"Dieser ständige Kampf im Kopf. Das ist das Faszinierende."

Ein weltweiter Komplott ist angezettelt. Ziel der Verschwörung: Tore, Tore, Tore. Die Leidtragenden sind Schlussleute – wie Oliver Kahn. Doch der Torwart vom FC Bayern München nimmt die Herausforderung an. Sogar die schlimmste Verletzung eines Fußballers überwand er in rekordverdächtiger Schnelle.

Von Ihnen gibt es nicht ein Bild, auf dem Sie nach Ihrer Knie-Operation auf Krücken gehen. Warum?
Das hat schön Ärger gegeben. Einige Journalisten sind ja extra nach Colorado geflogen – ich habe alles abgelehnt. Ich hasse das, wenn ich mir Sportler ansehen muss, die mit ihrem Gips auf Krücken durch die Gegend humpeln. Wer will denn das sehen?

Am wenigsten wohl Sie selbst. Arbeiten Sie daran, sich eine Aura zuzulegen?
Ich arbeite an gar keiner Aura. Ich mache einen Job, und den versuche ich gut zu machen. Ich trainiere halt sehr viel, sehr ehrgeizig und sehr besessen. Und damals wollte ich mich total zurückziehen und nur auf meine schnelle Regeneration konzentrieren. Bewusste Imagebildung lehne ich ab. Als Privatmann vielleicht. Als Torwart auf dem Platz aber drangen Sie in eine extreme Rolle im deutschen Fußball. Kahn, der Fürchtenix, Kahn, der Hulk Hogan der Bundesliga. Ein Kraftpaket, um das man besser einen großen Bogen macht.
Eine andere Chance hat ein Torwart doch gar nicht mehr. Wenn ich sehe, wie einer im Fünf-Meter-Raum, seinem umgebenen Revier, permanent angegangen wird, regt mich das auf. Geht der Torwart hoch und es springt ihn einer an, muss es normalerweise nur knallen. Die Angreifer müssen schon bei der Flanke abdrehen und sich sagen: So, heute traue ich mich da nicht mehr hin. So ein Torwart, den haben wir gar nicht mehr. Vor wem haben die noch Angst in Europa? Vor welchem absolut dominierenden Mann? Da sehe ich nur Peter Schmeichel, den Dänen, der bei Manchester United hält. Der verkörpert alles, was ein Torwart haben muss. Groß, körperlich stark, Ausstrahlung, Bewegungssicherheit.

Auf dem langen Weg zu ähnlicher Reife sind Sie durch einen Kreuzbandriss zurückgeworfen worden.
Warum zurückgeworfen? Eine Verletzung ist Bestandteil dieses Berufes. So wie Erfolg, Misserfolg, Spiel, Training. Aus meiner eigenen Krankengeschichte als Profi wusste ich längst, dass es jeden Tag vorbei sein kann.

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Keine Klage über die verlorene Zeit?
Viele haben gesagt, der Kahn, für den ist das besonders schlimm. Aber die kennen mich nicht. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Das ist das Komische bei mir: Am stärksten bin ich immer dann, wenn etwas gegen mich ist, wenn ich Widerstand spüre. Und wenn ich 35 bin, immer noch Torwart, und zurückblicke, was interessieren mich diese paar Monate? Was interessieren mich heute noch die Tage, in denen ich mit einer Meniskusverletzung sechs bis acht Wochen rumgemacht habe, für die man normalerweise drei oder vier Wochen braucht. Nur weil ich im Kopf völlig durchgedreht bin.

Diesmal bestand die Gefahr nicht?
Ich bin die Geschichte hart, aber vernünftig angegangen. Ich bin nicht der Typ, und ich hasse das auch, diese Menschen, die sich hinstellen und ewig jammern. Ach, ist das monoton. Ich kann unheimlich diszipliniert sein, fast wie eine Maschine. Ich stand auf, mache morgens mein Programm, mache abends mein Programm. Fünf Stunden täglich. Mein Gott, halb so schlimm, da bin ich anderes gewöhnt. Langweilig halt.

