Streber in Not

Johannes B. Kerner hat ein Problem: schlechte Quoten. Er behauptet, alles werde gut. Alle anderen sagen, der Zug sei abgefahren. Besuch bei einem, der nicht erkennt, dass seine Zeit vorbei ist.

Wenige Männer in Hamburg sind so gut geschützt wie Johannes Baptist Kerner. Der Weg zu seinem Büro führt an einer Schranke vorbei, die von zwei bewaffneten Polizisten bewacht wird, Zutritt nur nach Ausweiskontrolle und Gesichtsvergleich.

Die Sicherheitsmaßnahmen haben zwar nichts mit der aktuellen Lage von Kerners Sendung zu tun, sondern nur mit dem amerikanischen Konsulat, das gleich neben Kerners Produktionsfirma residiert. Trotzdem kommt es dem Mann zurzeit wohl ganz gelegen, dass er gut abgeschirmt ist. Denn es läuft nicht gut: Seitdem er vom ZDF zu Sat 1 gewechselt ist, schauen ihm nur noch halb so viele Menschen zu wie vorher. Die Quote ist niederschmetternd. Beim ZDF konnte er moderieren, was er wollte: Kochshows, Jahresrückblicke, Unsere Besten und natürlich mehrmals pro Woche seine Talkshow – immer hielt ihm seine Fangemeinde die Stange. Vorbei. »Kerner steht mit dem Rücken zur Wand«, schreibt die Welt. »Der Alles-Richtigmacher macht alles falsch«, urteilt die Berliner Zeitung. Im Zeit-Magazin erklärte er letzte Woche, das werde schon noch, er wolle seinem Sender einen »Quotenerfolg verschaffen«. Aber von Quotenerfolg kann keine Rede sein, im Gegenteil.

Es ist erstaunlich, mit welcher Verve Kerner das Desaster schönredet. Beim ZDF, dem Sender mit den ältesten aller Fernsehzuschauer, galt er als der frische Wind, das jugendliche Zugpferd. Jetzt zieht er seinen neuen Sender nach unten. Mal erreicht er sieben, mal neun Prozent der Zuschauer, der Senderschnitt liegt bei elf Prozent. Kürzlich, immerhin, schaffte Kerner 13 Prozent – davor hatten allerdings 25 Prozent den Film Der goldene Kompass gesehen. Das heißt rein rechnerisch: Jeder zweite Zuschauer schaltet ungerührt weg, sobald Kerner auf dem Bildschirm auftaucht. Kerner war nie besonders beliebt bei den Fernsehkritikern, aber er konnte immer auf seine Einschaltquoten verweisen. Und jetzt?

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»Mir geht’s gut, mir geht’s sogar … recht gut«, sagt Kerner recht zögerlich. »Ich stehe nicht mit dem Rücken zur Wand, das sehen Sie doch, sondern sitze mit dem Rücken zur Sonne.« Er grinst und deutet mit der Hand zum Fenster, hinter ihm hängt die amerikanische Flagge müde auf dem Dach des Konsulats, daneben dümpelt die Außenalster. Kerner sitzt in seinem Büro an einem schweren dunklen Holztisch, vor sich eine Plastikflasche Mineralwasser, an den Wänden selbst gemalte Bilder seiner vier Kinder.

Heile Welt?

Eigentlich wolle er gar nicht über Zuschauerzahlen sprechen, denn »auch für mich gilt der ewige Fernsehsatz: Wer seine Quote erklären muss, hat schon verloren«. Sagt er und schiebt Erklärungen für die niedrigen Quoten hinterher: »Die Sendung wird jetzt von Werbung unterbrochen, keine Überraschung beim Privatfernsehen, da schalten Zuschauer um, auch das ist nicht neu.« Aber dass gleich jeder Zweite wegschaltet? Kein Problem, alles ganz logisch, sagt er: »Nach jedem Spielfilm gibt es einen kompletten Zuschaueraustausch, das ist halt so.« Man müsse erst langsam ein Gefühl für die Sendung kriegen, er selbst, aber auch die Zuschauer.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der ehemalige Chef eines Privatsenders, der Kerner gut kennt, aber lieber anonym bleiben will, meint lapidar: »Die Quote sieht aus wie in Stein gemeißelt. Erfahrungsgemäß geht da nichts mehr nach oben.«)


(Das SZ-Magazin berichtet auch über Johannes B. Kerner, wenn es gut bei ihm läuft. Hier das Titelbild von 1997 - Kerner war 33 Jahre alt und gerade zum ZDF gewechselt)

