Halb so wild

Ist uns eigentlich noch irgendetwas peinlich? Oder darf längst jeder alles, und alles ist längst egal? Über die merkwürdige Veränderung eines Gefühls, das uns einst vor Scham zittern ließ.

Ob der entscheidende Dammbruch die öffentliche Erörterung von Bill Clintons Spuren auf Monica Lewinskys Kleid war, die erste Big Brother-Staffel oder die Paparazzi-Fotos von Britney Spears ohne Höschen, müssen zukünftige Kulturarchäologen noch ermitteln.

An einem jedoch werden sie nicht zweifeln: Irgendwann um die Jahrtausendwende fielen die Schutzwälle, mit denen die Massenmedien die Menschen vor Peinlichkeiten bewahrten – sowohl die Menschen, über die sie berichten, als auch uns, ihr Publikum. Seitdem gucken sie nicht mehr taktvoll weg, sondern hin. Auf die Schwitzflecken der Kanzlerin, auf die Cellulitedellen und Operationsnarben von Hollywoodstars, aber auch auf die unsäglichen Wohnungen, Outfits und Manieren ganz gewöhnlicher Leute.

Längst bestreiten manche Fernsehsender ihr halbes Programm mit Sendungen, in denen vorgeführt wird, wie blamabel sich die niederen Stände beim Singen, Lieben und Kindererziehen anstellen; und die einzig wirklich erfolgreichen Zeitschriftengründungen des letzten Jahrzehnts sind die People-Magazine, die auf Glamour verzichten und von kaum etwas anderem erzählen als davon, wie peinlich sich Prominente benehmen.

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Lange konnte man das alles für ein billiges Vergnügen von Plebejern halten. Doch das war eine Illusion. Wenn der Anlass es hergibt, stehen neuerdings auch in den gesitteteren Blättern Geschichten, die einem kein unangenehmes Detail ersparen: Im Spiegel berichtet der Schriftsteller Bodo Kirchhoff in aller Ausführlichkeit darüber, wie es sich anfühlte, als sich ein Lehrermund über seinen Kinderpenis stülpte; in der Welt erzählt der österreichische Autor Josef Haslinger von den Ejakulationen und Liebesbriefen seiner pädophilen Erzieher im Internat.

Bis vor Kurzem haben sich Menschen mit solchen Erfahrungen oft nicht einmal ihren engsten Freunden anvertraut. Nun erzählen sie es den Zeitungen, die es ungezähmt unter die Leute bringen. Nicht weil sie nicht wüssten, wie peinlich das alles ist. Sondern weil es so entsetzlich peinlich ist. Genau darum geht es ja. Es ist, als könnte nur die Peinlichkeit die Echtheit der erinnerten Qualen beglaubigen.

Es ist ja nicht so, dass die Peinlichkeit ihre Macht verloren hätte, bloß weil wir immer öfter die Gelegenheit erhalten, zu ihrem Zeugen zu werden. Um sie kennenzulernen, genügen immer noch die simpelsten Selbstversuche. Die falsche Kleidung am falschen Ort, ein vulgärer Musikgeschmack unter Kultivierten, Übergewicht in einem der teureren Fitnessstudios lassen den Mechanismus verlässlich anspringen: die abschätzigen Blicke, das betretene Schweigen, der Wunsch, im Boden zu versinken.

Und sobald man eine beliebige Frauenzeitschrift aufschlägt, kommt man leicht zur Überzeugung, dass man sich in unseren vermeintlich liberalen Zeiten mehr Peinlichkeiten denn je zuschulden kommen lassen kann: all die Garderoben-, Shopping- und Kommunikationsfettnäpfchen, vor denen man unablässig gewarnt wird, bis man sich wirklich für eine Zumutung hält, wenn man nicht auf die richtige Weise geschminkt, dekolletiert, enthaart und versaut ist.

Peinlichkeit ist der Verstoß gegen die Konventionen des Benimms, gegen die Manieren und Verhaltensnormen, gegen die Codes, von denen festgelegt wird, wer dazugehört und wer sich lieber wieder verdrücken sollte, auch wenn es ihm nur mit einem müden Seufzer bedeutet wird oder dem Abwenden des Blicks. Diese Codes werden subtiler. Man könnte auch
sagen: kleinlicher.

Was sich allerdings zu verändern begonnen hat, ist der öffentliche Umgang mit Peinlichkeiten. Sie werden nicht mehr verschwiegen, wie es ehedem nicht bloß der Takt gebot, sondern auch die Angst, von ihnen angesteckt zu werden, sobald man sich zu sehr auf sie einließ. Von dieser Angst haben die Medien sich frei gemacht. Inzwischen gehen sie mit Peinlichkeiten so um, wie Wissenschaftler es mit Laborratten halten: Man beobachtet sie, protokolliert ihr Verhalten, dechiffriert dessen Symptome.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Peinlichkeit kommt sozusagen das Moralische abhanden, das sie bis vor Kurzem noch hatte und sie mit der Scham verband)

In der Distanz des Beobachtens kann man die Peinlichkeiten anderer sogar genießen. Auch deswegen, weil sie einen darin bestätigen, selbst das viel feinere Sensorium zu haben.