Die öde Phase ist überstanden, Sie greifen wieder an. Wieder so ungestüm wie im letzten Sommer, als Sie vom Karlsruher SC zum FC Bayern gewechselt waren?
Ein Wahnsinnsjahr hatte ich dort gehabt und halt gedacht: Das vom KSC, das nimmst du locker mit rüber. Beim KSC gab es auch die Spiele, in denen nur zwei Bälle auf das Tor gekommen sind, aber ich habe die zwei gehabt. Beim FC Bayern eben nicht, und daran hab`ich mich zu stark aufgebaut. Wenn der Kahn keine Unhaltbaren hält, dann ist er nicht gut. Ich habe in jedem Spiel gesagt, so, jetzt muss einmal der Unhaltbare kommen, den musst du jetzt endlich einmal haben.

In dieser Phase angespannter Tatenlosigkeit brach im November der Leverkusener Andreas Thom durch…
…und ich komme raus, sehe, dass der Thom den Ball über mich rüberlupfen will, der Markus Babbel will noch irgendwas retten, obwohl er gar keine Chance hat, und rutscht mir unten mit dem Fuß in meinen Fuß rein. In dem Moment wusste ich, es hat mich richtig erwischt, da ist alles kaputt.

Einige prominente Zeugen meinten, Sie hätten auf der Torlinie bleiben sollen. Nur unter dem Druck, endlich die 4,6 Millionen Mark Ablösesumme zu rechtfertigen, endlich den Unhaltbaren zu erwischen, sei es zu dieser Karambolage gekommen.
Das ist so ein Syndrom. Läuft es nicht, kommen immer die mit ihren schlauen Kommentaren. Ich wollte ein Tor verhindern, ich war auf dem Weg, das ist eine Entscheidung, die ich treffe, ich in einer tausendstel Sekunde. Soll ich mich hinstellen und sagen, ach Gott, wärst doch dringeblieben? So hatte ich immer noch die Chance, dass es Angst bekommt.

Die Angst der Schützen vor Oliver Kahn – blonde Mähne, hünenhafte, kraftraumgestählte Gestalt?
Bin ich an den Schultern nur zwei Millimeter breit, wirke ich nicht. Aber wenn einer im Tor steht, gewaltig, bleiben die Stürmer schon mal auf Distanz. Da rennt man auch eher raus, und das ganze Stadion ist gegen einen. Wenn alle für misch sind, mir alle zujubeln, fühle ich mich gar nicht wohl. Aus der Ablehnung zieht man eigentlich die letzte Motivation. Bei Effenberg ist es genau das Gleiche, Effenberg provoziert mit Absicht. Der braucht das Publikum gegen sich. Der allseits Beliebte will ich gar nicht sein

Sepp Maier, Ihr Torwarttrainer in der Nationalelf und beim FC Bayern, macht sich häufig lustig über den Körperkult seiner Nachfolger.
Darüber kannst du mit dem Sepp nicht diskutieren. Der Sepp erzählt gern ein bisschen von früher, als er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, im Strafraum eine hereinsegelnde Flanke abzufangen. Heute ist ein ergänzendes, ein gut dosiertes Krafttraining unverzichtbar. Nur, wenn ich dabei reinhaue wie ein Verrückter, werde ich unbeweglich. Aber wenn die Muskeln austrainiert sind, werden sie schneller, geschmeidiger. Der Körper ist mein Panzer. ER nimmt die Angst, gibt Selbstvertrauen.

Und die Basis dafür, einmal in einem Atemzug mit Torhütern wie Turek, Tilkowski, Maier, Schumacher genannt zu werden?
Für mich wäre es relativ wichtig, wenn es am Ende einmal heißen würde, der hat in seinem Beruf wirklich Großes geleistet. Diese Auszeichnung wäre mir weit mehr wert, als wenn sie mir in Karlsruhe ein Denkmal gesetzt hätten.
Beim FC Bayern aber hat schon manches Talent Sturm und Drang verloren.
Um mich braucht sich keiner Sorgen zu machen. Was mir aber auffällt, ist, dass viele herkamen und es dann nach einem Jahr hieß: So, dem haben sie jetzt schön die Flügel gestutzt. Das finde ich zum Kotzen. Wenn du hier deine Persönlichkeit verlierst, ist das Unfug. Hier sind alle irgendwie zu angepasst. Stimmungsmäßig ist es viel zu ruhig. Das Schlimmste ist eine Mannschaft, in der keine Reizfiguren drin sind, wie es in Karlsruhe der Stürmer Edgar Schmitt war. Der trug schon ins Training die richtigen Aggressionen rein. Das hat sich über die Woche aufgebaut und im Spiel entladen. Der Trainer, der es versteht, mit unbequemen Vögeln umzugehen, sie bei Laune zu halten, ist erfolgreich. In der nächsten Saison kommt Otto Rehagel zum FC Bayern, kommen die Nationalspieler Herzog, Sforza und Struntz – das wird ein hochinteressantes Experiment.

