Ein bisschen krass muss sein

Bushido, Sido, Fler: Die Rapper des Plattenlabels Aggro Berlin galten jahrelang als Bürgerschreck, weil sie in derben Worten von Integrationsproblemen und Großstadtkriminalität erzählten. Heute sind sie längst salonfähig, und Bushidos Leben gibt es seit dieser Woche als Film für die ganze Familie. Aber in ihren Texten bleibt erhalten, was sie wie sonst niemand auf den Punkt gebracht haben: das manchmal brutale Lebensgefühl der Nullerjahre.

Bushido hat es weit gebracht. In dieser Woche läuft der Film Zeiten ändern dich an, ein von Bernd Eichinger geschriebenes, von der Lebensgeschichte Bushidos inspiriertes »modernes Märchen«, wie es heißt; besetzt mit Moritz Bleibtreu, Hannelore Elsner, Uwe Ochsenknecht.

Meistgelesen diese Woche:

Bushido ist vom Kinderzimmerschreck zum Popstar aufgestiegen. Bald möchte er ein zweites Buch schreiben, nachdem seine Biografie schon in den Bestsellerlisten gelandet ist: Ein Buch über Frauen soll es werden. Und sogar die CSU flirtet mit dem Gangsterrapper: Horst Seehofer erklärte vor Kurzem, er könne sich gut einen Wahlkampfsong von Bushido vorstellen. Es war ein langer Weg in den deutschen Massengeschmack. Er begann bei einer Plattenfirma, die ihren Betrieb vor ein paar Monaten eingestellt hat: »Aggro Berlin«, einstmals Deutschlands härtestes Label, das Rüpelrapper wie Sido, Bushido, Fler, B-Tight oder Tony D. hervorgebracht hat. Die Geschichte von Aggro Berlin ist gleichzeitig eine Skandal- und eine Erfolgsgeschichte; sie handelt vom Werden und Vergehen einer Jugendkultur, die viel über das letzte Jahrzehnt in Deutschland aussagt.

Die Büroräume von Aggro Berlin gibt es immer noch, in einem Berliner Hinterhofgebäude in Kreuzberg. Sie sehen nicht so aus, als habe man sich hier einmal das Böse ausgedacht: Eine Kaffeemaschine hustet Milchschaum heraus, und auf dem Tisch liegt eine Packung Babywindeln – einer der Mitarbeiter ist Vater geworden.

Von diesem Büro aus haben die Erfinder des deutschen Gangsterrap, die nur Spaiche, Specter und Halil genannt werden wollen und heute Ende dreißig sind, im letzten Jahrzehnt das Land in Atem gehalten: die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, Eltern, die Bild-Zeitung, Jugendforscher. Plötzlich war deutscher Rap nicht mehr niedlich, wie jener der Fantastischen Vier, sondern öffnete ein Fenster in eine Welt, in der es Rütli-Schulen gab und eine neue Unterschicht, die nicht mehr still sein wollte, sondern stolz, laut und schmutzig.

Die Geschichte von Aggro Berlin beginnt an einem Herbsttag in Berlin im Jahre 2001, als der ehemalige Profi-Breakdancer Spaiche, groß, blond, beide Unterarme tätowiert, und der feingliedrige Specter, ein Graffitisprüher und Grafiker, in ihren verbeulten Golf steigen, um ein paar Jungs zu finden. Sie kennen bis dahin nur die Stimmen dieser Jungs, die sie auf einer Musikkassette gehört haben, unten in den kalten Räumen des Plattenladens »Downstairs« in Schöneberg; den betreibt ihr Freund Halil, ein Berliner Deutschtürke.

Im Downstairs können Rapper Kassetten mit selbst gemachter Musik abliefern, und wenn sie Glück haben, kauft sie jemand für ein paar Mark. Eine Kassette ist besonders: Die Musik darauf klingt brutal. Die Jungs rappen über ihre Geschlechtsteile, das Kiffen, das Leben als Sozialfall; sie benutzen Wörter wie »Schlampe« oder »Pussy« wie Kaugummi, ganz nebenbei. Keiner kennt diese Jungs. Nun aber haben Spaiche und Specter einen Tipp bekommen: Sie sollen es im Wedding versuchen, in der Müllerstraße.

