In Zeiten wie diesen

Welche unheilschwangere Formulierung passt »in Zeiten wie diesen« immer? Genau.

Beim Zeitunglesen fragt sich unser Autor: Findet nicht alles immer und zu jeder Zeit in Zeiten wie den jeweiligen statt?

Illustration: Janik Söllner

Die Welt ist finster im Moment. Gaza, Ukraine, Klima. Kriege, Ängste, Nöte. Kaum auszuhalten. Klar, früher war die Welt auch oft ein ungemütlicher, ein schrecklicher Ort, manchmal vielleicht sogar noch viel schreck­licher, wer mag das schon beurteilen. Aber aus vielen Gründen beschwören Politiker und Leitartiklerinnen gerade wieder besonders häufig den Ernst der Lage. »Die Bevölkerung erwartet in Zeiten wie diesen Führung«, sagt Wolfgang Schäuble (Focus, 4. Februar 2023). »Es ist in Zeiten wie diesen gut, über die großen und emotionalen Fragen in einem demokratischen Konsens zu sprechen«, findet die ehemalige SPD-Ministerin Katarina Barley (Spiegel, 26. September 2023). Und bei der taz finden sie: »Wenn es überhaupt eine*n Bundes­prä­sident*in braucht, dann in Zeiten wie diesen« (7. Oktober 2023).

Und wenn es in Zeiten wie diesen einer Formulierung bedarf, die überall und immer passt, dann ist es »in Zeiten wie diesen«. Kann man in jeden Satz einbauen, und sofort steht das Gesagte ernster im Raum, gewichtiger, gravitätischer. Aufgepasst, wir halten uns hier nicht mit Klein-Klein auf, es geht ums große Ganze. Und jetzt bitte alle tief durchatmen und sorgenvoll in die Ferne blicken.

Allerdings steht die Floskel auch in Zeiten wie diesen oft ein bisschen seltsam in der Gegend rum. Zum Beispiel wenn Heike Werner, Sozialministerin in Thüringen, feststellt: »In Zeiten wie diesen ist es grundsätzlich falsch, bei Familien mit Kindern zu sparen« (Stern, 22. Juli 2023). Äh, auch sonst immer grundsätzlich falsch, oder? Der CSU-Mann Markus Blume verkündete gerade in einer Rede vor Studienanfängern: »In Zeiten wie diesen brauchen wir wissbegierige junge Menschen, die Lust haben, anzupacken und die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten« (dpa, 16. Oktober 2023). Brauchen wir in allen anderen Zeiten genauso, nicht wahr? Und wenn die SPD-Finanzpolitikerin Beate Raudies mahnt: »Wir brauchen in Zeiten wie diesen keine Sonntagsreden im Plenum, sondern einen Landtag, der sich selbst und seine Beschlüsse ernst nimmt« (Stern, 26. Februar 2023) – dann möchte man ihr zuflüstern, pst, das wäre eigentlich auch sonst ganz gut.

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Der Trick ist immer der gleiche: Wer seinen Worten mehr Bedeutung verleihen will, stellt einen Bezug zum dramatischen Weltgeschehen her. Wird schon passen. Lustig wird es da, wo die zeitdiagnostische Einordnung einfach jedem beliebigen Thema übergestülpt wird. Ein paar grundlegende Worte zum Thema Auslegeware? Bitte: »Spannteppiche haben einen schlechten Ruf. Dabei passen sie in Zeiten wie diesen. Sie dämpfen nicht nur Lärm, sondern unseren Weltschmerz ein bisschen mit dazu« (NZZ am Sonntag, 22. Oktober 2023). Vom Wohnzimmerboden in den Nahen Osten und wieder zurück in weniger als drei Zeitungszeilen.

Oder es sind ein paar neue Brettspiele vorzustellen, aber bitte irgendwie mit Tiefgang? Na dann: »Es gibt Spiele, die begleiten uns ein Leben lang. Ob es die Sehnsucht nach Erfolg, das gemeinsame Miteinander oder einfach nur Spaß an der Freude ist, kann keiner so ­genau sagen. Fakt ist jedoch, dass Brettspiele eine sinnvolle wie schöne Beschäftigung sind – in Zeiten wie diesen mehr denn je« (Stern, 23. Oktober 2023). Jawoll!

Klar, es gibt die bangen, wirklich ernst gemeinten Fragen: »Wie soll, wie kann man in Zeiten wie diesen noch günstig wohnen?« (Spiegel, 31. März 2023). Aber auch in Zeiten wie diesen geht es dann doch nicht immer um Tod und Verderben, sondern auch einfach mal um die Rendite: »Einzelaktien oder ETFs – was rentiert sich in Zeiten wie diesen mehr?« (Stern, 26. Januar 2023).

Es ist halt nur so: Egal ob Mietwahnsinn, Brettspiel oder Geldanlage, alles findet immer und zu jeder Zeit in Zeiten wie den jeweiligen statt. Haben nicht die Menschen in vergangenen Zeiten auch in Zeiten wie jenen gelebt? Werden nicht künftige Zeiten womöglich Zeiten wie die künftigen sein? Sehr wahrscheinlich empfindet jeder Mensch seine jeweilige Gegenwart als die komplexeste und präsenteste. Weil er nun mal in ihr lebt.

Halten wir einander zugute, dass in den »Zeiten wie diesen« einfach die existenzielle Verzweiflung mitschwingt, die dem Menschen ganz grundsätzlich mit auf den Weg gegeben ist: Wo komme ich her? Was mache ich hier? Und was ist der Sinn von all dem? So viele Fragen. Aber wie es mit der Gegenwart halt so ist: Überblicken und halbwegs einordnen kann man sie erst, wenn sie Vergangenheit wird, und das passiert leider erst in der Zukunft.

Bis dahin sollten wir es uns wenigstens nett einrichten: »In Zeiten wie diesen kann die bunte Gestaltung des Gartens und der Hauseingänge zudem dazu beitragen, etwas gute Laune zu verbreiten« (Stuttgarter Zeitung, 8. Februar 2023). Wir können ein wenig Musikhören: »In Zeiten wie diesen ist Rick Astley der bessere Morrissey« (Spiegel, 13. Oktober 2023). Und wenn wir so richtig überfordert sind, ziehen wir wenigstens abends mal schön um die Häuser: »Bleibt die Frage, ob Feiern in Zeiten wie diesen angebracht ist. Die Antwort lautet: Ja, unbedingt, weil Trübsalblasen die Lage nicht besser macht« (Welt am Sonntag, 8. Januar 2023).

Na, dann Prost!