Die Verdrehung der Arten

Vor 200 Jahren wurde Charles Darwin geboren - und seit 150 Jahren wird er falsch verstanden: Seine Theorie der natürlichen Auslese war nie dazu gedacht, das Verhalten des Menschen zu erklären. Trotzdem missbrauchen Wissenschaftler und Ideologen sie bis heute dazu.

Foto: Joachim Baldauf

Glücklich war er in seinem Garten. Auf dem Rücken lag er auf der Wiese, von Käfern und Bienen umsummt. Der Harvard-Professor John Fiske, der ihn Anfang der 1870er- Jahre in seinem Haus nahe London besuchte, beschreibt Charles Darwin als den »liebenswürdigsten, freundlichsten, reizendsten Großpapa, den es je gab. In allem, was er tut, strahlt er eine bezaubernde Art von ruhiger Kraft aus.«

Als Fiske abreiste, fühlte er sich über die Maßen beglückt. Der Hochverehrte dagegen zeigte sich erleichtert über das Ende des Besuchs. Er hatte wieder Zeit für seine Arbeit. Mit »ruhiger Kraft« vergiftete der Großpapa weiter seine fleischfressenden Pflanzen. Strychnin, Chinin und Nikotin erwiesen sich als tödlich, Morphium nicht, und Kobragift förderte sogar das Wachstum. 1875 erschien Insectivorous Plants. Darwin lebte noch sieben Jahre. Vier weitere Bücher sollten in dieser Zeit folgen, drei über Botanik und eines über Regenwürmer. Über seine Evolutionstheorie äußerte er sich kaum noch. Wenn er heute zu seinem 200. Geburtstag dafür gefeiert wird, hätte er sich vermutlich lieber zurückgezogen. »Niemals glücklich außer bei der Arbeit« hatte er sich selbst beschrieben.

Seine Anhänger dagegen fürchtete er wie seine Gegner. Was hatte man nicht alles aus ihm gemacht! War er tatsächlich der »Nihilist«, zu dem seine Feinde ihn stempelten? Sollte er sich umgekehrt wohl fühlen, wenn er als Kronzeuge für den »Kampf ums Dasein« auch unter den Menschen herangezogen wurde, als Apostel der gnadenlosen Auslese, des »survival of the fittest«? Beide Begriffe stammten noch nicht mal von ihm!

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Missverständnisse und eigenwillige Interpretationen von Darwins Evolutionstheorie gibt es mehr als genaue Lektüren. Thomas Henry Huxley, Ernst Haeckel und Herbert Spencer – ein Schiffsarzt, ein Quallenspezialist und ein Wirtschaftsjournalist haben mehr zum »Darwinismus« beigetragen als Darwin selbst. Ihre Vorstellungswelten dominierten das späte 19. Jahrhundert und reichen bis in die Gegenwart.

Dass der Mensch von Natur aus eine Bestie, also amoralisch, egoistisch und schlecht sei, ist eine Idee des alten Huxley nach dem Tod seiner Tochter. Dass die Biologie mit Darwins Evolutionstheorie im Gepäck alle »Welträtsel« löse, eine Anmaßung des deutschen Biologen Haeckel. Und dass in der Natur alles vollkommen gestaltet sei und sich zu stets Höherem entwickle, ist der schräge Optimismus Spencers. All diese Ideen machten in Darwins Fahrwasser Karriere. Tatsächlich aber sind sie ein Teil des Problems der Evolutionstheorie und nicht Teil der Lösung.

Darwin selbst wusste sehr genau, was er geleistet hatte und was nicht. Wer sich als Naturwissenschaftler zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit Pflanzen und Tieren herumschlug, der konnte kaum die Augen davor verschließen, dass die sogenannte Schöpfung eine Katastrophe war. Ein Kommen und Gehen auf dem Planeten Erde, ein Aussterben und Neu-Entstehen.

Nicht wenige Biologen (die Disziplin war erst um 1800 benannt worden) sahen sich zur Annahme gezwungen, dass die Arten veränderlich waren. Bereits der Philosoph Diderot, die Naturforscher Alexander von Humboldt und Jean-Baptiste de Lamarck hatten dies vermutet. Obwohl einzelne Autoritäten im Verbund mit Kirche und Staat diese Ansicht leise hielten, war den Kennern klar: Nicht ob, sondern wie die Arten sich veränderten war die Frage aller Fragen.

