Mein Jahr in der Linkspartei

Klingt wie ein Buchtitel von Peter Handke, ist aber weit weniger poetisch: Unser Autor wollte wissen, wie es im Inneren der Partei aussieht, die viele als Schreckgespenst der Republik sehen. Also wurde er für ein Jahr Mitglied. Ein Experiment, bei dem er viel über einen ganz besonderen Menschenschlag lernte - und über sich selbst.

»Willkommen im Club«
Noch eine Stunde, dann darf ich zu Oskar Lafontaine »Oskar« sagen. Was soll ich anziehen? Auf keinen Fall darf ich elegant, aber auch nicht zu nachlässig gekleidet sein, das machen nur Adlige und Penner. Nach einigem Hin und Her entscheide ich mich für eine Levi’s, einen grauen Kapuzenpullover und Turnschuhe. Es ist Herbst 2008, der Staat pumpt Milliarden in die Hypo Real Estate, »Banker« entwickelt sich von einer Berufsbezeichnung zum Schimpfwort. Ich klingle im 2. Stock eines Bürohauses in der Schwanthalerstraße in München. Ein Mann um die 30, Glatze, Motörhead-T-Shirt, öffnet: »Hallo«, sagt er, »ich bin Niels, der Landesgeschäftsführer.« Ich habe Angst, dass er mir Fragen stellt. Angst, dass er mich ansieht und sagt: Ab nach Hause, Junge, hier hast du nichts verloren! Aber Niels stellt keine Fragen, er freut sich, dass ich gekommen bin; wir plaudern, dann drückt er mir eine Eintrittserklärung und eine Einzugsermächtigung in die Hand. Ich fülle sie aus, setze meine Unterschrift drunter, nach drei Minuten ist alles vorbei. »Willkommen im Club«, sagt Niels. Er ist jetzt mein Genosse. Ich bin das 524. Mitglied der Linkspartei im Kreisverband München.

»Spinner, Kommunisten und Sektierer«
Neulich hat die Münchner LINKE Journalisten eingeladen; die vier Direktkandidaten für die Bundestagswahl wollten sich vorstellen, zwanglos, mit Kaffee aus der Thermoskanne und belegten Broten. Aber niemand kam, der sie kennenlernen wollte, keiner von der SZ, keiner vom Merkur, keiner von der Abendzeitung, nicht mal ein Praktikant. Die Presse hat ein neurotisches Verhältnis zur Linkspartei. Sie hat so große Angst vor ihr, dass sie die Partei attackiert, lächerlich macht oder ignoriert. Dabei hat die LINKE im Saarland ihr Ergebnis von 2004 gerade verzehnfacht, in Thüringen und Sachsen wurde sie zweitstärkste Kraft. Ziemlich erfolgreich für eine Partei, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. In seinem Buch Der Politik aufs Maul geschaut schreibt Erhard Eppler: »Der Kommunismus als geschichtliche Kraft ist tot. Der Antikommunismus hat ihn überlebt. Aber irgendwann wird auch er sterben.« Stirbt er gerade? Ausgerechnet zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, wo sich gerade alle so ernsthaft erinnern? Haben die Deutschen solche Angst vor der Zukunft, dass sie sich den Sozialismus wieder vorstellen können? »Die LINKE im Westen, das sind Spinner, Kommunisten, Sektierer, ideologisch, verwirrt, gefährlich.« Das schreiben die Journalisten, die kein Interesse daran haben, die Spinner kennenzulernen. Ich halte das für unhöflich und schlecht recherchiert – und wollte es besser machen. »Du hast dich doch noch nie für irgendwas engagiert«
Ich bin kein Linker. Ich war auch nie einer. Vor 15 Jahren fand ich die Grünen gut, aber dann kam Claudia Roth. 2005 habe ich Merkel gewählt. Der Gedanke, dass ein Staat für mich sorgen muss, ist mir fremd. Das liegt auch daran, dass noch nie einer für mich sorgen musste. In meiner Familie ist keiner arbeitslos, keiner in einer Gewerkschaft, die meisten sind selbstständig, gut situiert, viele Ärzte, ein paar Anwälte, einer hat eine »Burger-King«-Filiale am Bodensee. Ich weiß noch, wie ich erschrocken bin, als ich zum ersten Mal einen Schulfreund besuchte, der mit seinen Eltern in einer 75-Quadratmeter-Mietwohnung lebte. Wenn ich morgen meinen Job verliere, versuche ich, einen neuen zu finden, egal wo, egal was, ich käme nie auf die Idee, den Fehler im System zu suchen. Was hat also einer wie ich in der LINKEN verloren? Mein Vater hat mir diese Frage auch gestellt. »Du hast dich doch noch nie für was engagiert außer für dich selbst«, sagte er. Warum also? Ich war neugierig und vor allem wollte ich nicht den Fehler begehen, den in der Politik so viele machen: aus Machtinteresse über Menschen urteilen, die man nicht kennt. Aus Kalkül Ideen ablehnen, mit denen man sich nicht auseinandergesetzt hat, oder noch schlimmer: die man heimlich gut findet. Ich wollte keinen Posten, keine Stimmen, nur die Wahrheit.