Sie finden die Rapper in einer Sozialwohnung ohne Heizung, zu acht, zwischen Sperrmüllmöbeln und vollen Aschenbechern. Dort sitzen sie, ungewaschene Pullis übereinandergezogen gegen die Kälte, Joints im Mund.


»Wir wollen mit euch eine Plattenfirma gründen«, sagten Specter und Spaiche damals. Heute ist einer der Jungs aus der Absteige der zweite große Rap-Star in Deutschland: Sido, der zu Anfang seiner Karriere mit einer Totenkopfmaske auftrat. Bushido, der seine Kassetten auch im Downstairs abgegeben hatte, unterschrieb wenig später bei Aggro Berlin.

Damals, sagt Spaiche, war Aggro eine Familie. Kaum einer der Rapper hatte ein Konto oder eine Krankenversicherung. Specter, Spaiche und Halil verhandelten mit Sozialämtern, legten Steuergelder zurück, und sie buchten am Ende sogar einen kompletten Fahrschulkurs für ihre Rapper.

»Fast jeden Tag saßen wir beieinander und hatten Ideen, bis morgens um acht«, sagt Sido heute. Specter, der Grafiker, lieferte das ästhetische Konzept dazu. Für jeden Rapper dachte er sich eine extreme Werbestrategie aus, wie man sie vom amerikanischen Gangsterrap kennt: Sido wurde zum Maskenmann, Bushido zum gefährlichen Vorstadtkanaken, B-Tight zum frauenfressenden Schwarzen, Fler zum Überdeutschen mit Steinadler auf dem Arm, Tony D. ein bulliger Psycho: »Supermann-Outfits« nennt Specter diese wie im Comic überzeichneten, oft befremdlichen Profile. Er entwarf das Tattoo-Logo an Bushidos Hals wie auch Sidos Maske. Die Plattencover und Specters Videos dazu sahen aus wie eine Mischung aus Comics, Playstation-Spielen und Sex- und Horrorfilmen – also aus allem, was Jugendliche mögen.

Die Aggro-Rapper hauten auf Randgruppen, die Kirche, Frauen, andere Rapper, aber auch auf Hartz IV, saufende Eltern, das Leben als Ausländer; wie selbstverständlich verhandelten sie dabei die prägenden Themen der sogenannten Nullerjahre: Integration, soziale Ungleichheit, Armut, der Moloch Berlin. Sie verhandelten dies in der Sprache, die Jugendliche auf Berliner Kiez-Schulhöfen sprechen. B-Tight, selber halb schwarz, rappte: »Wer hat das Gras weggeraucht – der Neger! Wer haut dir den Penis in den Bauch – der Neger!«, als Anspielung auf Vorurteile gegen Schwarze: Tabubruch und Gesellschaftskritik in einem.

»Wir haben den Grenzgang gepflegt«, sagt Specter. Bald wurden Aggro-Berlin-Veröffentlichungen auf vielen Schulhöfen gehandelt wie heiße Ware: Von den 60 Alben erhielten fünf Goldstatus – allerdings dürfen auch sechs nicht mehr an Jugendliche unter 18 Jahren verkauft werden.

2004 bekam Bushido ein Angebot vom Entertainment-Giganten Universal und beendete seinen Vertrag mithilfe von ein paar Arabern, die er seine »Beschützer« nennt. Mit Sido aber konnte Aggro Berlin als erste unabhängige Hip-Hop-Plattenfirma einen Nummer-eins-Hit platzieren. Bald wurde das Label zum Mittelpunkt einer ganzen Jugendkultur: Von überall her reisten Fans an und hingen im Hof des Büros ab, um auch ein bisschen »aggro« zu sein.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Aggro-Familie zerbröckelt.)

