Hamburg Rothenbaum, Centre-Court, 30. April 1993. Monica Seles gewinnt im Viertelfinale gegen Magdalena Maleeva den ersten Satz und liegt im zweiten 4 : 3 vorn. Seitenwechsel, kurze Pause. Seles setzt sich, wischt mit dem Handtuch übers Gesicht, denkt, noch zwei Games, dann kannst du dich hinlegen. Sie ist seit über zwei Jahren die Nummer eins im Frauentennis und 19 Jahre alt. Die Strapazen der Tour, die Jetlags und Klimawechsel setzen ihr zu.
Sie hat gerade Ferien gemacht, weil sie nach New York, Melbourne, Chicago und Paris im Hotel kaum noch den Weg vom Bett zum Klo schaffte, ohne dass ihr schwindlig wurde. Hamburg ist ihr erstes Spiel seit sieben Wochen, ein Aufwärm-Turnier vor den French Open. Sie hat keine Zweifel, dass sie Hamburg gewinnt. Roland Garros wird härter werden. Steffi Graf will Revanche. Sie beugt sich zur Wasserflasche vor. Diese Bewegung, sagen die Ärzte später, habe sie wahrscheinlich davor bewahrt, heute im Rollstuhl zu sitzen. Die meisten Leute wollen wissen, ob es wehtat, als Günter Parche sie in den Rücken stach. »Es war ein grausamerer Schmerz, als ich ihn mir je hätte vorstellen können«, sagt Monica Seles. Sie dreht sich reflexartig um, als sie den Knall in ihrem Körper spürt, und sieht in der ersten Zuschauerreihe einen Mann mit einer Baseball-Mütze und einem merkwürdig verzerrten Gesicht. Er hat ein Messer in den über dem Kopf erhobenen Händen und will eben ein zweites Mal zustechen. Sie ist unfähig, sich zu bewegen. Parche wird von Zuschauern zurückgehalten. Monica Seles steht auf, geht ein paar Schritte Richtung Netz, dann knickt sie ein.
Die Schulterverletzung ist nicht dramatisch. Der Einstich knapp neben der Wirbelsäule ist dreieinhalb Zentimeter tief. Er hat Muskel- und Fasergewebe beschädigt, das Schulterblatt ist unversehrt. Mit Glück, sagen die Ärzte, kann sie in fünf Wochen wieder trainieren. Sie erfährt, dass der Attentäter ein paranoider Steffi-Graf-Fan ist, der nicht ertragen konnte, dass Seles seine Lieblingsspielerin von der Spitze verdrängt hatte.
Am 1. Mai besucht Steffi Graf sie im Krankenhaus. Nur ein paar Minuten, sie muss gleich wieder los, das Finale spielen. Finale, denkt Monica Seles, welches Finale? Sie hat zwischen Schock und Schmerzen selbstverständlich angenommen, dass das Turnier nach dem Anschlag abgebrochen wurde.
Nach Steffi kommen zwei Polizeibeamte. »Gehört das Ihnen?«, fragt die eine Polizistin und zieht ein blutbeflecktes Fila-Shirt aus einer Plastiktüte. Monica Seles wird schlecht. Sie nickt. Der zweite Beamte hält ihr ein
langes, mit getrocknetem Blut verklebtes Messer hin. Kaum sind die beiden weg, übergibt sie sich.
»Ich bin niedergestochen worden«, schreibt sie in ihrem bislang nur auf Englisch erschienenen Buch Getting a Grip (Sich in den Griff kriegen), »auf dem Tennisplatz, vor zehntausend Leuten. Es ist nicht möglich, distanziert darüber zu sprechen. Es veränderte meine Karriere unwiderruflich und beschädigte meine Seele. Ein Sekundenbruchteil machte aus mir einen anderen Menschen.«
14 Jahre zuvor hielt sie zum ersten Mal einen Tennisschläger in der Hand. Er ist fast so groß wie sie und gehört ihrem acht Jahre älteren Bruder Zoltan, der bereits Junioren-Turniere spielt. Ihrem Vater Karolj, einem ehemaligen Leichtathleten, fällt auf, dass die Fünfjährige den riesigen Schläger hält, als habe er kein Gewicht. Seine Tochter muss ungewöhnlich starke Handgelenke haben. Monica ist begeistert von dem neuen Spiel.
Karolj Seles hat keine Pläne für seine Kinder, außer, dass sie möglichst glücklich sein sollen. Wenn sein Mädchen unbedingt Tennis spielen will wie ihr Bruder, soll sie das tun können. Irgendwann fährt er, wie schon Jahre zuvor für Zoltan, den siebenstündigen Weg nach Italien, weil es dort Schläger für Kinder gibt.