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»Wir bitten dich also um etwas Geduld«
Ein paar Tage nach dem Eintritt bekomme ich einen Brief vom Landesvorstand. Man freue sich über mein Engagement, würde meinen Kreisverband darüber informieren, dass es mich gibt. Eigentlich könne ich loslegen, nur die Zusendung meines Mitgliedsausweises würde ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, ich solle Geduld haben. Die Wochen danach warte ich auf eine Nachricht, ein Flugblatt, es muss doch jetzt losgehen, Revolution, Demo, Klassenkampf, es ist Krise, aber niemand meldet sich bei mir. Ich merke nur, dass ich ein Linker bin, weil ich jeden Monat 55 Euro weniger auf dem Konto habe – Mitgliedsbeitrag. Irgendwann begreife ich: Mit einer Partei ist es wie mit einem guten Freund. Man muss sich kümmern, aufmerksam sein, aktiv werden. Die Partei würde nicht zu mir, ich musste zur Partei kommen. Ich fühle mich ertappt und google meinen Kreisverband. Da steht ja alles: Der nächste Termin ist gleich am Samstag in Ingolstadt – die »Mitgliederversammlung zur Wahl von VertreterInnen für die VertreterInnenversammlung zur Europawahl«. Es würden die Menschen gewählt werden, die anschließend die Menschen wählen, die bei der Europawahl gewählt werden können.


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»Ich esse nur französisch, indisch und ayurvedisch«
Vereinsheim des TSV Ingolstadt, Samstag, 10 Uhr: Willkommen in der Welt der Leberknödelsuppen, Salatgarnituren und Billigpokale. Ich sitze mit 57 Genossen in einem Saal, zusammen sind wir 5,9 Prozent derer, die eingeladen wurden. Im Saal nebenan feiert ein Ingolstädter seinen 60. Geburtstag, unter Girlanden steht ein Alleinunterhalter am Keyboard. Kurz denke ich an meine Kindheit, als ich versucht hatte, mich in einem Fußballverein wohlzufühlen. Ich entdecke Niels, aber er sitzt ganz vorn beim Podium, das ist mir viel zu heikel. Sonst kenne ich niemanden. Ich setze mich neben einen Ossi mit einem ICE-Zug als Krawattennadel; am Tischende hat ein junger Mann mit Baskenmütze zwei Bücher vor sich ausgebreitet: Der Zweite Weltkrieg von Churchill und Perestroika von Gorbatschow. War er zum Lesen gekommen? Ich werde unsicher. Kränke ich einen Hartz-IV-Empfänger, wenn ich das teuerste Gericht auf der Karte bestelle? Wie viel Trinkgeld ist angemessen? Sonst gebe ich grundsätzlich zehn Prozent. Geben Linke weniger? Oder am Ende mehr? Weil man doch, wenn man »Reichtum für alle« fordert, gleich mit der Bedienung in Ingolstadt anfangen könnte? Die Frage mit dem Essen erübrigt sich schnell: Der Ossi bestellt in schneller Folge Schweinsgulasch mit Nudeln, mehrere Tassen Kaffee und drei Kugeln Nuss-Eis mit heißen Kirschen. Danach stellen sich die Kandidaten vor: Jeder hat drei Minuten Redezeit. Keiner hält sich dran. Es geht um den Lissabon-Vertrag, den anscheinend alle außer mir gelesen haben, das Wort »neoliberal« fällt alle zwei Minuten. Ich gebe meine Stimmen den vier Frauen und Männern (Gleichberechtigung!), die mir am sympathischsten sind, darunter eine ältere, weißhaarige Genossin, die einen engagierten Auftritt hinlegt; später erfahre ich, dass ich eine Trotzkistin nominiert habe. Um 16 Uhr sind wir fertig. Ich nehme einen Mann namens Henning und eine Hippie-Frau mit zurück nach München. Während der Fahrt füttert sie mich mit Apfelscheiben und Rosinen. »Ein Steak hat so viel Energie, man könnte damit 25 Menschen satt machen«, sagt sie. Sie sei Vegetarierin und esse lieber französisch, indisch und ayurvedisch. Henning sagt: »Aber wir sind Allesfresser, wie die Schweine.« Ich schließe ihn sofort in mein Herz.