Wie es möglich wurde, dass etwas so Unangenehmes wie die Peinlichkeit plötzlich eine Unterhaltung sein kann, erfährt man von der Soziologie. Sie erzählt davon, wie ausdifferenziert unsere Gesellschaft, wie heterogen und zentrumslos unsere Kultur mittlerweile ist, wie nebeneinanderher die Welten existieren, in denen wir alle uns bewegen.

Bis vor nicht allzu langer Zeit galt, von den Feinheiten abgesehen, derselbe Verhaltenskodex. Man wusste, wie man aufzutreten hatte, gleichgültig, mit wem man Umgang pflegte. Man konnte sich eleganter, geschmeidiger, ungeschickter, grober benehmen, aber die Regeln, denen man sich fügte (und gegen die man verstoßen konnte), waren für alle prinzipiell die gleichen.

Das hat sich gründlich geändert. Es reicht nicht mehr aus, halbwegs gesittet und einigermaßen anmutig zu sein, um nicht doch abgesnobbt werden zu können. Und es gibt kaum noch einheitliche Codes, deren Beherrschung den Menschen garantiert, dazuzugehören. Stattdessen nur noch eine Unzahl von Situationen und Umgebungen, in denen man sich bewähren muss.

Das sorgt einerseits dafür, dass einem nun sehr viel mehr Peinlichkeiten unterlaufen können als zu den Zeiten, in denen es noch genügte, ein paar Grundregeln des Verhaltens zu beherzigen. Andererseits macht es Peinlichkeiten leichter erträglich: Man stirbt nicht mehr gleich den sozialen Tod, wenn man sich peinlich benimmt, sondern wechselt die Umgebung.

Und weil jeder Mensch auch von jedem anderen weiß, in wie viele Fettnäpfchen er treten kann, wird man miteinander gnädiger. Man bemerkt die Peinlichkeiten der anderen zwar, aber sieht sie ihnen leichter nach – wenn man denn will. Mitunter genießt man sie sogar, statt sich von ihnen belästigt zu fühlen.

Der Peinlichkeit kommt sozusagen das Moralische abhanden, das sie bis vor Kurzem noch hatte und sie mit der Scham verband. Sie wird etwas Ästhetisches, ein Spektakel, über das man sich lustig machen oder echauffieren kann. Beides tut man ja gern.

So kommt es, dass man es sich mittlerweile auch leisten kann, absichtlich peinlich zu sein. Die Bereitschaft, den Gesichtsverlust zu riskieren, gehört neuerdings sogar zum Tugendkatalog echter Kerle. Deswegen ist es Thilo Sarrazin oder Guido Westerwelle egal, wie peinlich berührt von ihrem Habitus jene Menschen sind, die noch ganz traditionalistisch an die Würde des Amtes und an das rechte Maß glauben.

Sie wissen ja: Die Erregung, die von ihnen provoziert wird, sorgt auch bei genügend Leuten dafür, dass sie als Rebellen wahrgenommen werden – gegen einen Mainstream, der es sich in seiner eigenen Manierlichkeit gemütlich gemacht hat. »Peinlichkeit ist nicht mehr ohne Weiteres peinlich, sie wird goutiert«, sagt der Soziologe Peter Fuchs: »Konventionsbrüche werden, wenn man so will, Konvention.«

Längst gehört die souveräne Übertretung von Peinlichkeitsschwellen zum Ego-Marketing. Wer sich danebenbenimmt, ist authentisch. Wer peinlich ist und dazu steht, ist immerhin noch so etwas wie ein Ich – statt bloß ein Opportunist, der sich stets so benimmt, wie die Schablonen es wollen. Am virtuosesten beherrschen dieses Spiel die Avantgarde-Egos, die per Facebook und Twitter die Welt alles wissen lassen, was lange als nicht öffentlichkeitsfähig galt: den aktuellen Beziehungsstatus, das neue Outfit, die Partyabstürze und das ganze Geblubbere, das einem durchs Gehirn zieht.

Die Alten, noch im Glauben gefangen, dass man sich mit seinen Lebensäußerungen zurückhalten sollte, sind darüber entsetzt. Warum erzählen die das alles? Ahnen die Kids nicht, dass ihnen das schaden könnte, ihrem Ruf, ihren Zukunftsaussichten?

Natürlich wissen sie es. Es ist ihnen bloß halbwegs egal geworden, dass jeder jeden immer wieder für peinlich hält. Vielleicht ist das ja die richtige Haltung: das ewige Distinktionsgewese an sich abperlen zu lassen. Kann gut sein, dass es stimmt, was die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Pontzen meint: dass das »Gefühl für Peinlichkeit durch konsequente Abnutzung derart abnimmt, dass es in absehbarer Zeit vielleicht gänzlich historisch geworden ist«.

Es ist ja nicht so, dass die Peinlichkeit ihre Macht verloren hätte, bloß weil wir immer öfter die Gelegenheit erhalten, zu ihrem Zeugen zu werden

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Peter Praschl, 50, empfiehlt Menschen, die auch bei der Lektüre eines Buches nicht auf Statusmeldungen verzichten wollen, Thomas Manns Tagebücher. In denen finden sich auch sehr intime Bekenntnisse: "Meine eigenen Darmverhältnisse sehr ungehörig" zum Beispiel. Oder "zur Nacht, nach einigem Schlaf, masturbiert und zweites Sekonal genommen".

Foto: Cobris