Das Geschäft mit der Berührung

Wir müssen ehrlich sein: Der moderne Mensch hat ein ziemlich gestörtes Verhältnis zur Nähe. Deshalb sind so einfache Dinge wie Anfassen, Berühren und Streicheln mittlerweile zu einem Geschäft geworden, mit dem eine ganze Industrie Millionen umsetzt. (Und wir reden hier nicht über Sex.)

Roséfarbene Wände, Entspannungsmusik. Hinter mir weiße Cremes in Tuben und Döschen, über mir das Gesicht von Annika. Sie lächelt. »Jetzt können Sie abschalten«, sagt sie, »kein Stress, eine Stunde lang.« Ich lehne mich zurück, ich schließe die Augen. Es riecht nach Reinheit und ein bisschen nach Hamamelis.

Annika beginnt, mit ihren Fingerspitzen eine Lotion auf meinem Gesicht zu verreiben, ganz vorsichtig gleitet sie über Wangen und Stirn, unter den Augen verringert sie den Druck, dort ist die Haut empfindlich. Insgesamt verteilt sie sechs verschiedene Cremes und Gels auf meinem Gesicht, manche kühlen, andere brennen. Sie beseitigt meine Hautunreinheiten, drückt Mitesser aus, berührt mich an den Lippen, an den Ohren, am Hals, pinselt mir ein Peeling auf die Haut, am Ende massiert sie meine Unterarme, meine Handflächen, dann jeden Finger einzeln. Ab und zu knackt ein Gelenk. Es kribbelt im Nacken. Nach der ersten Facial meines Lebens sind nicht nur meine Augenringe verschwunden, ich bin auch irritiert und habe ein schlechtes Gewissen. Bin ich dekadent oder bedürftig? Ist so ein Facial Luxus oder eine Notwendigkeit, um mithalten, mitreden zu können? Habe ich Annika erniedrigt oder sie mich? Wer bin ich, dass ich mir von dieser Frau, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe, meine Ausstrahlung aufpolieren lasse? Und wer ist eigentlich Annika – wenn sie überhaupt so heißt – dass sie mir für 65 Euro so nahe kommen darf, dass sie jedes Fältchen einzeln zählen könnte? Sie muss bemerkt haben, dass meine Wimpern lächerlich kurz und meine Ohrläppchen angewachsen sind. Ob sie spürt, dass ich eigentlich allergisch auf zu viel Nähe reagiere? Auf der anderen Seite fühle ich mich gut wie lange nicht; irgendwie bei mir, heiter, fast glücklich. Annika bekommt zehn Euro Trinkgeld.

Dabei hat sie nur das getan, was sie gelernt hat, womit sie ihr Geld verdient: Annika ist Kosmetikerin und arbeitet bei »Horst Kirchberger«, dem renommiertesten Make-up-Studio Münchens, auf einen Termin bei ihr muss man drei Monate warten. Ihre Kundinnen sind die feinen Damen der Stadt, Vorstandsgattinnen, Schauspielerinnen, solvente Witwen, ab und zu kommen auch Männer, Unternehmensberater, Manager. Menschen mit viel Geld, von denen die einen zu wenig, die anderen zu viel Zeit haben. Sie sorgt dafür, dass diese Menschen nicht durchdrehen, vor Stress oder Einsamkeit. Sie hört sich ihre Geschichten an, reicht ihnen ein Taschentuch, wenn sie weinen, lächelt sie an, schenkt ihnen ihr Gefühl, ihre Aufmerksamkeit, ihre Haut. »Ich bin Kosmetikerin«, sagt sie, »aber auch Psychiaterin, Schwester, Tochter, Mülleimer. Eigentlich kommen nur vierzig Prozent wegen der Kosmetik. Von den anderen sind viele einsam, viele sind …«, sie hält inne, überlegt, »irgendwie beschädigt.«

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Aber wie beschädigt sind wir? Und wer berührt uns öfter, wer inniger, wer kommt uns wirklich nahe? Unsere Freunde und Partner, unsere Eltern und Kinder? Oder Menschen wie Annika; Kosmetikerinnen, Masseure, Physiotherapeuten, Yoga- und Gyrotonic-Trainerinnen, Friseurinnen, Nageldesigner und Spa-Therapeuten? Menschen, die uns ins Gesicht, in die Seele und zwischen die Beine schauen, wenn sie uns die Haare im Genitalbereich wegwachsen?