Bei dem auch Sie berühmt werden können.
Wenn der Boris Becker jedes Turnier gewinnt, ist das toll, gewinnt er Wimbledon, wird er unsterblich. Die zehn, 15 großen Spiele kriegst du auf Dauer nur in München. Alle, die groß waren, sind in den entscheidenden Spielen klasse gewesen. Ein Sepp Maier hat ja früher auch seine Misttage gehabt. Nur war er an denen, an denen es an die wirklich großen Fleischtöpfe ging, hundertprozentig wach. In den Endspielen war er überragend.

Und wenn Sie in einem Finale einmal danebengreifen?
Ich weiß, es ist ein ganz gefährliches Ding mit diesen Big points. Nach außen würde mir das nichts ausmachen. Aber innen drin würde es rumoren: Hätte ich doch, warum habe ich nicht... Dieser eine Ball würde mich immer verfolgen. Toni Schumacher, WM 1986, Endspiel Argentinien, Flanke von rechts, plopp, Tor – sein ganzes Leben lang wird er damit konfrontiert. Uli Hoeneß, Europameisterschaft 1976, Elfmeter in die Wolken geschossen – heute wird er noch darauf angesprochen. Und Roberto Baggio! Letztes Jahr der Elfmeter im WM-Endspiel für Italien. Auch in den Wolken. Nie mehr erholt der sich davon.

Bedauern Sie es da nicht oft, Torwart geworden zu sein, eingezwängt in den Strafraum, abhängig vom Geschick Ihrer Mitspieler?

Ab und zu schon. Beim Tennis zum Beispiel bist du voll für dich verantwortlich. Da hast nur du, da hat sonst niemand verloren. Beim Fußball geht das immer so: Hätte er das gemacht, hätte ich das gemacht. Aber macht keiner Fehler, kann ich mich auch nicht auszeichnen. Total schizophren, die Situation für einen Torwart. Als Feldspieler kann ich alles wettmachen. Kämpfen, grätschen, machen, tun. Der Torwart kann gar nichts machen. Halte ich den ersten Ball, läuft es wie von selbst. Kommt aber nichts, und kommt nichts, und kommt nichts, du bist heiß ohne Ende, und der erste, der kommt, ist drin – das ist die besondere Situation beim Torwart. Sich dann wieder aufzubauen. Dieser ständige Kampf im Kopf. Das ist das Faszinierende.

Und Frustrierende. Sind Sie darüber weg, dass bei Ihrem Einstand in München der erste Ball oft drin war?
Es war doch so, dass alle gesagt haben, der Kahn geht jetzt zum FC Bayern, dann wird er dies, dann wird er das, und achtmal deutscher Meister sowieso. So läuft es im Märchen. Für mich gibt es nicht nur ein halbes Jahr zu bewerten, nach vier, sieben, vielleicht zehn Jahren kommt ein Strich darunter, wird Bilanz gezogen. Ich will mit dem FC Bayern dahin zurück, wie es sich die ganz großen Macher im Verein vorstellen. Dass der FC Bayern eine Macht in ganz Deutschland, in ganz Europa wird.

Ist Ihnen dabei der Gedanke völlig fremd, diese Rückkehr zur Macht einmal von der Ersatzbank verfolgen zu müssen?
Ja. Aber selbst wenn es anders käme, neue Herausforderung, wieder wird Gas gegeben. Wo ich bin, spiele ich, fertig. Wenn nicht, gibt es Zoff, Ärger, Power und Kampf ohne Ende.

