Kabul
Sie können uns Rebellen nennen und sagen, wir verdienten keine bessere Behandlung. Aber denken Sie daran, dass wir auch als Rebellen Gefühle haben und dass wir an denen Vergeltung üben werden, die wir als ungerechte Invasoren unserer Rechte und Freiheiten betrachten. (George Washington in einem Brief an den britischen General Lord Howe während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges)
»Terrorismus« ist das am meisten missbrauchte Wort der neueren Geschichte – vor allem, seit George W. Bush nach dem 11. September 2001 begann, all seinen Gegnern im Mittleren Osten das Terroris-musetikett aufzukleben. Wer aber ist unser wirklicher Feind? Der nationale Terrorismus muslimischer Volksaufstände gegen die westliche Besatzung in Afghanistan und im Irak? Der internationale Wanderterrorismus, der seit der Vertreibung der Sowjets aus Afghanistan auf der Suche nach weiteren »heiligen Kriegen« durch die muslimische Welt vagabundiert? Oder der islamisch maskierte Diaspora-Terrorismus, der den Westen in seinen eigenen Städten angreift? Nach der sowjetischen und der amerikanischen Invasion habe ich Afghanistan und Pakistan immer wieder bereist. Im vergangenen August war ich in Kabul und in den Stammesgebieten der Paschtunen, des stolzen, kriegerischen Volkes diesseits und jenseits der afghanisch-pakistanischen Grenze. Hier versteckt sich angeblich noch immer Bin Laden. Meine Gesprächspartner waren der afghanische Präsident, Ex-Talibanchefs, Geheimdienstler sowie einfache Bürger. Was ich erlebt habe, hat wenig mit dem zu tun, was unsere Politiker nach Truppenbesuchen aus Afghanistan berichten. Es lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen:
1. Der Westen hat sich aus der Rolle des Befreiers in die Rolle des Besatzers gebombt.
2. Afghanistan spielt im globalen, antiwestlichen Terrorismus keine Rolle mehr.
Die Taliban und all die Widerstandstruppen, die der Westen »Taliban« nennt, sind Teil eines Volksaufstands gegen die Brutalität der Besatzer. Drei Beispiele: Im Juli 2008 starben bei US-Luftangriffen auf eine Hochzeitsfeier 47 Zivilisten, im August bei der Bombardierung einer Trauerfeier mehr als 90 und im November bei Angriffen auf eine Hochzeit 43 Menschen. Jeder Afghane hat unzählige solcher Tragödien im Fernsehen gesehen. Was wäre, wenn derartige Massaker bei uns stattfänden? Ist es wirklich erstaunlich, dass die einst verjagten Taliban in Afghanistan wieder Zulauf bekommen?
Die bis zu 30000 Neo-Taliban haben zwei Ziele: den Sturz der prowestlichen Regierung in Kabul und die Vertreibung der Besatzer. Anschläge auf westliche Städte interessieren sie nicht. Das Gleiche gilt für die einigen hundert mit ihnen verbündeten islamistischen Wanderguerillas, jene internationalen Brigaden, die sich Al-Qaida nennen, obwohl sie keinen einzigen wirklichen Al-Qaida-Führer kennen. Auch für sie liegen unsere Städte weit außerhalb ihres Horizonts.
Die echte Führung von Al-Qaida jedoch – jene von Bin Laden geführte internationale Terrorgruppe der ersten Stunde, die erst gegen die Sowjets kämpfte und dann zum Angriff auf westliche Städte aufrief – ist seit Jahren auf der Flucht, gefangen oder tot. Sie ist operativ weitgehend ausgeschaltet – selbst Michael Hayden, Chef des US-Geheimdienstes CIA unter Präsident George W. Bush, hat das inzwischen eingeräumt. Zwar verbreitet sie weiter antiwestliche Hasstiraden, aber sie hat keinen Kontakt mehr zu den Akteuren des neuen Terrorismus im Westen. Ihr Hauptziel hat sie erreicht: Ihre Ideologie ist weltweit verbreitet, der Terrorismus ist globalisiert, er braucht keine Zentrale mehr.
Die zahllosen Anschläge nach dem 11. September 2001 konnten die alten Wölfe von Al-Qaida nicht mehr selbst steuern. Ihre Kommunikationsstränge und Finanzströme sind unterbrochen. Auch ihre großen Terrortrainingscamps, deren Besuch die deutsche Regierung gerade gesetzlich verhindern will, sind seit der US-Invasion zerstört. George W. Bush und der englische Geheimdienst MI5 haben dies mehrfach verkündet. Afghanistan ist nicht mehr operatives Zentrum des globalen Terrors.
