Da legst di nieder

Am Strand sind alle Menschen gleich. Oder doch nicht? Aus der Möwenperspektive ergibt sich ein ganz anderes Bild: Wer Geld hat, liebt die Ordnung. Das Volk dagegen lässt sich gehen.

Am Strand sind alle gleich. Mein Haus, mein Auto, mein Pferd bleiben daheim, wir legen Kleidung, Rituale und Zeitgefühl ab, »unter der Schreckensherrschaft der Sonne«, wie der Strandspezialist Thomas Mann das nannte, schmelzen alle Unterschiede dahin. Das Meer macht uns leer, der Strand gibt uns die Erlaubnis, ganze Wochen im Liegen zu verbringen, wie sonst nur bei schwerer Grippe. Ähnlich fiebrig glüht man hier in göttlichem Dämmerzustand, das Hirn auf Halbmast. Strand, oh Strand, wir sind von dir begeistert. Und doch, wir können es nicht lassen zu vergleichen. Dazu ist die Situation einfach zu intim: Tag für Tag fast nackt neben denselben Leuten auf diesem großen Bett aus Sand zu liegen, das lässt einen nicht zur Ruhe kommen. Zwar wird Kindern ein scharfes »Guck da nicht so rüber!« zugezischt, doch man selbst lässt gut getarnt hinter der Sonnenbrille die Blicke über die anderen Körper gleiten auf der Suche nach identifizierenden Indizien. Man freut sich über jeden herübergewehten Gesprächsfetzen, der Aufschluss über die Herkunft der Badelakennachbarn gibt. Unter dem Strand liegt das harte Pflaster der Realität, des Lebens zu Hause.

Und so zerbröselt der Mythos vom demokratischen Nivellierungspotenzial des Paradieses. Auch hier bilden sich im Nu soziale Mikrokosmen. Der französische Soziologe Jean-Didier Urbain analysiert in Sur la plage das paradoxe Unternehmen des Urlaubers, die Alltagswelt in idealisierter Form am Strand nachzubauen. Schon aus der Möwenperspektive, das zeigen unsere Fotos, ist es furchtbar leicht, feine nackte Leute von nicht so feinen nackten Leuten zu unterscheiden. Sie liegen sortierter, irgendwie. In Reih und Glied auf einheitlichen Liegen und einheitlichen Handtüchern auf geharktem Sand, mit einheitlichen Körpern in schlammfarbenen Eres-Bikinis und schlammfarbenen Chanel-Fußnägeln. Wie in besseren Restaurants bekommt man hier vom Maître d’ seinen Platz zugewiesen: ein Liegenpaar unter einem Sonnenschirm – schon schlecht, wenn man nicht zu zweit kommt, wie das drakonische Raster der Schirme erfordert. Der Plebs wird durch die unverschämten Preise draußen gehalten. Der Eintritt in den Monte- Carlo Beach Club etwa kostet in der Hochsaison 75 Euro, weitere 200 Euro werden für ein privates Umkleidehäuschen fällig. Am Lido vor Venedig bekommt man eine Strandkabine in der prima fila, also mit Meerblick, bestenfalls durch besondere Erwähnung im Testament des Vorbesitzers.

Die Volksstrände dagegen sehen aus wie wuchernde Favelas. Großfamilien und Cliquen lagern auf Patchworks aus aneinandergelegten Handtüchern und Picknickdecken, ein fröhliches Chaos mit Kühlbox und Ghettoblaster als Mittelpunkt, an den Rändern ausbrechend in gelegentliches träges Frisbeewerfen. Doch natürlich gibt es auch hier eine heimliche Ordnung, Ergebnis erbittert geführter Territorialkriege, die heute nicht mehr mit Sandburgen ausgefochten werden, sondern mit Windschutzplanen und Strandmuscheln, die man einander strategisch vor die Nase pflanzt.
Das Volk stapft mit Kofferraumladungen durch den Sand, Reiche gehen unbelastet an den Strand: ohne Kühltasche, ohne 800-Seiten-Wälzer mit Prägecover, oft sogar ohne Sonnenschutz. In den besseren Beachclubs gehen Uniformierte durch die Reihen, bieten Eincremeservice und zwischendrin Abkühlung durch Evian-Sprays oder geeiste Wassermelonenspieße. Entspannter ist es trotzdem nicht. Um hier richtig zu liegen, muss man schon vorher braun und fit sein. Man muss den Zustand der Erholung schon vorweisen, den das Volk am Strand erst erlangen will.

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Meike Winnemuth, 50, liebt das virtuelle Strandmuseum www.balnea.net der Gemeinde Rimini: bezaubernde Werbeplakate aus einer Zeit, als die Menschheit noch mühsam überredet werden musste, ans Meer zu fahren.