Freiheit, Gleichheit, Einsamkeit
Ich gehöre zum Ortsverband Mitte-West. Meine erste Mitgliederversammlung findet im »Bürgerheim« statt, einem Wirtshaus auf der Schwanthaler Höhe. Da sitzen sie also, meine Genossen, mit denen ich das Superwahljahr bestreiten werde, unscheinbar, aber nicht unsympathisch. Trotzdem stellt sich wieder das Gefühl ein, dass man mir die Sorglosigkeit an den Augen ansieht, vielleicht schon an der Art, wie ich die Zwiebelringe auf meinem Teller zur Seite schiebe. Meinen Genossen scheint es ähnlich zu gehen: Den ganzen Abend über setzt sich niemand neben mich, der Stuhl bleibt frei, lieber quetschen sich alle auf die Eckbank und stehen alle zwei Minuten auf, wenn jemand aufs Klo muss. Sie ignorieren mich. Oder netter ausgedrückt: Sie lassen mich in Ruhe. Nur Henning erkundigt sich, ob ich mich eingelebt habe. Ich werde den Eindruck nicht los, dass ich diesen Menschen mag. Er ist interessiert, aufmerksam, aber nicht neugierig. Bei den anderen bin ich mir nicht sicher, ob sie mich verdächtig oder langweilig finden. Ich gehe davon aus, dass sie hinter meinem Rücken über mich reden. Nach zwei Stunden merke ich, dass ich eine Prada-Jeans anhabe, man kann hinten den Aufnäher sehen. Den Rest des Abends tue ich so, als würde ich mich am Hintern kratzen. Ich weiß, dass man auch ohne Geldsorgen links sein kann, aber wissen es auch meine Genossen?