Mehr Truppen, mehr Terror
Was also bezweckt der Westen mit Truppenverstärkungen in Afghanistan? Selbst Präsident Hamid Karzai hat sich gegen sie ausgesprochen. Er argumentiert: Mehr Nato-Soldaten bedeuten mehr Krieg, mehr zivile Opfer, mehr Taliban. In seiner Glückwunsch-Adresse an Barack Obama forderte Karzai geradezu leidenschaftlich: »Der Kampf gegen den Terrorismus kann nicht in Afghanistan ausgetragen werden.«
Truppenverstärkungen liegen auch nicht im westlichen Interesse. Selbst wenn die USA ihr gesamtes Bombenarsenal auf den Hindukusch werfen und alle Taliban und Al-Qaida-Wanderguerillas töten würden, wäre der Terrorismus, der unsere Städte bedroht, nicht besiegt. Im Gegenteil: Er würde noch mehr Zulauf bekommen. Wer hat Verteidigungsminister Jung den unsinnigen Satz eingeflüstert: »Entweder wir bekämpfen den Terrorismus in Afghanistan, oder der Terrorismus kommt zu uns«? Und wer den noch schlimmeren Satz, die Bundeswehr kämpfe am Hindukusch »im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott«? Deutsche Gotteskrieger, das hat uns gerade noch gefehlt!
Die Kriege in Afghanistan und im Irak sind längst zum Terror-Zuchtprogramm verkommen. Mit jedem muslimischen Zivilisten, der durch westliche Waffen stirbt, wächst der weltweite Terrorismus. Innenminister Schäuble muss in Deutschland Terroristen bekämpfen, die Verteidigungsminister Jung in Afghanistan mit heranzüchtet. Warum steht kein Regierungsmitglied auf und sagt: »Es reicht, sieben Jahre Irrsinn sind genug«? Warum gibt niemand zu, dass man nur nicht weiß, wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommt?
München
Wege aus dem Geisterkrieg
Die Alternative zum afghanischen Geisterkrieg heißt nicht sofortiger Abzug. Sie heißt:
1. Stärkung der afghanischen Sicherheits-kräfte. Ein afghanischer Nationalarmist verdient 100 Dollar pro Monat, ein Talib bis zu 400, ein Bundeswehrsoldat fast 4000 Dollar allein als Zulage. Afghanische Sicherheitskräfte müssen deutlich mehr verdienen als die Taliban.
2. Schulen statt Bomben. Wir müssen den Wiederaufbau wieder in den Mittelpunkt unserer Afghanistanpolitik stellen. Nur zehn Prozent der Ausgaben für Afghanistan gehen in Entwicklungshilfe.
3. Verhandlungen mit den Taliban. Alle meine Gespräche mit Ex-Talibanchefs haben gezeigt, dass man mit diesen Leuten rational reden kann. Verhandlungen sind vielleicht die letzte Chance, ihren Sieg zu verhindern. Die Afghanen sagen: »Ihr habt Uhren, wir haben Zeit.« Afghanistan ist ein Friedhof der Invasoren. Nur mit den Wanderguerillas, die sich Al-Qaida nennen, darf es keine Verhandlungen geben. Wir müssen einen Keil in ihr Bündnis mit den Taliban treiben.
4. Verhandlungen Afghanistans mit Pakistan und Indien unter Führung des UN-Sicherheitsrats. Keines dieser Länder kann seine Probleme in den Stammesgebieten oder in Kaschmir allein lösen.
5. Dreijahresplan zum Truppenabzug. Mit dem Rückzug der Nato würden die Taliban ihre einzige »Existenzberechtigung« verlieren. Die meisten Afghanen wollen kein Comeback der Taliban. Sie unterstützten sie aus purer Verzweiflung über die Rambopolitik der Besatzer.
Es ist wie ein böser Schildbürgerstreich: Der Westen sucht die Terroristen, die seine Städte bedrohen, in den falschen Ländern. Die Terroristen, die New York, London, Madrid oder Berlin bedrohen, leben weder im Irak noch in Afghanistan. Sie leben im Westen, mitten unter uns.
