Auf verlorenem Huf

Erst erlebte Irland einen beispiellosen Aufschwung - dann machte die Finanzkrise alles zunichte. Der Effekt ist auf den Straßen der Insel zu sehen: Die Iren setzen Tausende von Pferden aus, die sie sich in den guten Zeiten angeschafft haben. Was wird jetzt aus den Tieren?

Die beiden Hengste liefen eines Morgens früh in Drogheda, im County Louth, nördlich von Dublin, auf einem Stück Brachland gleich neben der Autobahn M1. Ihre Körper ausgebrannt, aufgezehrt, aus kaum mehr bestehend als struppigem Fell, Haut und Knochen. Kein Gramm Fett mehr auf ihren Rippen. Keine Muskelfaser über ihren beinahe durch die dünne Hauthülle stoßenden Hüftspitzen und entlang der Wirbelsäule, die als scharfer, gezackter Grat hoch aus ihren Rücken stand. Kein Eigentümer. Und niemand, der etwas über die Herkunft der Hengste wusste oder wissen wollte. »Dieses Stück Brachland ist offenbar sehr beliebt, um Pferde darauf auszusetzen«, sagt Cathy Griffin. »Die ISPCA hat schon einige entlang der M1 eingesammelt.« Griffin, 34, arbeitet seit vier Jahren für die Irish Society for the Prevention of Cruelty to Animals, der irischen Gesellschaft gegen an Tieren verübter Grausamkeit. Sie ist zuständig für die Pferde. Für die misshandelten, vernachlässigten, für die ausgesetzten. Über die vergangenen beiden Jahre wurden es mehr und mehr ausgesetzte. Sie laufen an Autobahnen und Ausfallstraßen, zwischen Siedlungshäusern und Wohnblöcken, in Parks und in den Wäldern. Sie stehen unvermittelt auf Feldern und Weiden. Meist in der Nacht im Anhänger hergefahren, herausgetrieben und dem möglichen Tod durch Verhungern, Verdursten oder durch Unfälle überlassen. Die in ganz Irland ausgesetzten Pferde sind ein nationales Problem, die Zeitungen und das Fernsehen berichten regelmäßig darüber.

Nach Schätzungen der ISPCA in Dublin sind bislang 20 000 Pferde von ihren Besitzern ausgesetzt oder zurückgelassen worden. Reinrassige Irish Draughts darunter, die schweren irischen Zugpferde, und schwarz- und braun-weiß gescheckte Tinkers mit ihren zottigen Beinen, feingliedrige Connemara-, und zierliche Welsh- und Shetland-Ponys. In der Mehrzahl aber sind es hochblütige Rennpferde, die herrenlos über die Insel laufen. In den Jahren plötzlichen Wohlstands von vielen Ahnungslosen gekauft, in der Hoffnung, ein noch schnelleres, größeres Geld auf der Rennbahn und über die Wettbüros zu machen, sind die Pferde heute, in den Abgründen der Rezession, ein offensichtlicher Wahnsinn, den sich kaum einer leisten kann und sich keiner mehr leisten will.

Mit ihrem hohen Futterverbrauch, dem feinen Fell und der dünnen Haut sind Vollblüter die anspruchsvollste unter den Pferderassen, die teuerste in Anschaffung und Unterhalt sind sie auch. Sie sind ein Kostenfaktor, der keinen Gewinn mehr bringt. So kommt es, dass entlang der irischen Straßen 30 000-Euro-Pferde verhungern.

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Die beiden Hengste, namenlos, liefen den Pferdeschützern davon, an der M1 entlang, parallel zu den rasenden, hupenden Autos und den Lkws. Der Hellbraune rannte, ohne sich umzudrehen, immer so weit, bis er die Distanz zwischen sich und den Menschen wieder als sicher ein-schätzte. Der Dunkelbraune wandte ab und an seinen Kopf und drohte den Verfolgern mit flachen Ohren und blanken Zähnen.

Die Tierschützer folgten ihnen im Jeep, sie trieben sie vor sich her, Kilometer um Kilometer, bis nahe an den Tod durch Erschöpfung. Erst dann ließen die Pferde sich schweißnass und zitternd in den Anhänger drängen. »Aber schreiben Sie das vielleicht besser nicht«, hatte Cathy Griffin gesagt. »Es ist kein schönes Bild.« Es fügt sich nicht in die Vorstellung von den sanftmütigen Rettern und der dankbaren Kreatur.

Aber es ist wahr: Die dankbare Kreatur gibt es nicht, und ein Übermaß an Sanftmut kann tödlich sein. Für das Einsammeln der ausgesetzten, dem Hungertod nahen Pferde braucht es mehr als nur Liebe. Um sie für ein mögliches neues Zuhause tauglich zu machen, erst recht. 2000 Euro gibt die ISPCA durchschnittlich für jedes aufgenommene, aufgepäppelte Pferd bis zu seiner möglichen Vermittlung aus. Für Futter, Tierarzt, Schmied und die tägliche Pflege. Die Gesellschaft lebt von einem jährlichen 110 000-Euro-Zuschuss aus dem Landwirtschaftsamt und von Spendengeldern. Dreißig Pferde hat sie im vergangenen Jahr aufnehmen können. 16 davon konnte sie vermitteln, sieben mussten getötet werden.