»Ich bin überzeugt, wir schaffen das«, macht er sich selbst Mut. Und: »Wir machen jetzt hier nicht auf Obama, von wegen: ›Yes we can‹, aber ein bisschen Bob der Baumeister darf es schon sein: ›Yo, wir schaffen das‹.«

Der ehemalige Chef eines Privatsenders, der Kerner gut kennt, aber lieber anonym bleiben will, meint lapidar: »Die Quote sieht aus wie in Stein gemeißelt. Erfahrungsgemäß geht da nichts mehr nach oben.«

Vielleicht war es von Anfang an ein Missverständnis. Beim ZDF hatte Kerner Zuschauer, die Entspannung suchten und den Tag mit ein bisschen Geplauder ausklingen lassen wollten. Unter seinen Mitarbeitern wurde gescherzt: Man wisse ja nie, wie viele die Sendung tatsächlich gesehen hatten – und bei wie vielen Zuschauern der Fernseher nur lief, weil sie während der Sendung das Zeitliche gesegnet hatten. In diesem Umfeld kam ein so netter junger Mann gerade recht, einer, der seine Gäste nie mit bösen Fragen verstörte, sondern immer darauf achtete, dass es alle gemütlich hatten im Wohlfühlstudio.

Die Bunte nannte ihn einmal den »Traum aller Schwiegermütter«. Das sollte spöttisch sein, benannte aber eigentlich das, was Kerner genau richtig machte: sein Publikum waren ja die Schwiegermütter. »Das ZDF ist ein elektronisches Altersheim, da passte er gut hin«, sagt der frühere RTL-Chef Helmut Thoma. Sat 1 dagegen sei »eine viel jüngere Umgebung, ein Familiensender, die Leute interessieren sich nicht für ihn und sein Talk-Format«. Und die Fans aus ZDF-Zeiten folgen ihrem Johannes leider auch nicht einfach zu Sat 1. Die Zuschauer sind dem Sender treu, nicht dem Moderator – diese Lektion ist so alt wie das Privatfern-sehen.

Doch wie es scheint, glaubten die Sat 1-Verantwortlichen und auch Kerner selbst, für ihn gelte diese Regel nicht. Sonst hätten sie sich vielleicht ein bisschen mehr Zeit genommen, um das Konzept der neuen Sendung auszuarbeiten. Tatsächlich war Kerner nur wenige Tage nach seinem Abschied vom ZDF bei Sat 1 schon wieder auf Sendung – ein Fehler, das immerhin räumt Kerner heute ein.

Er wollte ganz neu anfangen bei Sat 1, hatte angekündigt, künftig journalistischer zu arbeiten. Ob er dabei wirklich an die Themen dachte, die er nun Woche für Woche anmoderieren muss? »Das miese Geschäft mit dem Gold – Wie Goldhändler kleine Kunden abzocken«, »Klirrende Kälte und Knochenbrüche – das fröhliche Schneetreiben kann schnell zum Verhängnis werden«, »Schlank durch die Weihnachtstage – Fette Ente und trotzdem abnehmen!«

Beim ZDF hatte Kerner Bill Clinton, Helmut Kohl und die Kanzlerin in seiner Sendung. Heute empfängt er »Deutschlands dreistesten Arbeitslosen«, den die Bild-Zeitung gerade entdeckt hat. Arno Dübel statt Angela Merkel. Bei früheren Mitarbeitern und Weggefährten von Kerner hält sich die Häme in Grenzen, die meisten finden seinen Absturz eher tragisch. Er selbst verschränkt die Hände hinter dem Kopf und versucht sich in Spott: »Das ist lustig, dass ungenannte Branchen-Insider dies und jenes sagen, ohne sich nennen zu lassen. Das ist ja der besonders mutige Weg.« Ob sie recht haben, ob das Wort vom Absturz schmerzt, darüber sagt er nichts.

Er versucht das alles einfach wegzugrinsen. Wenn man Kerner so reden hört, wenn man sieht, wie er da in seinem Büro sitzt und lächelt und gestikuliert – dann scheint er sich in diesem Moment durchaus selbst zu glauben. Eine Form von Autosuggestion. Er tut, als sei er die Ruhe selbst. Dabei ist jedem, der ihn kennt, klar, wie sehr ihn die schlechten Quoten umtreiben. Frühere Kollegen beim ZDF berichten, Kerner habe seinerzeit wegen jeder Kleinigkeit sofort zum Hörer gegriffen, zum Beispiel wenn er der Ansicht war, dass zu wenige Trailer für seine nächste Sendung gelaufen seien.

