einen Extrasprachkurs macht. Und während man früher auf die Sprengelschule ging, werden heute viele Kinder im Auto durch die halbe Stadt gekarrt, schließlich steht das eigene Kind ab der ersten Klasse im direkten Konkurrenzkampf mit kleinen wohlerzogenen Lernmaschinen aus China und Indien, da darf es nur die beste Schule sein.

Leider muss man dann an der freien, vermeintlich unproduktiven Zeit knapsen. Der Bostoner Psychologe David Elkins befragte Kinder danach, ob sie Stress kannten. 60 Prozent der Kinder antworteten, dass sie sich manchmal, 20 Prozent, dass sie sich häufig gestresst fühlen. Elkins sagt, Eltern würden auf die Kinder ihre eigenen diffusen Überforderungsängste übertragen: "Wir selbst fühlen uns dem Markt, dem Computer, den Medien nicht gewachsen und wollen unsere Kinder fit machen für all diese Dinge." Zumal ein Kind, das am Computer spielt, währenddessen wunderbar ruhig ist und danach keine schmutzige Klamotten hat.

Aber verrückt ist das schon: Statt wenigstens den Kindern viel zeitlichen Wildwuchs zu lassen, unrhythmisierte Zeit, die sie völlig frei gestalten können, werden von den Eltern alle Rhythmen zuplaniert, gibt es auch für die Kinder nur gestundete Zeit. Interessant wäre es herauszufinden, wann das Erziehungsmantra "Benimm dich!" abgelöst wurde durch: "Beeil dich!", heutzutage der Hauptbefehl an die Kinder.

Durch diffuse Globalisierungsängste, den allgegenwärtigen Pisastress und einen Psychologiehype um das Thema frühkindliche Förderung verunsichert, beobachten viele Eltern heute ängstlicher, ob ihre Kinder den von der Erziehungsratgeberindustrie vorgegebenen Normen entsprechen. Sie lachen abends beim Vorlesen mit ihren Kindern über die Streiche von Michel aus Lönneberga. Sollte sich aber am nächsten Morgen eines der Kinder probeweise so aufführen wie Michel, wird es sich noch am selben Nachmittag im Wartezimmer eines ADS-Spezialisten wiederfinden.

Tom Sawyer gälte heute wahrscheinlich als hoffnungslos schwererziehbar. Das mag witzig klingen. Aber wenn pro Jahr in Deutschland 500?000 Rezepte für Beruhigungsmittel für Kinder unter zwölf Jahren ausgestellt werden; wenn die Vergabe des Bravmachers Ritalin innerhalb von zehn Jahren um das 270-Fache stieg; wenn jedes vierte Kind unter acht Jahren schon bei einem Therapeuten war, sei es ein Ergotherapeut, ein Logopäde oder ein Kinderpsychologe, sagt das sicher mehr aus über die neurotischen Ängste der Eltern als über das Wesen ihrer Kinder.

Apropos Ängste: Es sterben weniger Kinder im Straßenverkehr als zu der Zeit, in der wir selbst Kinder waren. Es gibt auch nicht mehr Kinderschänder. Aber sehr vielmehr Ängste vor Kinderschändern.

Roger Hart schreibt über sein Projekt in den Siebzigern: "Damals spielten die Fünfjährigen unbeaufsichtigt draußen. So bin ich eben rumgelaufen und hab mich mit den Kindern unterhalten. Ich hab nie an eine Tür geklopft und gesagt, übrigens, Mrs. Smith, ich bin gekommen, um mich mit ihrem Kind zu unterhalten. Ich hab‘s einfach gemacht und die Eltern wussten, wer ich war, und wenn sie rausschauten, haben sie sich gedacht, ah, da ist Roger, der ist schon in Ordnung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das heute so ablaufen würde."

Die dank der Elternängste neu entstandene Kindersicherheitsindustrie reibt sich die Hände: Jeder dritte Achtjährige besitzt ein Telefon, damit die Eltern wissen, wo ihr Kind gerade ist. Einige Telefongesellschaften bieten Rumdumüberwachung an. Ist das Kind nicht pünktlich zu Hause, können die Eltern es über ihren Computer via GPS auf zehn Meter genau verorten. Bei anderen Handys kann man einstellen, dass sich das Kind nur 500 Meter von zu Hause fortbewegen kann; wird der Radius überschritten, sendet das Handy eine SMS an die Eltern. Da ist es schwer, ein Baumhaus zu bauen.

Mein Sohn kommt im September in die Schule. Ich habe mir immer ausgemalt, dass ich ihn dann jeden Morgen mit dem Rad begleite, wir beide, unser Weg … Jetzt habe ich gelesen, dass in den Siebzigern fast jeder Erstklässler ohne Begleitung zur Schule ging. Und mir fiel ein, wie ich selbst zur Schule lief, an Müllers Feld vorbei, in dem wir am Nachmittag wieder unser Lager bauen würden, hoffend, dass es eine Keilerei mit den Muntes geben würde. Soll er also allein gehen? Hmm, denke ich, aber der Verkehr. Und er ist doch noch so klein.

Eines der erfolgreichsten Sachbücher in Amerika und England war in den vergangenen Jahren übrigens das "Dangerous Book for Boys", ein Buch, das Jungen erklärt, wie man Feuer macht, Baumhäuser baut, Pfeile schnitzt. Ein Zwölfjähriger schrieb an den Verlag einen Dankesbrief, weil ihm das Buch zum ersten Mal gezeigt habe, "dass es okay ist zu spielen."

(Text); Johanna Manke (Fotos)