Der Tennis-Club ihrer Heimatstadt, dem heutigen serbischen Novi Sad, will keine Fünf-jährige zulassen. Karolj Seles spannt Schnüre zwischen geparkte Autos und die Wand des Häuserblocks, in dem sie wohnen, und erklärt das Terrain zu ihrem Privatplatz. Da Tom und Jerry der Lieblingscartoon seiner Tochter ist, bemalt der Vater, Polit-Karikaturist für verschiedene jugoslawische Tageszeitungen, ihre Tennisbälle mit Jerry-Mausköpfen. Sie ist Tom und jagt Jerry, Ball für Ball, Tag für Tag.
»Du hörst sofort auf, wenn es keinen Spaß mehr macht«, sagt der Vater. Mutter Ester, die als Buchhalterin arbeitet, kann mit Sport nichts anfangen. Sie versteht nicht, warum Monica auf dem Parkplatz stundenlang verbissen auf Bälle eindrischt. Sie hätte sich weiblichere Beschäftigungen gewünscht. Aber ihre Tochter ist ein glückliches Papakind. Ester Seles hat nicht die Absicht, daran zu rühren.
Als Monica nicht mehr nur gegen Vater und Bruder spielen will, nehmen Tennistrainer den Vater beiseite. Seine Tochter spielt sowohl Vorhand wie Rückhand mit beiden Händen. »So spielt man nicht Tennis«, sagen sie, »so wird sie nie eine große Spielerin werden.« Karolj Seles antwortet, das sei nun einmal, wie seine Tochter beschlossen habe zu spielen. »Mein Künstlervater sah die Tennis-Welt mit einem absolut freien Kopf«, sagt
Monica Seles, »es interessierte ihn nicht, wie Dinge immer gemacht worden waren, sondern ob sie funktionierten.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Monica Seles dachte, dass das Tennisturnier nach dem Attentat auf sie sicher beendet werden würde. Sie hatte sich getäuscht – Steffi Graf spielte im Finale.)
Mit zehn gewinnt das spindeldürre kleine Mädchen europäische Junioren-Turniere gegen fast doppelt so große Gegnerinnen. Als sie in der Zeitung über ihrem Bild den Titel »Sportlerin des Jahres« sieht, weiß sie vor Verlegenheit nicht, wohin mit sich. Sportlerin des Jahres! Sie braucht noch nicht einmal einen Sport-BH.
Nachdem sie in Miami die Orange Bowl gewinnt, eines der wichtigsten Nachwuchsturniere, bietet ihr Nick Bollettieri, legendärer Tennis-Trainer und Gründer der weltweit ersten Tennis-Akademie in Florida, ein Stipendium für seine Schule an. Sie ist zwölf und kann sich ein Leben ohne Familie, ohne Freunde und ohne Novi Sad eigentlich nicht vorstellen. Sie denkt nicht an Preisgelder. Sie will einfach so viel wie möglich Tennis spielen. Dazu sind in Novi Sad die Winter zu kalt und zu lang.
Die Familie diskutiert Bollettieris Angebot wieder und wieder. Das Ergebnis ist immer das Gleiche: Es ist Monicas Entscheidung. Nach Monaten beschließt sie, das Stipendium anzunehmen. Zoltan wird mit ihr gehen. Die Academy ist beinharter Drill. Monica hat zu viel Kraft und Energie, auch größere Mädchen wollen nicht gegen sie antreten, also spielt sie meist mit Zoltan.
Als die Trainer versuchen, ihr die beidhändigen Schläge abzugewöhnen, verliert sie ein Spiel nach dem andern. Sie will heim. Alle paar Wochen ruft sie kurz in Novi Sad an. Die Gespräche sind teuer; sie sagt, es gehe blendend. Nach neun Monaten wirft sie alle gesparten Münzen ins Telefon und beginnt zu weinen, als sie die Stimme der Mutter hört. »Halt noch ein bisschen durch, wir denken uns etwas aus«, sagt die Mutter.
Wenige Wochen später ziehen die Eltern nach Florida. Monica ist außer sich vor Freude. Der Vater wird offiziell ihr Trainer und will, dass sie die Bälle wieder beidhändig schlägt. Die Mutter ist daheim und hat gekocht, wenn sie vom Tennisplatz kommt. Bollettieri lässt sie auf einem eingemauerten Platz spielen, damit niemand ihr völlig neues Powertennis sehen kann. Ein Jahr später wird sie Profi-Tennisspielerin.