Journalisten wählte er auf der Stelle an, wenn ihm eine Kritik unbotmäßig erschien. Und wenn er zeitgleich mit der ARD-Talkerin Sandra Maischberger sendete, habe er anschließend akribisch die Quoten verglichen. Und als Veronica Ferres Ende des letzten Jahres kurzfristig beim Sat 1-Jahresrückblick absagte, um bei der prestigeträchtigeren Konkurrenzveranstaltung des ZDF mit Thomas Gottschalk aufzutauchen, ließ Kerner sie umgehend per SMS wissen, wie enttäuscht er von ihr sei. Einer, der lange mit ihm zusammengearbeitet hat, bezeichnet Kerner als Streber, dem der Ehrgeiz aus jeder Pore dringe.

Man kann sich lang mit Kerner unterhalten, er bleibt dabei: alles nicht so schlimm, wird schon. Dabei sind seine Quoten nicht nur mau, sie sind eine Katastrophe. Aber von ein paar düsteren Wolken lässt sich Goretex-Johannes nicht umwerfen, er lässt alles an sich abperlen. Diese überzogen gute Laune erinnert an den Kerner, der in seiner Talkshow stets so überbordendes Interesse an allem demonstriert, dass es schwerfällt, ihm zu glauben: »Mich interessiert Ihre Geschichte wirklich!«; »Ich nehme mir jetzt Zeit für Sie«; »Erzählen Sie ganz offen«.

Bei ihm ist eine Antwort mindestens eine ganz, ganz ehrliche Antwort. Eine Frage ist mindestens eine ganz, ganz schonungslose Frage, ein Schicksal ein ganz, ganz schweres Schicksal. Vor Jahren wurde er in einem Interview gefragt, warum er seine Ehe mehr als ein Jahr lang geheim gehalten hatte. Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Soll ich die Wahrheit sagen?« Die Wahrheit war dann: »Wir wollten was für uns haben.« Schon in Ordnung – aber dass er erst mal das große Wort von der Wahrheit bemüht, obwohl dann nur eine ganz kleine Enthüllung folgt, das ist reinster Kerner.


Er hat dafür oft eine auf den Deckel gekriegt, aber wenn man ihn jetzt danach fragt, sagt Kerner nur, er nehme Kritiken gar nicht so genau wahr. Und dann rattert er wie vom Teleprompter abgelesen die Namen seiner Kritiker herunter. Er weiß bei jedem Zitat genau, wo es stand. Im Zweifelsfall natürlich »nur« auf der Internetseite einer Zeitung: »Vermutlich ist es so, dass da spätabends irgendein Praktikant die Sendung anschaut, damit dann eine TV-Kritik im Internet steht.« Das geht schnell, gerade noch sagt er, völlig egal, dann haut er mit größtmöglicher Verachtung drauf. Wenn Menschen sich so verhalten, zeugt das immer von verwundeten Seelen.

Müsste Kerner sich selbst interviewen, hätte er in diesen Tagen Schwierigkeiten, eine angenehme Gesprächsatmosphäre herzustellen. Denn wenn er auch vor der Kamera immer schön leutselig rüberkommt – wenn es um ihn selbst geht, ist er ein extrem misstrau-ischer Mensch. Dafür mag es Gründe geben, schließlich haben sich die Kritiker seit Jahren auf ihn eingeschossen. Andererseits blockt er im Gespräch selbst die einfachsten Fragen ab, etwa die nach Guido Bolten. Der war bis vor Kurzem Sat 1-Chef, immerhin der Mann, der ihn zu Sat 1 holte. Mittlerweile hat er seinen Job verloren, viele meinen, das sei auch auf Kerners Quoten zurückzuführen.

Wie ist also das Verhältnis zu Bolten heute? »Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie das wirklich interessiert!«, faucht Kerner da plötzlich. Und dann betont er die Wörter einzeln, indem er mit dem Zeigefinger auf den Tisch haut: »Ich glaube, Sie wollen einfach hören, dass ich ihm jetzt auf die Schuhe spucke!« Aber das macht er natürlich nicht, denn Kerner sagt über Kerner, er sei kein konfrontativer Mensch.

Dabei hätte er allen Grund, sich über seinen früheren Chef, ja überhaupt den ganzen Sender zu beschweren: Erst haben sie ihn auf den Montagabend geschoben, er selber wollte das eigentlich nicht.