Mit dieser Radikalpsychologie sollen Sie sich in Karlsruhe den ersten Bundesligaposten erkämpft haben. Alexander Famulla, die ehemalige Nummer eins des KSC gab entnervt auf.
Er war ja eigentlich ein sehr guter Torwart. Er hat nur mal eine Phase gehabt, in der er ein bisschen schwächer war. Da hat er es dann von den Zeitungen gekriegt, und ich habe Gas gegeben. Ich habe gemerkt, dass er das nicht verkraftet, dass er anfällig ist. Und dann war er weg vom Fenster. So ist das nun einmal im Leben.

Kahn, der Gnadenlose?
Jeder andere würde es doch mit mir genauso machen. Jeder. Das ist die ganze Gnadenlosigkeit des Sports: Es ist Geschäft, es ist Konkurrenzkampf, es geht um Millionen. Und da gibt es keine Sentimentalitäten. Wer etwas anderes erzählt, der lügt.

Wie müssen wir uns das Verdrängungsszenario in der Nationalelf vorstellen? Sie haben noch kein Länderspiel bestritten, und Andreas Köpke hat während Ihrer Abwesenheit gut gehalten.
Und? Und? Ich habe meine Ziele. Die erreiche ich. Nur, mit einem Spitzenmann wie Köpke macht man diese Psycho-Dinger nicht so einfach. Der ist viel zu robust. Und ich bin Realist: Es ist ganz einfach so, dass für mich bis zur Europameisterschaft 1996 in England eh nichts mehr geht. Da hat Berti Vogts mit Köpke seinen Torwart. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihn noch einmal ausbootet. Menschlich gesehen wäre es ja brutal. Vor der WM 94 Köpke/Illgner, jetzt Köpke/Kahn, und plötzlich werde ich spielen – Quatsch. Selbst wenn ich in der nächsten Saison, was sowieso der Fall sein wird, überragend halte, werde ich kaum eine Chance haben. Ob ich es akzeptiere, ist eine andere Sache. Mein festes Ziel: Bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich stehe ich im Tor.

Welche Vorbilder begleiten diesen Weg?
Ganz privat war das für mich der Helmut Schmidt. Den habe ich bewundert wegen seiner Ausstrahlung, was der gesagt hat, hatte Hand und Fuß, war unheimlich präzise. Kein Blender wie so viele. Der Schmidt hatte Charisma und zudem noch etwas gewusst.

Und im Fußball?
Als ganz junger Mensch Sepp Maier. 1974, in dem Jahr, in dem Deutschland Weltmeister wurde, habe ich zu meinem Geburtstag eine tolle Torwartausstattung bekommen. Ganz in gelb, und oben drauf stand groß Sepp Maier drauf. Nun gut, habe ich mir gesagt, wenn du schon so etwas Schönes geschenkt bekommst, musst du dich auch ins Tor stellen. Seither bin ich nie mehr raus. Später habe ich mich an Toni Schumacher orientiert. Sein Ehrgeiz, einfach unfassbar.

Lief es schlecht, hatte Schumacher einem seine Plackerei forcierenden Merksatz: „Ich will, ich kann, ich muss!“
So etwas Ähnliches hatte ich in Karlsruhe auch. Fünf Leitsätze. Jeden Tag, wenn ich raus bin aus meinem Zimmer, habe ich die gelesen. Mal gucken, ob ich die noch zusammenbringe: Gewinnen heißt: niemals aufgeben! Gewinnen heißt: wollen! Gewinnen heißt: positiv sein. Zwei waren es noch. Jeden Tag habe ich die gelesen. Geträumt, gelesen und bin raus. Klingt ein bisschen lächerlich, aber wenn es einem schlecht geht, fühlt man sich danach irgendwie besser. Wollen, niemals aufgeben, positiv sein! Dass ich die zwei anderen vergessen habe, stimmt mich nachdenklich. Seit ich in München bin, habe ich sie nicht mehr hervorgekramt. Ich bin nicht sicher, ob das nicht ein entscheidender Fehler war.