»Die Tour stellt dein Leben auf den Kopf. Wenn du die Füße nicht fest am Boden hast, haut es sie dir weg. Aber das Problem hatte ich nicht«, schreibt sie. In Houston gewinnt sie ihr erstes Profi-Turnier gegen ihr Idol Chris Evert und bekommt 50 000 Dollar. Das Erste, was ihre Mutter nach dem Sieg sagt, ist, dass sie nach ihrer Rückkehr sofort ihr Zimmer auf-
räumen müsse. Es seien solche Dinge, sagt Monica Seles, die einen geerdet halten. Sie verdient bereits Millionen, als sie ihre Koffer noch immer so voll packt, dass sie nichts im Hotel waschen lassen muss. Zu teuer.
1990 gewinnt sie gegen Martina Navratilova in Rom und danach gegen die seit 66 Spielen unbesiegte Tenniskönigin Steffi Graf bei den German Open in Berlin. Zwei Wochen später besiegt sie Graf in einem spektakulären Finale bei den French Open erneut. »Es war, als habe jemand die Regeln des Frauentennis neu festgelegt«, schrieb der britische Observer über die bis heute jüngste Gewinnerin von Roland Garros, »Seles spielte so aggressiv und war so vollständig konzentriert, dass sie durch nichts aufzuhalten schien.«
Als sie zum Jahresende Gabriela Sabatini in New York in einem vierstündigen Spiel über fünf Sätze schlägt – das Masters-Turnier forderte auch von Frauen bis 1998 drei Gewinnsätze für einen Sieg –, ist sie die absolute Sensation im Frauentennis. Wenige Monate später steht die inzwischen 17-Jährige auf dem obersten Platz der Weltrangliste. Sie sagt, es habe ihr nicht gut getan: »Ich wurde vom Kind direkt zur
Celebrity, und ich entwickelte eine bombastische Überzeugung, ich sei wichtig.«
Der Rockstar Axl Rose diskutiert nach einem Konzert Tennisstrategien mit ihr und würdigt die umstehenden Supermodels keines Blickes. Hollywood-Schauspieler Pierce Brosnan schlägt mit ihr Bälle übers Netz. Monica Seles teilt ihren Eltern mit, sie wolle künftig allein reisen. Sie will feiern, das Aufsehen genießen, wenn sie in einem Nachtclub auftaucht. Nach zwei verlorenen Turnieren krebst sie zurück. »Bist du sicher, dass du uns wieder dabeihaben willst?«, fragt der Vater. Sie ist sicher. Sie braucht ihre Familie, hat kein Talent für Small Talk.
1991 steht sie bei den French Open wieder gegen Steffi Graf im Finale. Monica Seles gewinnt den dritten Satz nach fast drei Stunden mit 10:8. Das Spiel ist Tennis-Legende. Doch die Medien beginnen plötzlich, an ihr herumzukritteln. People Magazine setzt sie auf die Liste der zehn schlechtest gekleideten Frauen. Man nimmt Anstoß an ihrem lauten Stöhnen auf dem Platz. Mehrere Spielerinnen beschweren sich beim Schiedsrichter.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Tragen Sie andere Kleider, weil sich Ihr Körper verändert?«, fragt ein Journalist bei einer Pressekonferenz. Sie versteht nicht. »Ihr Po ist größer geworden im letzten Jahr«, sagt er.)
»Es mag unwahrscheinlich klingen, aber ich hatte keine Ahnung, dass ich so laut bin«, sagt Monica Seles, »man ist beim Spielen wie in einer Blase.« Im Fernsehen hatte sie Jimmy Connors immer stöhnen hören, ohne dass jemand etwas sagte. Gab es für Frauen andere Regeln? Aber die Schlagzeilen über ihr »Grunzen«, wie die britische Presse schreibt, treffen sie.
Im Finale gegen Steffi Graf in Wimbledon versucht sie, ihren Geräuschpegel zu senken: »Ich konzentrierte mich so sehr darauf, nicht zu stöhnen, dass mein Spiel durcheinander kam. Aber ich wollte den Leuten gefallen. Es lohnt sich nicht.« Steffi Graf gewinnt, Monica Seles bleibt die Nummer eins.
Ihr schmaler Körper wird runder, fraulicher. »Tragen Sie andere Kleider, weil sich Ihr Körper verändert?«, fragt ein Journalist bei einer Pressekonferenz. Sie versteht nicht. »Ihr Po ist größer geworden im letzten Jahr«, sagt er. In ihrem Kopf ist sie immer noch das magere, kleine Mädchen aus Novi Sad. Dass man sie öffentlich nach ihrem Hintern fragt, beschämt sie unendlich. Aber sie wird es ihnen heimzahlen. Die nächsten Jahre im Frauentennis werden ihr gehören. Als sie in Hamburg antritt, ist sie in Topform.