»Reichtum für alle«
Wenn Obama von Abrüstung spricht, ist er ein Held, tut es Gysi, ist er naiv. Das mal vorneweg. Aber was fordert die LINKE noch? Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 500 Euro, Einführung von zehn Euro Mindestlohn, Nein zu Studiengebühren und Rente mit 67, Umverteilung von oben nach unten durch Millionärs-, Erbschafts- und Börsenumsatzsteuer. Gegen die letzten beiden Punkte habe ich was: Erstens bin ich Aktionär und zahle ohnehin 25 Prozent Abgeltungssteuer. Das reicht, finde ich. Zweitens werde ich erben, mein Vater hat gut verdient. Dafür hat er aber auch jede Woche achtzig und nicht 35 Stunden gearbeitet. Er hat es für seine Familie getan, für seine Frau, seine Kinder, damit sie keine Angst vor Altersarmut haben müssen, nicht für Frau Schmidt von nebenan. Mit dem Rest bin ich im Großen und Ganzen einverstanden. Eigentlich müsste jeder Mensch, der ein Herz im Leib hat, damit einverstanden sein. Keiner kann wollen, dass 20-jährige Soldaten in Kundus sterben oder ein Friseur am Wochenende zwölf Stunden Taxi fahren muss, damit er seine Freundin ins Kino einladen kann. Aber das Gute zu wollen ist einfach, es zu verwirklichen ist kompliziert. Und das traue ich der LINKEN nicht zu. Nicht, weil es zu viele Verrückte in ihr gibt, sondern zu wenige, die effizient und diplomatisch sind, die Bündnisse eingehen können und im Notfall regierungsfähig wären. Im Moment würde die LINKE im Bund mit keiner Partei koalieren, sie müsste also allein regieren können, das wird niemals eintreten, also ist das Programm – pragmatisch gesehen – sinnlos. »Reichtum für alle« steht auf einem Wahlplakat. »Reichtum besteuern« auf einem anderen. Also was jetzt? Dazu kommt, dass die LINKE genau nach den gleichen Prinzipien funktioniert wie die, gegen die sie kämpfen. Wer etwas anderes glaubt, ist naiv. Alle quatschen, wenige arbeiten. »Wir brauchen keinen Schutzschirm für die Banken, sondern für die Menschen.« Darin sind sich alle einig. Bei der »Schutzschirm-Aktion« vor der Hertie-Filiale aber, morgens um sieben, stehen drei Genossen in der Gegend herum. Es macht mich skeptisch, wenn sich sogar Linke von der Partei abwenden, weil sie das Programm für unrealistisch halten. André Brie, einer der größten Kritiker innerhalb der LINKEN, hat mal gesagt: »Viele Genossen kennen nicht den Unterschied zwischen Ideologie und Politik.« Ich ahne, was er meint. Der Sinn für das Machbare scheint einigen Leuten abzugehen, sie reden über Luhmann, wissen aber nicht, wie man sinnvoll einen Infostand betreut. Einmal habe ich einen Genossen sagen hören, dass alle Banken verstaatlicht werden müssen. Ein paar Wochen später fiel mir ein Flugblatt in die Hände, auf dem er dazu aufruft, ihm bei der Landtagswahl die Stimme zu geben. Bereits im ersten Satz fehlte ein Komma vor dem Relativsatz. Da denke ich doch: Wie soll mir einer was über das Wirtschaftssystem erzählen, der die Kommaregeln nicht kann?

»Von Flügelkämpfen verstehe ich nichts, ich bin doch kein Vogel«

Peter Sodann, ein Schauspieler aus dem Osten, der im Mai vergeblich versucht hat, der zehnte deutsche Bundespräsident zu werden, hat mal gesagt: »Josef Ackermann würde ich als Tatort-Kommissar gerne verhaften.« Ein andermal gestand er: »Von Flügelkämpfen verstehe ich nichts, ich bin doch kein Vogel.« Seine Chancen auf das Amt hat er sich durch diese Sprüche nicht vermasselt. Er hatte vorher schon keine. Trotzdem hielt er am politischen Aschermittwoch eine Rede in einem Wirtshaus in Ingolstadt. »Treffen sich zwei Planeten«, hob er an, »sagt der eine: Du siehst aber schlecht aus, was hast du? Sagt der andere: Ich habe Menschen. Sagt der Erste: Und was tust du dagegen? Sagt der andere: Nichts, ich glaube, die gehen von allein wieder.« Danach zitierte er vierzig Minuten lang Kant, Einstein, Goethe und Ghandi. Linke lieben kluge Sprüche, die nichts bringen, im Wahlprogramm wird sogar Jane Fonda zitiert, die es immerhin vom Sexobjekt zur Charakterdarstellerin gebracht hat. Am Ende erwähnt Sodann noch, dass er zwar für die LINKE zur Wahl antrete, ihre Ansichten aber nicht teile, was beide Seiten schon aushalten würden. Ein paar Tage danach verkündete er, seine Erlebnisse als Bundespräsidentschaftskandidat kabarettistisch aufarbeiten zu wollen. Ich frage mich, wie er noch komischer werden will.