Der Diaspora-Terrorismus
Nach der De-facto-Ausschaltung der alten Al-Qaida-Führung durch die US-Invasion in Afghanistan entstand weltweit und vor allem im Westen eine neue Form des Terrorismus: der Diaspora-Terrorismus. Er unterscheidet sich in vielem vom diabolisch-genialen Terrorismus der Mohammed Attas, die – vernetzt mit Bin Laden – von Deutschland aus nach intensivem Training in den USA das World Trade Center angriffen:
Die heutigen Diaspora-Terroristen des Westens haben mit der alten Al-Qaida-Führung nichts mehr zu tun. Auch der ehemalige CIA-Mitarbeiter und Regierungsberater Marc Sageman kommt in seinem Buch Leaderless Jihad anhand zahlloser Beispiele zu diesem Ergebnis. Die Diaspora-Terroristen kennen weder Bin Laden persönlich, noch haben sie Kontakt zu ihm oder seinem Stellvertreter Al-Sawahiri. Wie sollte ihnen auch gelingen, was den westlichen Geheimdienst-Eliten seit sieben Jahren misslingt? Sie nennen sich Al-Qaida, weil dies die berühmteste Terrormarke ist, und der Westen nennt sie so, um seine Kriege zu rechtfertigen. Sie haben meist niemanden, der sie führt, finanziert oder trainiert. Bin Laden ist ihr Vorbild, nicht ihr Anführer. Sie sind autonom, dezentral, manchmal locker vernetzt, aber sie haben keinen Kopf. Der Versuch, sie durch Militärschläge zu »enthaupten«, muss schon deshalb scheitern.
Einige Diaspora-Terroristen versuchen, sich in nostalgischer Verklärung zum Hindu-kusch durchzuschlagen, um doch noch Kontakt zu ihren großen Vorbildern zu finden. Vergeblich! Die meisten dieser verwirrten Wallfahrer werden bereits an der Grenze Pakistans abgefangen, abgeschoben oder unter Bruch pakistanischen Rechts heimlich den USA übergeben. Ein paar schaffen in den Stammesgebieten eine lausige Ausbildung als Bombenbauer durch drittklassige usbekische Wanderterroristen. Das reicht westlichen Politikern bereits, um geheimnisvoll von »Verbindungen zu Al- Qaida« zu sprechen.
Ihre simple Ausbildung hätten die Diaspora-Terroristen jedoch in jeder Krisenregion erhalten können – in Kaschmir, im Libanon, ja sogar in ihren westlichen Heimatländern. Die 2008 vor englischen Gerichten bekannt gewordenen abenteuerlichen Einzelheiten über Terror- Trainingscamps in Großbritannien und über den Extremisten Mohammed Hamid, der sich selbst »Osama bin London« nennt, belegen dies in aller Skurrilität.
Trotzdem behaupten westliche »Experten«, die meist noch nie in Pakistan waren, dort liege das neue Zentrum des globalen Terrorismus. Doch Pakistan hat im Kampf gegen die »Taliban« und deren ausländische Verbündete inzwischen 120000 Soldaten in den Stammesgebieten stationiert. Das ist fast das Doppelte des westlichen Truppenaufgebots in Afghanistan. Die pakistanische Armee geht gnadenlos gegen die Aufständischen vor. Selbst US-Verteidigungsminister Robert Gates fand hierfür lobende Worte. An westlichen Diaspora-Terroristen haben Pakistan und sein Geheimdienst ISI kein Interesse. Das Land wird kaum mit seinen eigenen Terrorproblemen fertig.
Am Hindukusch wird Deutschland verteidigt, heißt es.
Anders als ihre Vorgänger gehören die meisten Diaspora-Terroristen nicht zur gebildeten Mittel- oder Oberschicht, sondern zur Unterschicht. Sie sind oft Schulabbrecher, berufliche Versager, manchmal auch Kleinkriminelle, wie aktuelle Berichte des Geheimdienstes MI5 zeigen. Den Koran kennen die wenigsten, ihr Islam ist Maskerade. Im arabischen Fernsehen werden sie täglich mit den Brutalitäten im Irak, in Afghanistan und zuletzt in Gaza konfrontiert. Manche haben dort Freunde und Verwandte.
Sie sehen, wie aus zerbombten afghanischen Häusern Frauen gezogen werden, die noch im Tod schützend ihre Kin-der umklammern – und wie US-Sprecher anschließend lapidar erklären, sie hätten gerade wieder eine Bande von Terroristen ausgeschaltet. Irgendwann beschließen sie, sich an die Seite ihrer gequälten muslimischen Brüder zu stellen und sich gewaltsam zu wehren.
