K wie Konformismus

Deutschlands Medienbetrieb vergöttert die Masse und fürchtet den Widerspruch. Kein Wunder, dass er sich in der Krise befindet.

Als Tucholsky, Kisch und Kraus in Deutschland noch für die Wahrheit zuständig waren, lebten in Deutschland mehr als eine halbe Million Juden. TKK waren nur drei von ihnen, und darum war ihre Art zu denken, zu fragen und zu kritisieren nichts Besonderes. Einer war fanatischer Antimonarchist, einer lächelnder Kommunist, der Letzte ein humorloser Sprachfetischist – aber alle drei waren sie von der Freiheit des Gedankens besessen. Nie hätten sie ein Wort hingeschrieben, das sie nicht hinschreiben wollten, und aufzufallen um jeden Preis sahen sie als höchstes publizistisches Ziel an.

Warum? Weil Sie Juden waren? Weil Juden direkter, klüger, frecher sind als Nichtjuden? Bestimmt nicht. Schon eher, weil sie – 600 000 gegen 60 Millionen – einer Minderheit angehörten, die so lange im Schatten der Mehrheit gelebt hatte, bis sich ihre klügsten Frauen und Männer aufmachten, der Mehrheit ein paar wichtige Sachen zu sagen. Zum Beispiel: Es müssen nicht alle gleich sein! Oder: Gleiche Rechte für die Nicht-Gleichen! Und: Das Land der Gleichen wird schon dadurch ein klügeres, komischeres, freieres Land sein, wenn die Un-Gleichen dazugehören und immer wieder angenehm und unangenehm auffallen! Heute gibt es in Deutschland kaum noch Journalisten, die frech und direkt sind und eine große Show lieben – und es gibt kaum noch jemanden, den das stört. Wieso? Weil es in Deutschland fast keine Juden mehr gibt? Weil die Gleichen endlich so sehr unter sich sind, wie Adolf Hitler es wollte, und weil keine Krähe der anderen ein Auge aushackt? Ja – aber auch nur fast. Denn im Nach-Hitler-Deutschland leben in Wahrheit sehr viele Un-Gleiche, fünf, sechs Millionen Türken, Spanier, Koreaner und ihre Kinder und Enkel,
und die sind leider froh, im Schatten der großen deutschen Eiche ihr
ruhiges, unhungriges Unterprivilegiertenleben zu leben.

Man kann das natürlich erklären. Man kann sagen, eigentlich wollten sie sowieso nicht hier sein, sie kamen nur für ein paar Jahre, und darum haben sie kein Interesse daran, diese Gesellschaft zu verändern, darum wollen sie nicht Bundeskanzler werden, nicht Mercedes-Chef, nicht Rudolf Augstein. Man kann ihnen Islamismus, Analphabetismus, Spaghettismus, Opportunismus vorwerfen, und man kann den Deutschen vorhalten, sie hätten den Gastarbeitern von Anfang an keine Chance gegeben. Und man kann es sein lassen und von ihrem anatolischen Phlegma und Mañana-Versagen angeödet sein und sagen:Tucholsky, Kraus und Kisch hatten es noch schwerer als ihr und haben genau deshalb das Vor-Hitler-Deutschland hoch- und runtergeschrieben, wie sie Lust hatten!

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Und dann? Dann würde wahrscheinlich etwas passieren. Dann würden ein paar besonders kluge Einwandererkinder genervt und in ihrem Stolz extrem verletzt sein. Sie würden denken: Was, sind wir wirklich alle solche Nullen? Niemals. Wir wollen keine Heuchler und Langweiler mehr sein, von den Deutschen dafür geliebt, dass wir immer nur Ja sagen oder noch besser gar nichts. Wir wollen dieses Land ansehen und ehrlich sein und darüber schreiben, wie grob, kalt, hinterhältig und gleichmacherisch die Deutschen mit Leuten wie uns umgehen – und auch mit sich selbst.

Was gäbe das für Artikel! Was wären das für Auseinandersetzungen! Endlich hätten wir wieder eine harte Berliner Berichterstattung, verrückte Talkshows, Reportagen, die beim Henri-Nannen-Preis absolut keine Chance hätten, Leitartikel, die das Bestehende grundsätzlich in Frage stellten, statt es wohltemperiert zu variieren. Bald würden dann auch die deutschen Schreiber, Interviewer und Moderatoren aufwachen. Denn nun müssten sie schnell und aufrichtig und prinzipiell werden, um nicht in ihrem eigenen Land auf den zweiten Platz zurückzufallen, und schon würden die Auflagen und die Einschaltquoten steigen, es gäbe wieder Anzeigen und dandyhafte Achtzigerjahre-Honorare, und keiner mehr hätte das Internet als Ausrede für die eigene publizistische Schwäche. Und journalistischer Konformismus wäre bald nur noch ein Wort aus dem Wörterbuch der komatösen Nachwendezeit.

Ich hatte lange überlegt, ob ich diesen Artikel schreiben und mich dafür von meinen Kollegen mal wieder jahrelang hassen lassen soll. Ich hatte mich gefragt: Warum fragen sie schon wieder mich und nicht einen von ihnen? Aber dann las ich heute Morgen in der Zeitung, dass die liebe, langweilige und sinnlos ehrgeizige Autorin Juli Zeh den Carl-Amery-Preis dafür bekommt, dass sie sich immer wieder in die großen Debatten einmischt. Welche Debatten? Was für eine Juli Zeh?

Danke, SZ-Magazin, dachte ich dann und nahm den Auftrag an. Die Revolution kann beginnen (DRkb).

Maxim Biller, 48, arbeitete u. a. für die Zeitschrift »Tempo«, den »Spiegel« und die »Zeit«. Für die »FAZ« schreibt er die Kolumne »Moralische Geschichten«.

Illustration: Christoph Niemann