45 Zentimeter, haben Wissenschaftler herausgefunden, so nahe dürfen uns fremde Menschen kommen, damit wir uns gerade noch nicht belästigt fühlen. Menschen wie Annika bezahlen wir dafür, dass sie diese Schranke regelmäßig durchbrechen. Ihnen vertrauen wir, ihnen erzählen wir unser Leben, ja manchmal vermissen wir sie so sehr, dass wir nervös dem nächsten Termin entgegenfiebern. Und dann lassen sie uns ein Fußbad ein, wir spüren die Wärme und brechen in Tränen aus. Warum?

»Wir sind ängstlicher geworden«, sagt der Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer. »Beziehungen sind zunehmend geprägt von Rückzug, Vermeidung, Blockaden. Viele Menschen sind so verunsichert und kränkbar, dass sie die Intimität lieber in einen professionellen Bereich auslagern, wo sie sie kontrollieren können.« Der amerikanische Soziologe Richard Sennet schrieb bereits Mitte der Siebziger: »Je näher die Menschen einander kommen, desto ungeselliger, schmerzhafter, destruktiver werden ihre Beziehungen zueinander.« Und Schmidbauer ergänzt: »Die sexuelle Befreiung der Siebziger hat eben nicht nur die Triebe der Menschen freigesetzt, sondern auch ihre Ängste.«

Im Jahr 2008 scheinen Familien und Partnerschaften endgültig überfordert. Das Privatleben wird bewältigt, Erholung sucht man im Wellnessurlaub oder im Day-Spa, wo man sich eine Tasse Ingwer-Tee geben, die Kopfhaut massieren, die Hände streicheln, die Nägel machen lässt. Die ideale Oase für Großstadt-Singles mit Nähe-Distanz-Problematik: Im Spa müssen sie keine Verantwortung übernehmen, nichts geben, nur genießen.

In den letzten Jahren ist ein riesiger Markt entstanden, eine Berührungsindustrie, die die Menschen auffängt, in ihrem Stress, in ihrer Vereinsamung, in einer Arbeits- und Alltagswelt, die entkörperlicht, entsinnlicht ist, dafür immer visueller und virtueller wird. Längst ist auch das Wellness-Angebot so ausdifferenziert, dass aus der Wahl, welches das richtige ist, neuer Stress entsteht. 16000 registrierte Kosmetik-Studios gab es im Jahr 2005 in Deutschland, heute sind es 43000. Im Jahr 2006 haben die Deutschen knapp 80 Milliarden Euro für Wellness ausgegeben, das sind tausend Euro pro Kopf. In der Multioptionsgesellschaft ist der eigene Körper zum letzten Rückzugsgebiet geworden.

Angesichts von tausend Möglichkeiten, den Abend zu verbringen, Urlaub zu machen, Freizeit zu haben, sind wir so überfordert, dass die letzte Sicherheit, die letzte Nische für ein kleines Glück die eigene organische Hülle ist. Die gilt es zu bewahren, jung zu halten, ständig zu optimieren. Der eigene Körper ist zu unserem Stofftier geworden, an das wir uns jeden Tag, den wir älter werden, noch verzweifelter klammern.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Alle paar Tage stöpseln wir uns selbst an eine dieser Ladestationen an.)