Nach dem Anschlag will sie so schnell wie möglich weg aus Deutschland. Wenige Tage später ist sie in einer Klinik in Colorado. In Rom beraten unterdessen die Top-Spielerinnen, ob man ihren Spitzenplatz in der Weltrangliste einfriert, bis sie wieder spielen kann. Gabriela Sabatini enthält sich der Stimme, alle anderen sind dagegen. Ein höherer Listenplatz bedeutet mehr Preisgelder und mehr Werbeeinnahmen für alle. Steffi Graf wird die neue Nummer eins und bekommt den Sponsorenvertrag, den man Seles kurz vor Hamburg angeboten hatte.
Bei Karolj Seles wird Prostatakrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Er muss sofort operiert werden. Monica Seles sieht Steffi Graf im Fernsehen die French Open gewinnen und denkt: »Günter Parche hat sein Ziel erreicht. Sie ist wieder ganz oben, und ich kann meinen Arm nicht über Schulterhöhe heben.« Außer Martina Navratilova hat sich keine Spielerin gemeldet, seit sie in Colorado ist. Ihr Körper heilt rasch, aber jedes Mal, wenn sie auf dem Weg zum Tennisplatz ist, kehrt sie wieder um. »Nirgends hatte ich mich sicherer gefühlt als auf dem Platz. Hamburg hat mir das genommen. Und der Mensch, der mich hätte trösten können, musste seinen eigenen Kampf kämpfen.«
Das Einzige, was Monica Seles von der Sorge um den Vater und der Frage »Warum ich?« ablenkt, ist Essen. Sie stopft in sich hinein, was sie an Junkfood finden kann, und sieht sich beim Dickwerden zu. Sie schläft immer schlechter. Meist steht sie nachts auf und putzt eine weitere Tüte Chips weg. Sie hat inzwischen fast zwanzig Kilo zugenommen. In Deutschland wird Günter Parche wegen Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Sie legt Berufung ein.
»Was willst du tun?«, fragt der Vater, als sie ihn im Krankenhaus besucht. Sie weiß es nicht. »Spiel nicht wieder Tennis, wenn du nicht wirklich willst«, sagt er. »Deine einzige Pflicht ist zu tun, was dich glücklich macht.« Sie hat keine Ahnung, was das sein könnte. Ihr Leben vor Hamburg war glücklich. Jetzt ist sie ein depressives Nervenbündel mit Panik- und Fressattacken. Geld hat sie genug, aber nichts zu tun. Sie hängt herum, sieht fern, verschlingt heimlich im Auto Chips und Süßigkeiten.
Zwei Jahre, nachdem sie verletzt wurde, beginnt sie wieder zu trainieren. In Kanada gewinnt sie ihr erstes WTA-Turnier nach dem Attentat, danach in Melbourne die Australian Open. Aber sie schämt sich viel zu sehr für ihre Figur, um sich zu freuen. Im kurzen Rock zur Siegerehrung anzutreten ist Folter. Eine Zeitung schreibt, sie sehe aus wie ein Sumo-Ringer. In Paris und Wimbledon verliert sie kläglich in den Vorrunden. Der Krebs ihres Vaters hat sich weiter ausgebreitet. Im Berufungsverfahren gegen Günter Parche wird das erstinstanzliche Urteil bestätigt.
Monica Seles hat sich von seiner Verurteilung ein Stück Seelenfrieden erhofft. Parche ist bis heute auf freiem Fuß. Sie kann den Gedanken lange nicht ertragen. Ihre Klage gegen den Deutschen Tennis Bund wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen wird abgewiesen. Der verlorene Prozess kostet sie mehr als eine Million Dollar. Sie beschließt, nie mehr in Deutschland zu spielen.
Als sie 1997, immer noch 15 Kilo zu schwer, in Wimbledon antritt, trifft sie auf eine neue Generation von Spielerinnen: Martina Hingis, Venus Williams, Anna Kournikova. Sie sind nicht nur schneller und stärker als sie, sondern auch dünn wie Models, sexy, modebewusst, blendend vermarktbar. Monica »Donnerschenkel« Seles, wie eine britische Boulevardzeitung sie nennt, ist mit 23 Jahren Tennisvergangenheit, als Spielerin und als Erscheinung.
Unmittelbar vor ihrem ersten Wimbledon-Spiel erfährt sie, dass der Vater im Sterben liegt. Sie verliert und fliegt am nächsten Tag in die USA.