Auf einmal bekommt ihr sinnloses Leben eine höhere Bedeutung: Sie kämpfen als winzige Minderheit gegen die mächtigste Militärmacht der Welt – für die Verdammten dieser Erde. Sie sind keine Feiglinge. Anders als viele Politiker, die lieber andere für ihre Ideale sterben lassen, sind sie bereit, ihr Leben zu opfern. Ihre Anschläge, mit denen sie zu Mördern werden, sind ein Schrei nach Aufmerksamkeit – zumindest im Kreis ihrer Freunde und ihrer Familie. Sie träumen von Unsterblichkeit, im Jenseits und im Diesseits.
Mit dem Internet haben sie ein ideales Kommunikationsinstrument. Hier erfahren sie aus aller Welt, warum und wie sie Bomben bauen sollen. Das Internet ist Hassprediger und Trainingslager in einem. Das »World Wide Web« gibt ihnen das Gefühl, trotz Anonymität Mitglied einer großen Bewegung zu sein. Die Bomben, die sie bauen, sind technisch anspruchslos, aber auch billig. Die Londoner U-Bahn-Anschläge 2005 kosteten gerade einmal 2000 Dollar. Es sind zweitklassige Waffen für zweitklassige Terroristen – die Antwort auf eine zweitklassige Politik des Westens. Aber sie sind mörderisch genug, um entsetzliches Unheil anzurichten. Niemand sollte den Diaspora-Terrorismus unterschätzen, schon gar nicht im – durch eigene Schuld – hoch gefährdeten Deutschland.
Die Strategie gegen den Terror
Das Problem des Diaspora-Terrorismus ist nicht mit Truppenverstärkungen in Afghanistan zu lösen. Es kann nicht sein, dass dem Westen nach sieben erfolglosen Antiterrorjahren nichts Intelligenteres einfällt. Denn die Grundzüge einer effektiveren Strategie zur Terrorbekämpfung liegen auf der Hand. Sie lauten:
1. Polizei statt Militär
Alle wichtigen Erfolge gegen den antiwestlichen Terrorismus wurden durch Spezialkommandos der Polizei und der Geheimdienste erzielt. Dies ist auch künftig der richtige Weg. Die kontraproduktiven »Antiterrorkriege« aber müssen so schnell wie möglich beendet werden.
Das Argument westlicher Politiker, Afghanistan werde dann wieder zur Terroristen-Hochburg, zeugt von beachtlicher Unkenntnis der afghanischen Geschichte. Afghanistan ist keine »geborene« Räuberhöhle. Es wurde erst durch eine Kette von Fehlentscheidungen der Großmächte das Zufluchtsland der Al-Qaida. Die westliche Unterstützung für Bin Ladens Brigade im Freiheitskampf der Afghanen gegen die Sowjetunion beruhte auf einem Beschluss der Geheimdienste der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens. Das afghanische Volk ist nie gefragt worden. Auch die afghanischen Mudschaheddin lehnten »die Ausländer« überwiegend ab. Sie wollten sich selbst befreien und nicht von internationalen Brigaden befreit werden.
Nach dem Abzug der Sowjets konnten viele der Al-Qaida-Kämpfer nicht in ihre Heimat zurück. Ihre Regierungen wollten mit den kriegserprobten Extremisten nichts mehr zu tun haben. Bin Laden musste mit seiner heimatlosen Brigade in den islamistischen Sudan ausweichen. Auch dort wurde er 1996 auf Verlangen der USA ausgewiesen. Er flüchtete in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Afghanistan, kurz bevor dort die Taliban die Macht eroberten.
Die Afghanen standen Bin Laden jetzt noch ablehnender gegenüber. Nach dem 11. September 2001 forderte ihn die Schura Ulema, die Ratsversammlung der höchsten afghanischen Geistlichen, nach einer dramatischen Sitzung auf, freiwillig das Land zu verlassen – obwohl er damals noch jede Beteiligung an den Anschlägen bestritt.