1961 gab es vier Millionen Singlehaushalte in Deutschland, heute sind es 16 Millionen. Wer früher ein Date hatte, nahm seinen Schwarm mit zum Tanzen, heute »tasten« sich Singles wochenlang in Chaträumen ab. Früher lagen Geschwister gemeinsam im Bett. Die Mutter hat das Haar ihrer Tochter gewaschen und gebürstet, Frauen lackierten sich die Nägel selbst oder gegenseitig. Heute wird alles ausgelagert an die Arbeitnehmer der Berührungsindustrie, die alle halb Herr, halb Sklave, vor allem aber der geheime Akku einer berührungslosen, aseptischen Gesellschaft sind.

Es ist wie beim Handy. Alle paar Tage stöpseln wir uns selbst an eine dieser Ladestationen an, tanken auf und funktionieren wieder, zumindest ein paar Tage. Die Mitglieder der Berührungsindustrie geben uns im 21. Jahrhundert, was uns das Leben und die Städte vorenthalten: Zeit, Nähe, Haut zum Anfassen.

Eine Studie an Jugendlichen in Miami hat ergeben: Zwölfjährige Amerikaner spüren bei Hautkontakt eher Aggression als Zuneigung. Die meisten fummeln lieber an sich selbst herum, drehen an ihren Ringen, zwirbeln Haare oder kauen an den Lippen.
Im Jahr 2008 ist alles erlaubt. Wir sind so frei, dass wir unter unserer Freiheit leiden. Wir sind flexibel, wir sind mobil und jederzeit erreichbar, aber wenn jemand unangemeldet vor unserer Wohnungstür steht oder sich im Bus neben uns setzt, fühlen wir uns angegriffen, ja manchmal schon, wenn uns jemand zu lange in die Augen sieht.

Menschen wie Annika lassen uns spüren, dass wir Menschen sind, die wahrgenommen und berührt werden wollen, wie kleine Kinder. »Stellen Sie sich mal einen DAX-Vorstand vor«, sagt ihr Chef Horst Kirchberger, »wann wird so ein Mann schon mal gestreichelt?« Längst kommen wildfremde Menschen zusammen, um sich anonym zu streicheln. Ihre Treffen nennen sie Kuschelkurse, wer Sex haben will, ist fehl am Platz, wem Kuscheln zu langweilig ist, geht nebenan in den Raufkurs. Der Effekt ist der gleiche: Man spürt sich, fühlt sich berührt, am Ende steht die Gewissheit oder wenigstens die Hoffnung – man ist nicht verlassen.

Das Touch Research Institute (TRI) in Miami erforscht seit Jahren, wie wichtig Berührungen für den Menschen sind: Frühgeborene entwickeln sich schneller, wenn sie massiert werden, Alzheimer-Patienten verbessern ihr Gedächtnis, HIV-Patienten ihr Immunsystem. Über die Berührung eines anderen Menschen erkennt der Mensch sich selbst.

The Managed Heart heißt ein Klassiker der Soziologie, auf Deutsch Das gekaufte Herz von Arlie Russell Hochschild. Es handelt von der Kommerzialisierung der Gefühle am Beispiel von Flugbegleiterinnen. Stewardessen müssen fortwährend »Gefühlsarbeit« leisten, also entweder Gefühle unterdrücken, die sie haben, oder Gefühle zeigen, die sie nicht haben. Der Fluggast ist König und muss sich fühlen, als fliege er im eigenen Wohnzimmer um die Welt. Hochschild war die Erste, die bewies, unter welch emotionalem Stress Menschen in Dienstleistungsberufen stehen, wie groß die Gefahr von Selbstentfremdung, Depression und Burn-out ist. Das Buch ist 25 Jahre alt.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Abgrenzung der gekauften Berührung von der gekauften Liebe scheint wichtig.)