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wachsen der Linken Flügel.

Demo statt Pecorino
Henning ist 67, vielleicht wurden wir deswegen keine Freunde, aber ich respektiere und bewundere ihn dafür, dass er nicht zynisch geworden ist in dieser Welt. Wir haben gemeinsam in Elfis Garten Wahlplakate auf Holzständer geklebt und Salamibrote gegessen, wir haben Flugblätter gegen Aufrüstung verteilt und ein paar tausend Parteizeitungen in Postkästen gesteckt. Einmal waren wir zusammen Eis essen. Dank Henning habe ich auch die Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz durchgestanden: Er erklärte mir, dass es sich in Wahrheit um eine Kriegskonferenz handle, dass die NATO Angriffskriege führe und der Lissabon-Vertrag eine haarsträubende Aufrüstungsklausel beinhalte. Ich fand es einfach nur saukalt. Trotzdem kämpfte ich den ganzen Tag lang, zehn Stunden insgesamt, für den Frieden. Ich konnte es kaum fassen, aber ich verteilte auf dem Viktualienmarkt tatsächlich Flugblätter gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Klar hatte ich Angst, dass mich jemand sehen könnte, ein Nachbar, ein Kollege oder die Frau vom Käsestand, bei der ich sonst immer mittelalten Pecorino kaufe. Aber ich war auch stolz: Ich hatte Flagge gezeigt und anscheinend waren wir alle zusammen so gefährlich, dass wir von 1300 bewaffneten Polizisten eskortiert und von einem Scharfschützen beobachtet werden mussten. Was ich nicht verstand: warum der Anheizer mit dem Megafon immer von »grünen Männchen« sprach. Wäre ich ein Polizist, ich hätte mich beleidigt gefühlt. Henning und ich schwenkten abwechselnd die große Parteifahne. Ich erfuhr, dass er auch Journalist ist und früher bei der Frankfurter Rundschau, danach viele Jahre in Namibia als Entwicklungshelfer gearbeitet hat. Sein Spezialgebiet sind Auslands- und Friedenspolitik, der Nahe Osten, Israel und Palästina. Dafür reist er in den Gazastreifen, hält Kontakt zu palästinensischen und jüdischen Intellektuellen – ich habe zuletzt Boris Becker in einem Londoner Zigarren-Club interviewt. Henning hat sicher mehr erlebt als Volker Kauder, Dirk Niebel und Hubertus Heil zusammen. Das macht ihn nicht zu einem besseren Politiker, aber zu einem interessanteren Menschen. Einmal hat er mich gefragt, warum ich eigentlich eingetreten bin. »Weil ich für Gerechtigkeit bin«, habe ich geantwortet. Tragisch, weil es stimmt und trotzdem gelogen war.

»Wir haben Flügel, Flügel, Flügel«
AKL, FdS, SAV, SDS – linke Strömungen aneinandergereiht hören sich an wie ein Lied von den Fantastischen Vier. Ich verstand erst allmählich, dass die LINKE nicht nur gegen die SPD, Kapitalismus und Sozialabbau kämpfte, sondern vor allem gegen sich selbst. Es gibt vier offizielle Strömungen: die Sozialistische Linke, die Antikapitalistische Linke, die Emanzipatorische Linke und das Forum demokratischer Sozialismus, dazu zwei Dutzend Gruppierungen, darunter die AG »Erholungsgrundstücke und Kleingärten«. Die LINKE hat ein Problem: In ihr sind Gewerkschafter, Hartz-IV-Empfänger, Trotzkisten, Alt-68er, Pazifisten, Marxisten, Maoisten, Autonome, Intellektuelle, ehemalige SED-Funktionäre, ehemalige Stasi-Spitzel, gekränkte SPDler, sogar einen Porschefahrer gibt es, er heißt Klaus Ernst und ist stellvertretender Parteivorsitzender. Die einen sind für, die anderen gegen Europa, die einen für, die anderen gegen den Kapitalismus, einige wollen Politik machen, andere den Generalstreik ausrufen. Einmal habe ich gehört, dass einer von der trotzkistischen SAV heimlich die Wahlplakate eines gemäßigten Genossen überklebt hat. Inzwischen weiß ich, dass nicht jeder Streit ein Flügelstreit ist. Manche Genossen können sich auch einfach nicht leiden.