Nach drei gefloppten Sendungen wanderte das Format auf den Donnerstag. Jetzt werden vor seiner Sendung Spielfilme ausgestrahlt. Dabei gibt es eine Grundregel, die jeder Programmchef eines Privatsenders kennen sollte: Im Abendprogramm versucht man idealerweise, die Zuschauer möglichst lang mit ähnlichem Programm am Sender zu halten. Vor Stern TV, dem RTL-Pendant von Kerners Sendung, setzen die Kölner bevorzugt Doku-Soaps wie Teenager außer Kontrolle oder die Super Nanny, da bleibt alles auf einer ähnlichen Temperatur, und der Zuschauer muss keine Brüche erwarten.

Neben diesen handwerklichen Defiziten hat Sat 1 auch ein Zuschauerproblem: Vor etwa zwei Jahren gab es ein Treffen von Produzenten, die den Sender mit Programm beliefern. Ein Teilnehmer erinnert sich lebhaft an einen Film, in dem der durchschnittliche Sat 1-Zuschauer vorgestellt wurde: »Die hatten acht Familien beim Fernsehkonsum beobachtet. Heraus kam, der durchschnittliche Sat 1-Zuschauer glotzt sieben Stunden am Tag, hat überall in der Wohnung Fernsehgeräte verteilt, im Wohnzimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer und der Küche. Der Fernseher läuft praktisch immer: beim Essen, Hausaufgabenmachen, beim Vögeln.« Nicht gerade das Publikum, das sich die Werbetreibenden wünschen. Und da mittendrin sitzt jetzt Kerner.

Der Musterschüler, der keine Einser mehr schreibt. Kerner sagt wacker: »Wir wollen neue Zuschauer für Sat 1 holen! Das sehen wir als unsere Aufgabe an.« Wie das funktionieren soll, verrät er nicht. Bleibt die Frage, warum er das ZDF überhaupt verlassen hat. In Mainz sagen die einen: Verletzte Eitelkeit – das ZDF wollte ihm weniger Sendezeit einräumen. Thomas Bellut, der ZDF-Programmdirektor, deutet an, es habe am Geld gelegen, Kerners Honorarforderungen seien nicht zu erfüllen gewesen. Dazu kam ein neuer hoch dotierter Vertrag mit der Telekom, für die er wirbt und im Internet die T-Home-Fußballsendung Liga Total präsentiert.

Das wäre beim ZDF kaum vorstellbar gewesen, dort musste Kerner schon öffentlich Prügel einstecken, weil er für den Börsengang der Fluglinie Air Berlin warb. »Ein Journalist wirbt nicht«, zürnte damals Nikolaus Brender, ZDF-Chefredakteur und damit auch Vorgesetzter von Johannes B. Kerner.
Kerner selbst zuckt mit den Schultern und sagt: »Es war einfach mal gut. Nach zwölf Jahren hatte sich das Verhältnis zum ZDF etwas verkrustet. Es war für mich an der Zeit zu spüren, dass da eine Beziehung zu Ende geht, im Grunde genommen wie in einer Partnerschaft. Da gibt’s Auseinandersetzungen, die es früher nicht gegeben hat, und dann merkt man, das endet nicht gut.«


Und wie wird es nun enden, mit Sat 1?

Helmut Thoma sagt: »Am besten wäre, er würde jetzt eine Zeit lang aussetzen. Und sich überlegen, wie es weitergehen soll.« In der Fernsehbranche gibt es allerdings auch ein Motto, das lautet: »Wir senden, bis es euch gefällt.« Gerade Talksendungen benötigten manchmal bis zu einem Jahr, ehe sie sich etabliert hätten, heißt es. Kerner selbst sagt, er habe so ein Tal schon einmal durchschritten, als er vor gut zwölf Jahren von Sat 1 zum ZDF wechselte und die Quoten erst mal in den Keller rauschten. Verglichen damit sei seine heutige Situation nicht weiter beunruhigend.

Vor der breiten Fensterfront seines Büros stehen Bilder, Erinnerungsfotos, Kerner auf der Chinesischen Mauer, ein Foto vom Mauerfall. Im Regal die dicken Gästebücher seiner Sendung, Zeugnisse besserer Zeiten. Daneben eine Riesenausgabe der Bibel. Vielleicht wird ja wirklich alles besser, wenn Kerner einfach nur lang genug daran glaubt.

Fotos: Albrecht Fuchs