Im Sommer 2007 steht Sidos Album Ich kurz davor, Platinstatus zu erreichen. Doch mit dem Erfolg kommt auch der Vorwurf der Künstler an ihr Label, die Veröffentlichungstermine zögen sich hin. Und auch Aggro Berlin leidet unter illegalen Downloads. Das Label benötigt einen größeren Apparat. Also handelt Aggro Berlin mit Universal, einer der vier größten Plattenfirmen der Welt, eine Beteiligung aus. »Aber man braucht sich nicht in Naivität zu retten«, sagt Specter. »Universal wollte nicht alle unsere Künstler. Da wackelte die Einheit in der Gang.« Für Sido interessieren sie sich besonders. Unmut macht sich breit. Und Sido will sich immer weniger hineinreden lassen. »Der Konsens mit den Künstlern stimmte nicht mehr«, wie Specter es formuliert.

»Es ist nicht von heute auf morgen passiert, dass wir nicht mehr so gut befreundet waren«, sagt Sido, »irgendwann war alles nur noch Business.« Die Familie zerbröckelt. Zudem ist es dem Label bis dahin auch nicht gelungen, einen weiteren Superstar aufzubauen. Auch das Schockkonzept hat sich totgelaufen. »Wir merkten: Das Ding war ausgeschöpft«, sagt Specter. Universal macht Sido schließlich das Angebot, ganz zu ihnen zu wechseln. »Das sind die Teufels. Ich verkaufe meine Seele. Aber ich weiß, woran ich bin. Ich muss nicht Freunden meine Seele verkaufen«, sagt er.

Der Pop von der Straße ist inzwischen ins Internet gewandert: Dort betreiben Spaiche, Specter und Halil den TV-Kanal »Aggro.TV«: In der Halt die Fresse-Staffel etwa tragen Straßen-Rapper aus dem Stegreif ihre Raps vor, was 2,75 Millionen Klicks pro Monat bringt. Dazu haben sie das Grafikbüro »Aggressives Aussehen« gegründet.

Sido hat schon lang die Maske abgelegt und nun auch den Schriftzug, den ihm Specter entworfen hat. Die Filmrechte an seinem Leben hat sich Iris Berbens Sohn Oliver ge-sichert. Heute trägt Sido das Haar ordentlich gescheitelt und manchmal das Hündchen seiner Freundin auf dem Arm. Gerade eben hat er an der Mannheimer Oper in Mozarts Zauberflöte mitgewirkt.

Was bleibt? Gefüllte Konten, zerbrochene Freundschaften. Und auf den Schulhöfen zwischen Detmold und Augsburg benutzen heute viele Jugendliche Wörter wie »Pussy« und »Schlampe«, als wären sie Kaugummi, ganz nebenbei. Auch das Wort »Aggro« ist in der deutschen Sprache angekommen, in Zeitungs- und Internetartikeln: Der neue Lamborghini Gallardo Spyder etwa fahre sich sehr »aggro«, und wenn Victoria Beckhams Sohn Cruz schreit, hat er einen »Aggro-Anfall«.

Vielleicht wird in zwanzig Jahren keiner mehr Musik von Sido, Bushido oder Fler hören. Aggro Berlin als pophistorische Marke, als Klammer dieses Jahrzehnts, als jugendkulturelle Haltung aber wird in zwanzig Jahren mehr über diese Zeit der sozialen Brüche aussagen als eine Band wie Tokio Hotel. Man kann Aggro Berlin als hässlichen Auswurf dieser Zeit betrachten; für ihre aggressive schöpferische Kraft darf man die Macher dieses Labels aber auch bestaunen.

Trotz allem hat Sido sein letztes Album Aggro Berlin genannt. Warum? Er sagt: »Aggro Berlin geht weiter, durch mich und die anderen Künstler. Weil wir alle Aggro Berlin sind.« »Aha«, sagt Spaiche dazu, »wenn alle Aggro Berlin sind, dann sind wir auch alle Sido. Dann kann ich dieses Jahr auch einen Sido-Deoroller rausbringen, oder?«

---
Rapper bauen in ihre Sprache Fehler ein, wie Sido im Zitat oben: "die Teufels" – ein Seitenhieb auf die Grammatik. In diesem Fall blieb Kerstin Greiner der Rotstift der Schlussredaktion jedoch erspart.