»Ich gehe nach Hause, mein Hund muss scheißen«
Gysi hat mal gesagt: »In der LINKEN gibt es – wie in jeder anderen Partei – zehn Prozent Verrückte.« Ich glaube, es sind mindestens zwanzig Prozent. Neulich hob ein Genosse die Hand, es sah aus, als wolle er einen Antrag einbringen, aber dann erklärte er doch nur, dass er jetzt nach Hause gehe, weil sein Hund dringend scheißen müsse. Trotzdem sind mir ein paar dieser Typen ans Herz gewachsen, sie kommen mir vor wie die Gallier aus Asterix, als Einzelpersonen liebenswert und tapsig, als Gruppe wild entschlossen, den übermächtigen Gegner niederzuringen. Zum Beispiel Ralf*, der Mitglied in vier verschiedenen Umweltschutzorganisationen ist und seine Notizen immer in Klarsichtfolien abheftet. Ralf kommt garantiert in letzter Minute mit einem Vorschlag um die Ecke, der das Gesundheitssystem revolutioniert und von allen abgelehnt wird. Neulich hat ihm ein dummer Polizist den Arm gebrochen, als er mit einem selbst gebastelten Schild gegen das Gelöbnis auf dem Marienplatz demonstrierte. Er findet es nicht richtig, dass Soldaten »Bürger in Uniform« heißen. Da hat er recht. Oder Christoph*, der früher als Grafiker gearbeitet hat und heute Hartz-IV-Empfänger ist. Er sucht einen Job, aber keiner will ihn haben, Christoph ist 52. Ab und zu schreibt er noch eine Bewerbung, aber die Kraft lässt nach. Christoph gestaltet unsere Plakate, und er ist der Einzige, der einen guten Humor hat. Zum Beispiel hasst er es, wenn die Genossen »Transpi« statt »Transparent« sagen, da könnte er ausflippen. Mir geht es genauso. Einmal habe ich ihn gefragt, ob er ein menschenunwürdiges Leben führen muss, mit seinen 359 Euro im Monat. Da hat er gesagt: »Ach, menschenunwürdig, das wäre gelogen, aber ich kann halt nichts mehr machen, was mir Spaß macht.« Das fand ich fast noch schlimmer.

»Darf ich Ihnen etwas Infomaterial in die Hand drücken?«
Im Berliner Karl-Liebknecht-Haus steht der »Rote Ordner«, er bündelt die Wahlkampfstrategie der Partei. Darin heißt es: »Wir gehen ans
Telefon, wenn uns jemand anruft.« Außerdem: »Unsere Wahlkämpfer sollten saubere Fingernägel haben, außerdem saubere Kleidung und Schuhe tragen. Von einer Alkoholfahne ist abzuraten, ebenso von Drogenkonsum. Erlaubt dagegen sind bunte Haare, Zungenpiercings und Nasenringe.« Meine Haare sind braun, ich bin nicht gepierct und ich besitze ein Auto, das machte mich zum begehrten Infostand-Betreuer. Ein Infostand, das ist ein ausklappbarer Tisch, ein Sonnenschirm und ein Rollkoffer mit Faltblättchen. Für die Kinder gibt es Pfefferminzbonbons und dreieckige Fähnchen, für alle anderen Kugelschreiber, Streichhölzer und Kondome. An einem Samstagvormittag im Juli postierte ich mich zusammen mit Thomas*, Klaus* und Udo* vor der Aldi-Filiale in München-Aubing. Das Problem: Für die Fähnchen interessierten sich ausschließlich Minderjährige aus der Türkei und es gingen unwesentlich mehr wahlberechtigte Menschen zum Einkaufen, als vor der Tür standen, um sie zu informieren. Es war Ferienzeit. Die meisten wollten nichts mit mir zu tun haben; einer schrie mich an, dass ich nur neidisch sei. Mir fiel auf, dass die Menschen nur zwei Dinge mit der LINKEN verbinden: die DDR und Lafontaine. Am überzeugendsten war ein Mann, der mir erzählte, dass er 18 Monate im Stasi-Knast in Cottbus gesessen habe, weil seine Ausreiseanträge zu scharf formuliert gewesen seien. Er habe damals in den Westen gemusst, seine Schwester sei im Sterben gelegen. Er habe sie nicht mehr gesehen. In seinem Fall verzichtete ich auf die Frage, ob er an Infomaterial interessiert sei.