Dieser Gedanke ist keine Idee Darwins. Und selbstverständlich hat er die Urheberschaft dafür auch nie in Anspruch genommen. Auf seiner fünfjährigen Jugendreise mit dem Forschungsschiff Beagle hatte der ehemalige Theologie-Student erstmals selbst Verdacht geschöpft, dass die Transmutation der Arten ein Faktum sein müsse. Diderot, Lamarck und Humboldt waren Atheisten gewesen.

Doch nun traf der Gedanke, dass die Schöpfungsgeschichte der Bibel absurd war, einen Menschen mit durchaus religiösen Stimmungen. Wenn die Geschichte der Natur nicht mehr in christlicher Ordnung war, so musste Darwin sie in eine neue Ordnung bringen. Die Arbeit an dieser neuen Ordnung dauerte mehr als zwanzig Jahre. Erst ein Brief des Forschungs reisenden Alfred Russell Wallace aus Indonesien schreckte ihn auf, sein geplantes Werk rasch zu vollenden. Woran Darwin seit zwanzig Jahren bastelte, hatte Wallace auf wenigen Seiten zu Papier gebracht: dass alles Überleben und alle Neu-Bildung in der Natur eine Frage der Anpassung an die Umwelt ist.

Darwins Buch Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl ist ein seltsames Werk. Radikal im Inhalt – beschwichtigend im Duktus. In der Rolle des Revolutionärs gefiel sich Darwin nie, obwohl einer seiner ersten Leser, ein gewisser Karl Marx im Londoner Exil, sich darüber freute, dass der »Materialismus« nun endlich auf sicherem Fundament stand. Doch Marx erkannte auch, dass Darwin seine präzisen Beobachtungen der Natur aufs Engste mit dem viktorianischen Zeitgeist verknüpft hatte.

Das Wort vom »Kampf ums Dasein« stammte von dem Nationalökonomen Robert Malthus und die Formel vom »survival of the fittest«, die sich erst in der vierten Auflage des Buches findet(!), entnahm Darwin von Herbert Spencer. Es sei bezeichnend, amüsierte sich Marx, dass »Darwin unter Tieren und Pflanzen seine englische Gesellschaft wiederfindet« mit ihrer Arbeitsteilung und ihrem Glauben an den Fortschritt durch Konkurrenzkampf.

Den Sturm, den das Buch entfachte, überstand Darwin in geduckter Stellung. Thomas Henry Huxley in England und Ernst Haeckel in Deutschland eigneten sich besser für den rhetorischen Konkurrenzkampf, überzeugt vom Überleben der besseren Idee. Die Folgen ihrer Anwaltschaft für Darwins Ideen waren indes fatal. Das Konzept der natürlichen Auslese in der Evolution setzte sich durch, aber mit ihm eine Reihe völlig fremder Einflüsse und übertriebener Vorstellungen. So brutal wie Huxley und Haeckel den Konkurrenzkampf von der Natur auf den Menschen ausdehnten, hatte Darwin diesen nie gesehen.

Erst spät schaltete er sich in die Debatten um den Ursprung und die Natur des Menschen ein. Sein zweites Hauptwerk Die Abstammung des Menschen ist geradezu ein Abwehrversuch gegen den »Darwinismus«. Der alte Darwin ersetzte das Prinzip der »natürlichen Auslese« bei höheren Wirbeltieren und Menschen durch die »geschlechtliche Auslese«. Aus dem Krieg aller gegen alle wurde der Krieg der Geschlechter: Wer kriegt den besten Partner für seine Nachkommen?

Doch je mehr Darwin nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass auch dieses Prinzip für den Menschen nur eingeschränkt zutraf. Ein Rinderzüchter stellt immer die besten Tiere zusammen, aber der Mensch paarte sich nicht nach der Logik von Rinderzüchtern. Kultur und »Moralität« machten Darwin einen Strich durch die Rechnung. Stück für Stück entlastete er den Menschen von den strengen Gesetzen der Biologie: Kampf ums Dasein? Survival of the fittest? Nicht beim Menschen!

Darwin war gut und glücklich fertig geworden. Er hatte erklärt, woher die Pflanzen, die Tiere und die Engländer kommen. Und wie der Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith, sein großes Idol, hatte er Eigennutz und Moral beim Menschen fest miteinander verwoben: Aus dem Eigensinn des Einzelnen entsteht am Ende eine höhere Moralität, das Gemeinwohl für alle.