Früher haben sie die Pferde, denen bei allem Willen nicht mehr zu helfen war, einschläfern lassen. Achtzig Milligramm Natrium-Pentobarbital pro Kilogramm Körpergewicht, in die Vene gespritzt, lähmen das Atemzentrum. Der Austausch von Kohlensäure und Sauerstoff in der Lunge wird gestoppt. Das Blut übersäuert. Es ist das gleiche Mittel, mit dem Schweizer Sterbehelfer todkranken Menschen aus dem Leben helfen. Mitunter versagt es, bei Menschen und Pferden. Dann stirbt der Mensch über drei Tage statt über die übliche halbe Stunde. Und das Pferd, auf der Seite liegend, galoppiert wild im Leeren. Schlägt hart seinen Kopf auf den Boden. Wieder. Und wieder. Einmal, sagt Cathy, schlug eine sterbende Stute sich so das Auge aus. Seither erschießen sie die Pferde.

Die drei Ponys aus Edenderry zum Beispiel, deren Hufe so lang gewachsen waren, dass die Hufe des einen sich wie die Spitze eines orientalischen Pantoffels hinauf- und zurückwölbten, bis tief in das Fesselbein, Fell und Haut durchbohrend. Das zweite lief auf hoch und höher gewachsenen Hufen wie auf zu hohen Hacken.

Auf YouTube hat Cathy ein Video von den Ponys eingestellt. Man sieht, wie die beiden auf ihren verkrümmten Füßen behutsam aus dem Stall klackern. Wie das Pony auf seinen Stöckelhufen und durch deren unkontrolliertes Wuchern seltsam verdrehten Beinen sich müht, die Balance zu wahren, einknickt, sich zurück auf die Stöckel stemmt, weiter schwankt. Man sieht: das Lauftier Pferd, das nicht mehr laufen kann. Das nur noch mit Not vorwärts strauchelt und stolpert und stürzt. Man sieht den Schmerz, den die Anstrengung ihm bereitet. Und man begreift nicht: Wie blieben seine Besitzer von dieser Jämmerlichkeit so lange unberührt?

Die Ponys waren nicht ausgesetzt worden. Sie lebten in der Obhut einer Familie im County Kildare im Geldgürtel Dublins. Sie verkamen in einem Stall, zugehörig zu einem grauen Herrenhaus, umgeben von weitem, gepflegtesten Grün. Den Tierschutzinspektoren, die dann doch endlich jemand zu Hilfe gerufen hatte, öffnete eine scheue Dame und fragte: »ISPCA, nicht wahr? Ich habe sie schon seit einiger Zeit erwartet.« Man versteht es nicht, sagt Cathy Griffin.

Diese Gleichgültigkeit, woher kommt die? Von der katholischen Kirche, flucht Griffin. »Ich gebe vor allem der Kirche die Schuld, diesen Priestern, die den Tieren offiziell eine Seele und damit das Empfinden von Leid und Kummer absprechen.« In den Countys, die noch heute gebeizt sind mit Katholizismus, sei die Grausamkeit am Größten. Der Zusammenhalt auch. Kommen die Tierschutzinspektoren und fragen: »Wem gehören die drei mageren Pferde auf der Wiese da hinten?«, antworten die Bauern mit Achselzucken. Niemand weiß etwas, keiner hat etwas gesehen.

Die Pferde standen eines Morgens plötzlich da. Einfach so. Muss einer ausgesetzt haben. Das sagt auch der Bauer, dem die Wiese gehört. Und damit, so nehmen die Inspektoren an, auch die drei mageren Pferde. »Nein, meine Pferde sind diese drei nicht. Mir gehören nur die beiden, die gut gefüttert sind.« Und seine Bauernfreunde stehen da und nicken. Oder schweigen. Das ist das Erbe der britischen Herrschaft, sagt Cathy Griffin. 800 Jahre war das Gesetz, war jede Uniform gleichbedeutend mit einem »fuckin’ Brit«, gegen die hielten die Iren zusammen, denen sagten sie nichts, unter welchem Umstand auch immer. »Das sitzt drin. Dagegen kommen wir nicht an.« Die Briten und die katholische Kirche hätten die Insel verdorben, sagt Cathy Griffin, Hand in Hand, wo doch beide eine gegenseitige Feindschaft für sich in Anspruch nahmen.

Die beiden Hengste, die jetzt Prince und Morgan heißen, leben noch in den Ställen der ISPCA. Sie zählen zu den sieben restlichen Pferden des vergangenen Jahres, den unvermittelbaren. Prince läuft den Menschen noch immer davon, so weit er in seinem Paddock kann. Morgan, der Dunkelbraune, legt noch immer die Ohren flach und die Zähne blank. Ein halbes Jahr nach seiner Rettung. Den Helfern, unterwegs auf den Straßen, um immer neue Pferde zu retten, bleibt für die bereits Geretteten nicht genug Zeit. Viel länger wird das Komitee der ISPCA Cathy Griffin den Unterhalt der beiden Hengste nicht mehr gestatten. Es irren noch so viele Pferde über die Insel.
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Ein Video mit drei verwahrlosten Ponys, die in Obhut genommen wurden, sehen Sie hier. Wer an die Tierschutzorganisationen ISPCA spenden oder gar ein herrenloses Pferd aus Irland aufnehmen möchte, findet die Kontaktdaten unter www.ispca.ie.

Fotos: Getty