Die Berührungsindustrie des 21. Jahrhunderts verlangt von ihren Mitarbeitern weit mehr. Lächeln und freundlich sein genügen nicht mehr. Heute wird angefasst, berührt, gestreichelt. Und weil die Kunden oft gestresst sind, kann es vorkommen, dass die am Ende erholt, die Masseurin aber voll mit negativer Energie und fix und fertig ist. In New York, der Hauptstadt der Berührungsindustrie, reden vor allem die feinen Damen aus der Upper East Side so schnell und viel, dass die Kosmetikerinnen ihnen oft überflüssige Masken über Lippen und Augen stülpen, nur um sie zum Schweigen zu bringen.

Die Mitarbeiter der Berührungsindustrie machen nicht einfach nur einen Job, sie müssen Tag für Tag eine Performance abliefern, eine Atmosphäre von Verbindlichkeit verströmen und gleichzeitig eine möglichst leere Projektionsfläche für die Sehnsüchte ihrer Kunden darstellen. Am besten, sie strahlen gleichzeitig Wärme und Neutralität, Nähe und Distanz aus. Doch egal, wie geschult sie mit Intimität umgehen, oft entsteht in der Massagekabine eine Vertrautheit, die professionell gemeint ist, aber von den Kunden falsch verstanden wird.

Anfang dieses Jahres stand ein 48-jähriger Mann vor Gericht, der gegenüber seiner Physiotherapeutin einen so heftigen Liebeswahn entwickelt hatte, dass er sie vier Jahre lang verfolgte und am Ende frustriert niederstach. »Solche Stalking-Fälle haben enorm zugenommen«, sagt Wolfgang Schmidbauer. »Viele Menschen sind innerlich so verkümmert, die glauben: Wer mich so berührt, der muss mich einfach lieben.«

Auch bei Horst Kirchberger werden männliche Kunden nur noch vom Hals aufwärts behandelt. Die Bein- und Fußmassagen, die Ganzkörper-Algenbehandlung wurden zu oft falsch interpretiert. Es gab Kunden, die gestöhnt haben. Ein Wirtschaftsboss ließ während der Algenbehandlung absichtlich sein Glied aus der Unterhose hängen. Einzelfälle, »trotzdem war ich oft fix und fertig, ausgesaugt und ausgelaugt«, sagt Annika, »inzwischen habe ich gelernt, mich abzugrenzen«.

Ihr Chef hat ähnliche Fälle erlebt: Einmal habe er eine 60-jährige Kundin fünf Minuten in der Kabine warten lassen – auf dem Programm stand lediglich ein Make-up-Termin – als er zurückkam, lag die Dame in roten Strapsen auf dem Stuhl.

Fragt man Spa-Mitarbeiterinnen, welche Behandlungen sie anbieten, sagen sie oft: »Ich mache nur Nägel«, oder »ich massiere nur oberhalb des Nackens«. Dass sie auch Intim-Waxing im Programm haben, geben viele erst zu, wenn man sie direkt danach fragt. Die Abgrenzung der gekauften Berührung von der gekauften Liebe scheint wichtig. Dabei hat sich auch der Zugang von Prostituierten zu ihrem Beruf geändert, sagt Fritz Böhle, Soziologe und Spezialist für »Sinnliche Wahrnehmung im Arbeitsbereich«. Früher haben Prostituierte gesagt: »Ich habe keine Gefühle, wenn ich mit Freiern schlafe.« Heute sagen viele: »Es macht mir Spaß, es muss mir sogar Spaß machen, sonst könnte ich das nicht machen.« Veronika,

29, arbeitet als Prostituierte in München. »Die Männer im Anzug bleiben meist länger, die wollen oft nur reden und massiert werden«, sagt sie. »Richtig vögeln wollen die anderen, die wochenlang auf einen Termin bei mir hinsparen. Die ziehen sich aus, kommen und zwei Minuten später sind sie wieder draußen.« Veronika weiß, dass sie ihren Job nicht ewig ausüben kann. Deshalb macht sie nebenher eine Ausbildung, eine Art Fernstudium. Wenn sie damit fertig ist, darf sie sich Wellness-Therapeutin nennen.