Das viktorianische England allerdings übersah diesen Schluss. Das positive Menschenbild passte nicht in das Selbstverständnis des Empire-Staates. Zwar kleidete Darwin seine Gedanken in die Sprache der viktorianischen Gesellschaft – doch nicht genug: Seine Anhänger riefen seinen Namen und meinten doch ihre eigene, meist weniger freundliche Philosophie. Darwins Halbcousin Francis Galton, der die Entstehung der Arten verehrte, wurde darüber sogar zum Rassisten und Vordenker der Nationalsozialistischen »Eugenik«. Keine zwei Jahrzehnte hatte es gedauert, und die Darwinisten machten aus Darwin ein ähnliches Gespenst wie die Marxisten aus Marx.

In Wahrheit ist das, was Darwin schrieb, weder eine Philosophie noch eine weltanschauliche Erklärung. Genau das, so scheint es, öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Wer heute im wissenschaftlichen Sinne von Darwins Evolutionstheorie redet, der meint meist den Neodarwinismus der Vierzigerjahre, vertreten durch Ernst Mayr, Julian Huxley und Theodosius Dobzhansky. Erst sie machten aus Darwins Spekulationen eine halbwegs runde Sache, indem sie den Umwelteinfluss und die Genetik zusammenbrachten. Der genetische Unterbau war Darwin Zeit seines Lebens verborgen geblieben. Zwar hatte ihm der Augustinermönch Gregor Mendel seine bahnbrechenden Vererbungsregeln geschickt – aber Darwin hatte sie nicht gelesen.

Das Phänomen ist heute aktueller denn je: Der reale Darwin und seine Gedankenwelt sind den meisten Menschen, die sich auf ihn berufen, oft dunkel. Was würde Darwin wohl über diejenigen denken, die sich heute mit schrägen Thesen auf ihn berufen? Würde er einen Mann wie Richard Dawkins mögen, der sich heute als Stellvertreter Darwins auf Erden sieht? Und würde er eine Wissenschaft wie die sogenannte evolutionäre Psychologie schätzen, die all unser Sozialverhalten auf steinzeitliche biologische Prägungen zurückführt?

Wahrscheinlicher würde er seufzen, so wie er über seinen Verehrer Ernst Haeckel geseufzt hat, »the furious Haeckel« mit seinem unerträglichen philosophischen Gequatsche. Gewiss hätte Darwin es nicht geschätzt, dass er heute ein zweites Mal von den Ökonomen unterwandert wird, die die Evolution und das Sozialverhalten des Menschen allein nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip ausgerichtet sehen: Moral sei verkappter Egoismus, Sex eine Investition in den Nachwuchs und Liebe ein Bindungskalkül. Robert Trivers, David Buss, Stephen Pinker und der genannte Richard Dawkins vertreten heute solche Ideen. Sie rufen »Darwin!«, aber in Wahrheit meinen sie nur sich.

Darwin selbst war der umgekehrten Ansicht. In der Fähigkeit zur Moral erkannte er die exklusiv menschliche Chance, die sozialen Spielregeln der Tierwelt hinter sich zu lassen. Mochte es auch sein, dass sich im Tierreich die Stärksten und Schönsten durchsetzten – beim Menschen war das anders. Wieso bekommen Männer Kinder mit kranken Frauen und Frauen mit kranken Männern? Warum prüfen wir uns nicht mit dem unbestechlichen Auge der Natur? Und was soll etwas so biologisch Widersinniges wie die Liebe zwischen Frau und Mann?

»Egoistische Gene«, von denen Dawkins spricht – für Pilze, Würmer und Pfauen hätte Darwin sie wohl durchgehen lassen, nicht aber für den Menschen. Bio-Ökonomen und Gen-Egoisten haben das Bild vom Evolutionsprozess heute verfärbt bis zur Unkenntlichkeit. Wer schützt Darwin vor dem tief religiösen Atheisten Dawkins? In seinem Buch über den »Gotteswahn« versucht er auf gleichsam alttestamentliche Weise die Welt zu überzeugen, dass er einen besseren Gott hat als das Christentum oder der Islam, nämlich einen Gott in den Genen: Sie sind allmächtig, allgewaltig und für alles verantwortlich. Ihr Wille geschehe, wie im Tierreich, so im Menschen.

Mit dem wirklichen Leben und Zusammenleben von Tieren und Menschen hat das alles nicht viel zu tun. Hätte Dawkins recht, so setzten sich überall im Tierreich und beim Menschen langfristig immer die besten Gene durch. Wie aber konnte es dann geschehen, dass offensichtlich immer wieder Lebewesen entstanden und überlebten, die ihre Möglichkeiten zur Reproduktion nicht voll ausschöpfen? Haben meine Gene eine Fehlzündung, wenn ich darauf verzichte, jedes attraktive Weibchen zu begatten, oder wenn ein Weibchen darauf verzichtet, die maximale Anzahl an Kindern zu gebären? Freiwilligen Verzicht auf Paarung und Reproduktion gibt es nicht nur bei Menschen, von Homosexualität bei Menschen und Tieren ganz zu schweigen.