Heute wissen alle Afghanen, dass sie einen Großteil ihres Elends Bin Laden verdanken. Sie werden nicht zulassen, dass er ihre Gastfreundschaft erneut missbraucht. Das gilt selbst für die Führer des Aufstands Mullah Omar, Sirajuddin Haqqani oder Gulbuddin Hekmatyar. Auch sie wissen, dass ihr Land nur ohne Bin Laden und ohne Al-Qaida eine Zukunft hat. Für Bin Laden wird es nie mehr ein Comeback in Afghanistan geben. Auch große Terrorcamps im Stil der Neunzigerjahre werden in Afghanistan oder Pakistan nicht mehr entstehen. Sie würden im Zeitalter von Google Earth von der US-Luftwaffe sofort entdeckt und zerstört – ohne Rücksicht auf nationale Grenzen.
2. Fairness gegenüber den Muslimen
Wer die zentrale Motivation der Diaspora-Terroristen beseitigen will, muss die mus-limische Welt so behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte – mit Fairness und Respekt. Der US-Präsident Barack Obama hat hier die richtigen Worte gefunden. Der Westen muss endlich aufhören, die Muslime wie »Halbaffen« (Jean-Paul Sartre) zu behandeln, denen man mit Bomben Zivilisation beibringen muss.
Ein aktuelles Beispiel: So großzügig, wie der Westen zu Recht Israel behandelt, sollte er auch die Palästinenser behandeln. Sie bezahlen den Preis für das unendliche Unrecht, das wir Deutschen den Juden angetan haben. Der jüdische Politologe Alfred Grosser hat recht, wenn er mahnt: »Wer Hitler abschütteln will, muss (auch) die Palästinenser verteidigen.
«Im Gazakonflikt gab es sehr wohl eine Alternative zum Krieg. Hätte man die Palästinenser nicht sechzig Jahre lang wie Menschen zweiter Klasse behandelt, wäre die Hamas nie gewählt worden. Die richtige Antwort auf terroristische Aktionen aus dem Gazastreifen heißt nicht Krieg, sondern gezielte Polizeiaktionen gegen die Terroristen und Fairness gegenüber dem palästinensischen Volk.
Dabei vergisst man die Terroristen vor unserer Haustür.
Der Gazakrieg war trotz des militärischen Sieges kein wirklicher Erfolg für Israel. Er hat die Zahl seiner Feinde erhöht und das israelische Terrorismusproblem vergrößert. Auch Palästinenser kommen nicht als Terroristen auf die Welt. Darf man das als Freund und Bewunde-rer Israels so offen aussprechen? Oder muss man, opportunistisch applaudierend, zuschauen, wie Israel seinen moralischen Kredit und seine Identität gefährdet?
Israel muss menschlicher sein als seine Feinde. Seine Zukunft liegt nicht in der Feindschaft, sondern in der Freundschaft seiner Nachbarn. Die gewinnt man nicht mit Kriegen. Das kluge Israel wird daher trotz aller Schwüre eines Tages mit der Hamas verhandeln – so wie es heute mit der einst terroristischen Fatah spricht. Die schroff einseitigen Erklärungen, mit denen Teile der Bundesregierung die Schuld am Krieg ausschließlich den Palästinensern gaben, helfen niemandem, auch nicht Israel. Sie schwächen nur die Position Deutschlands als ehrlicher Makler.
Statt präventiver Kriege sollte der Westen im ganzen Mittleren Osten präventive Verhandlungen im Stil der KSZE initiieren, die einst den Ost-West-Konflikt überwand. An dieser Konferenz für Sicherheit, Abrüstung, Zusammenarbeit und Menschenrechte müssten, unter Führung des UN-Sicherheitsrats, alle Akteure der Region teilnehmen – auch der Iran, Syrien, Israel und die gewählten Vertreter Palästinas.
Vor allem die USA müssen über ihren Schatten springen und auf ihre Erzfeinde zugehen – wie einst der ägyptische Präsident Sadat auf Israels Ministerpräsidenten Begin und US-Präsident Reagan auf Generalsekretär Gorbatschow. Die ausgestreckte Hand des neuen US-Präsidenten Obama würde nicht ausgeschlagen werden. Muslime sind nicht extremistischer als wir. Kein muslimisches Land hat in den letzten 200 Jahren den Westen überfallen, aber unzählige Male sind wir in ihre Welt einmarschiert. Statt zu versuchen, die muslimische Welt niederzuringen, sollte der Westen versuchen, sie aufzubauen, wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland aufgebaut haben. Was könnte man nicht alles mit dem jährlichen US-Kriegsbudget von 186 Milliarden Dollar erreichen!