»Horchst du uns aus?«
In ein paar Tagen ist Bundestagswahl. Wen ich wähle, weiß ich noch nicht, ich weiß, wen ich nicht wähle. Je mehr Menschen es schlecht geht in diesem Land, desto größer sind die Chancen für die LINKE – über diesen merkwürdigen Zusammenhang muss ich oft nachdenken. Mein letztes Jahr war ziemlich aufregend: Ich bilde mir ein, dass sich die Ränder meines Erfahrungshorizonts nach außen verschoben haben, dass ich gemerkt habe, dass man nicht mit allem einverstanden sein muss, auf jeden Fall sehe ich einige Dinge anders. Zum Beispiel bin ich – gerade weil Christoph nie gejammert hat – überzeugt, dass der Hartz-IV-Satz erhöht werden muss. Das Geld ist da, ich bin sicher, für die Hypo Real Estate war es auch da. Trotzdem: Politik ist nichts für mich und die LINKE auch nicht. Das wurde mir klar, als mich ausgerechnet Ralf verdächtigte, ein Spion vom Verfassungsschutz zu sein. »Warum tippst du ständig in dein Handy?«, fragte er mich, »Horchst du uns aus?« Dabei schrieb ich nur an meine Freunde, als draußen die Sonne schien und einer meiner Genossen wieder mal nicht auf den Punkt kam. Mit der Weltgemeinschaft der Freien und Gleichen geht es mir wie mit dem lieben Gott: Ich glaube nicht daran. Ich glaube an eine Gesellschaft der Mittelmäßigen, die darauf angewiesen ist, dass ab und zu Menschen auftauchen, die sich von ihr nicht lähmen lassen. Das kann ein Unternehmer, ein Popstar oder linker Revolutionär sein. Ralf, Christoph und Udo sind es nicht. Die gehen ins »Bürgerheim«, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen, wütend sind und voller Sorge, überflüssig zu werden in der modernen Warenwelt. Ein Lieblingsspruch der LINKEN stammt von John Steinbeck. Er geht so: »Menschliche Eigenschaften wie Güte, Großzügigkeit, Offenheit, Ehrlichkeit, Verständnis und Gefühl sind in unserer Gesellschaft Symptome des Versagens. Dagegen sind Gerissenheit, Habgier, Gewinnsucht, Gemeinheit und Egoismus Merkmale des Erfolges.« Er hat recht.

Als er schon Mitglied bei der LINKEN war, ist Tobias Haberl einmal fremdgegangen: Vor der bayerischen Landtagswahl war er auf einer Parteiveranstaltung der FDP. Die Unterbrunner Blaskapelle hat gespielt, Guido Westerwelle hat gesprochen, am Mischpult saßen beflissene Jungliberale mit dicken Krawattenknoten und zu großen Sakkos. Er sagt: "Ich fühlte mich mindestens so fehl am Platz und so unverstanden wie auf meiner ersten Mitgliederversammlung im ‚Bürgerheim‘."

* Namen von der Redaktion geändert.

Jo Jankowski (Fotos)