Eine Karikatur der Darwin’schen Sicht ist bereits die von Dawkins gefeierte Idee der »Gesamtfitness« des einflussreichen Biologen William Hamilton. Danach streben unsere Gene nach größtmöglicher Ausbreitung. Da unsere Geschwister zu 50 Prozent mit uns identisch sind, sorgen wir uns auch um deren Nachwuchs. In Wahrheit ist die Idee der Gesamtfitness die Kopfgeburt eines Biologen, der an einer Wirtschaftsuniversität promovierte.

Denn Verwandtschaftsbeziehungen spielen nur bei vergleichsweise wenigen Arten eine Rolle. Würmer, Käfer, Karpfen und Laubfrösche kennen keine Verwandten. Sie betreiben keine Brutpflege. Im Angesicht ihrer nahen Angehörigen regt sich nichts. Adlerküken stoßen jüngere Geschwister aus dem Nest, Krokodilmännchen fressen ihre Jungen, weil sie sie nicht als ihren Nachwuchs erkennen. Verwandtschaftliche Beziehungen, wie bei Elefanten oder Menschenaffen, sind eher die Ausnahme.

Und auch bei Menschenaffen und Menschen gilt: Eine zwingende Liebe unter Verwandten gibt es nicht. Schon richtig, dass uns Geschwister meist nahestehen, aber die Zahl an Geschwistern, die im Erwachsenenalter wenig miteinander anfangen können, ist gar nicht so klein. Eine Gen-Störung? Und wie kommt es, dass Freunde uns oft näherstehen als blutsverwandte Angehörige?

Hundertfünfzig Jahre nach der Entstehung der Arten wissen wir noch immer erschreckend wenig. Das komplizierte Zusammenspiel zwischen Umwelteinflüssen und Erbgut ist noch immer nicht befriedigend erklärt. Noch jubeln die Wissenschaftsressorts der großen Zeitungen und Zeitschriften über jede vermeintlich biologische Erklärung unserer menschlichen Natur und motzen sie zu Realitäten auf. Dass Männer anders denken als Frauen, weil die einen in der Steinzeit Mammuts jagten und die anderen Eintopf kochten, ist inzwischen mehr als ein weitverbreitetes Gerücht.

Tatsächlich aber war unsere Gehirnentwicklung lange abgeschlossen, als der erste Homo sapiens seinen Speer auf ein Mammut schleuderte. Und was ist mit den Gehirnen all jener Kulturen, die vom Fischen lebten? Wer war dabei, als in der Steinzeit die Rollen festgelegt wurden?

Darwins Evolutionstheorie erbrachte den ersten schlüssigen Beweis für die Abstammung aller heutigen Lebewesen aus früheren Formen. Aber sie ist keine Bauanleitung für Theorien zur Erklärung der menschlichen Natur. Viele Details sind erschreckend unklar. Dass sich zum Beispiel in der Evolution tatsächlich immer die fittesten durchsetzen, kann man bezweifeln. Sind es nicht eher die glücklichsten? Man mag das stärkste Männchen auf dem Pavianfelsen sein, es nützt einem nichts, wenn ein Erdbeben einen tötet. Und wie der Zufall es will, überlebt ausgerechnet ein feiges Mickermännchen. Survival of the fittest? Nicht doch eher: Survival of the luckiest?

Das Schicksal von Sinnstiftern ist es, überschätzt zu werden, verklärt und verdreht. Könnte Darwin, wenn er noch einmal unter uns weilte, dem entgegentreten? Gewiss würde er keine flammenden Reden halten, das war seine Sache nicht. Wahrscheinlicher sähe man ihn im Garten liegen, sich leise in den Bart lächeln. Und vielleicht würde er nach wie vor über die Frage aller Fragen grübeln; jene Frage, die der Dichter Thomas Hardy nach seiner Darwin-Lektüre bei einem Spaziergang in der Natur stellte. Der Teich, das Feld und die Heide schienen ihn anzustarren wie bestrafte Kinder, stumm im Klassenzimmer, und sie hauchten: »Wir fragen uns, wir fragen uns immer wieder: Warum sind wir denn hier?‹«