Im Irankonflikt bedeutet eine Politik präventiver Verhandlungen, dass die USA endlich auf den Iran zugehen. Sie müs-sen ihn aus der Haltung eines Desperados, der nichts zu verlieren hat, herausholen – mit einem »Grand Bargain«, bei dem die USA die Wirtschaftssanktionen aufheben und die Sicherheit des Iran garantieren, während der sich in der Nuklearfrage bewegen und konstruktiv an der Lösung des Irak- und des Palästinakonflikts mitarbeiten müsste.
Iranische Politiker erklären, die berüchtigten Äußerungen Präsident Ahmadine-dschads über die »Ausradierung« Israels beruhten auf einer falschen Übersetzung. Einige westliche Medien haben dies inzwischen eingeräumt. Die Macht im Iran liegt zudem nicht bei Ahmadinedschad, sondern bei Religionsführer Ali Chamenei, der diesen mehrfach wegen seiner polarisierenden Verbalattacken gerüffelt hat.
Der Iran hat seit Jahrhunderten kein Land angegriffen. Im persönlichen Gespräch bestätigen hochrangige Gesprächspartner in Teheran, dass der Iran auch Israel nie angreifen werde. Ein »Grand Bargain« wäre eine gute Gelegenheit, eine Nichtangriffserklärung gegenüber Israel und einen gegenseitigen Gewaltverzicht in völkerrechtlich verbindliche Form zu gießen.
Im Irakkonflikt bedeutet eine Politik präventiver Verhandlungen, dass die USA wie in Vietnam Verhandlungen mit dem legitimen Widerstand führen müssen. Die überwiegende Mehrheit der Iraker steht hinter dem Widerstand. Ich habe die Führung der »Patriotischen, Nationalen und Islamischen Befreiungsfront« mehrfach getroffen. In ihr kämpfen über 100000 Schiiten, Sunniten, ja sogar Christen. Sie ist jederzeit zu Verhandlungen über den von Obama vorgeschlagenen »verantwortungsbewussten« Truppenrückzug bereit.
Ohne eine Einigung mit ihr wird es keinen stabilen Frieden geben. Die im Westen völlig überschätzte »Vichy-Regierung« Al-Maliki hat die Unterstützung der Iraker längst verloren. Sie gilt als Kollaborateur der USA und des Iran. Mit den weniger als 1000 ausländischen Wander-terroristen, die sich auch hier Al-Qaida nennen, gibt es nichts zu verhandeln. Mit ihnen werden die Iraker allein fertig.
3. Integration statt Ausgrenzung
Innenminister Schäuble hat den klugen Satz gesagt: »Muslime sind Teil der deutschenGesellschaft, damit Teil unserer gemeinsamen Zukunft.« Gerade weil der Diaspora-Terrorismus auch in Deutschland gärt, müssen wir die überwältigende Mehrheit friedlicher Muslime integrieren – wir alle, nicht nur der Staat. Ein freundliches Wort, eine Einladung für den muslimischen Nachbarn erreichen oft mehr als staatliche Anordnungen.
Integration ist keine Einbahnstraße. Auch die Muslime müssen ihren Beitrag leisten. Wer im Westen leben will, muss die hart erkämpften Grundwerte des Westens respektieren. Aber Integration heißt nicht Assimilation. Unsere jüdischen Freunde leben vor, wie man als verantwortungsbewusster Bürger westlicher Staaten seine Religion, seine Sitten und Bräuche hochhalten kann.
Eigentlich sollte hier als vierte Forderung stehen, dass alle westlichen Politiker, die für Kriege stimmen, dreißig Tage an die Front müssten. Das hieße: deutsche Politiker in Spähtrupps nach Kunduz und US-Politiker auf Patrouillenfahrt nach Mosul und Kandahar. Damit sie einmal in die Augen der Menschen schauen, über deren Leben sie so »großzügig« entscheiden.
Ich weiß, diese Forderung klänge absurd – vor allem wenn man sich einige unserer Sofa-strategen an der Front vorstellt. Aber ist es nicht noch absurder, Bomben auf Menschen zu werfen, die uns nichts getan haben? Und junge Soldaten in Kriegen sterben zu lassen, über deren Torheit man noch in Jahrhunderten fassungslos staunen wird? Hat Peter Ustinov nicht recht, wenn er sagt: »Krieg ist der Terrorismus der Reichen«? Könnte es sein, dass die Staatsraison des Westens, Terroristen seien immer nur die anderen, eine zynische, selbstgerechte Lebenslüge ist?
Fotos: dpa, Reuters, Google Earth