Karolj Seles stirbt eine Woche später. Sie kehrt danach so schnell wie möglich zur Tennis-Tour zurück. In den nächsten sechs Jahren ist sie mindestens so häufig verletzt wie außerstande, ein Turnier zu gewinnen. »Vielleicht ist es das, was ich jetzt bin«, denkt sie, »ich werde nie mehr die Nummer eins und trage Größe 44 für den Rest meines Lebens.«
Bei Pressekonferenzen fragen Journalisten jetzt routinemäßig, wann sie sich zurückziehe. Sie ist Mitte zwanzig und immer noch in den Top Ten. Aber trotz gelegentlicher Gewinne gilt sie als Freak, der nicht aufhören kann. Sie fühlt sich auch so: Sie spielt, weil es sie ablenkt. Vom Tod des Vaters, von Günter Parche, von der Sehnsucht nach dem behüteten Leben, das plötzlich weg war. Zum letzten Mal tritt sie als Profi-Spielerin 2003 in Roland Garros an und verliert in der ersten Runde. In den nächsten fünf Jahren deutet sie immer wieder ein Comeback an. Es findet nie statt.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Es sagt viel über ihren wiedergefundenen Humor aus, dass sie ausgerechnet als Kandidatin von Dancing with the Stars wieder an die Öffentlichkeit tritt.)
Sie trainiert weiterhin, weiß alles über Kalorien, nur nicht, warum ihre Disziplin vor jedem Keks versagt, spielt immer noch gelegentlich. Als ihr Knöchel 2006 operiert und für Monate eingegipst werden muss, studiert sie alte Familienfotos und Zeichnungen des Vaters. Sie weint sich die Augen aus dem Kopf und begreift, dass Chips und Kekse ein Betäubungsmittel gegen alles waren, was wehtat. Es bedeutet nicht, dass die Kekse nicht mehr locken. Aber sie kann endlich um den Vater trauern.
Als der Gips abgenommen wird, macht sie stundenlange Spaziergänge, Tag für Tag, allein. Tennis rückt in immer weitere Ferne. Sie hält keine Diät, sondern fragt sich bei den Fressanfällen, was sie plagt. Und findet meist eine Antwort. Nach zwei Jahren hat sie die 15 Kilo Übergewicht verloren. »Wenn ich die Wahl habe zwischen einem weiteren Grand-Slam-Sieg und dem Frieden, den ich mit meinem Körper geschlossen habe, gibt es keinen Zweifel«, sagt sie. Am 14. Februar 2008 beendet sie offiziell ihre Tennis-Karriere.
Es sagt viel über den wiedergefundenen schrägen Humor von Monica Seles, dass sie einen Monat später ausgerechnet als Kan-
didatin von Dancing with the Stars wieder an die Öffentlichkeit tritt. Sie trägt einen gol-denen Glitzerfummel, ist rank, heftig geschminkt und sichtlich nervös. Von Paartanz hat sie keine Ahnung. »Unter ›Partner‹ verstand ich bisher eine Gegnerin, die ich niederwalzen musste«, sagt sie.
Beim Tanzen bemüht sie sich so angestrengt um leichtfüßige Weiblichkeit, dass man sie in den Arm nehmen möchte. Das ganze Studiopublikum steht auf und applaudiert, als sie in der ersten Runde ausscheidet. »Ich wollte meine neue innere Stärke testen«, sagt sie danach, »und das Risiko, mich in einer Realityshow total zu erniedrigen, war die bestmögliche Gelegenheit. Fünf Jahre zuvor hätte es mich zerstört. Diesmal war es anders, und ich wusste, jetzt gibt es nichts mehr, was ich nicht anpacken kann.« Kurz darauf erhält sie eine Anfrage von Playboy, ob sie bereit wäre für Nacktaufnahmen. Sie lehnt ab, alles andere als entrüstet. Aber sie braucht im Moment keinen weiteren Test.
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Beatrice Schlag erwartete einen Diät-Ratgeber, als sie Getting a Grip von Monica Seles kaufte. Sie hatte selbst mit sieben begonnen, Tennis zu spielen, und als 15-jähriger Pummel wieder aufgehört, weil sie sich in den kurzen Röckchen auf dem Platz schämte. Aber das Buch lieferte weder Ernährungstipps noch saftige Tennis-Anekdoten: "Da beschreibt eine junge Frau, die offensichtlich nie gewohnt war, viel über sich zu reden, leise und dringlich, wie verdrängtes Unglück sie fast um den Verstand brachte. Es ist die erste Sport-Autobiografie, die ich mehrmals gelesen habe."