»Es ist an der Zeit, ihre Geschichten zu erzählen«

Trotz einiger Zweifel hat sich Yuko entschlossen, von ihren Bekannten aus dem Norden zu erzählen. Von Menschen wie Akiko aus Sendai, deren alte Schule man zu einer Leichenhalle umfunktioniert hat.

19. bis 21. April
Seit bei uns die Erde gewackelt hat, gibt es keinen Tag, an dem ich nicht etwas Neues über mich und mein Land erfahre. Zum Beispiel, dass ich einem Freund, der direkt von den Folgen des Bebens betroffen ist, gut zusprechen möchte, dann aber merke, dass es manchmal das Beste ist, gar nichts zu sagen. Nahezu jeder in Tokio hat Bekannte, Familie oder Kollegen aus dem Norden. Ich habe es Ihnen gegenüber bisher vermieden, das eine Thema anzusprechen. Ich dachte, dass ich nicht das Recht besitze, ihre Geschichten zu erzählen und sie zu meinen Geschichten zu machen. Doch möglicherweise ist es jetzt an der Zeit, bevor sie in Vergessenheit geraten.

Die High School wird zur Leichenhalle
Akiko, eine freiberufliche Journalistin, ist aus Sendai, Präfektur Miyagi. Gewöhnlich ist Akiko ein sehr lebhaftes Mädchen. Auf ihren hübschen Highheels rennt sie kreuz und quer durch Tokio und trifft tags und nachts Leute, aber nach dem Erdbeben hat sie kaum ein Wort darüber verloren, wie es ihr eigentlich geht. In der New York Times sind Fotos, traurige Fotos, von ihrer Heimatstadt abgedruckt worden. Und ich habe gehört, dass man die High School, in der sie noch vor ein paar Jahren ihren Abschluss gemacht hat, inzwischen zu einer Leichenhalle umfunktioniert hat. Heute ist sie aufgebrochen, zum ersten mal seit dem Erdbeben will sie ihre Heimatstadt besuchen. Ich wusste nicht, was ich ihr mit auf den Weg geben, was ich ihr zum Abschied sagen sollte.   

Nichts außer dem Himmel
Abe san ist der Geschäftsführer einer Agentur für interaktives Design und kommt aus Natori City. Erinnern Sie sich an die Nachrichtenbilder, gefilmt aus einem Hubschrauber, der über das Katastrophengebiet fliegt? Weite, zerstörte Flächen, Trümmer soweit das Auge reicht? Das ist Natori. Es war gegen Ende März, zwei oder drei Wochen nach dem Unglück, da zeigte mir Abe san sein Videomaterial. Er hatte es während seines Freiwilligendienstes in Natori gemacht. Doch war er sich nicht sicher, ob er die Videos auf Youtube hochladen oder er nicht. Einerseits wollte er die ganze Welt wissen lassen, was aus seiner Heimatstadt geworden ist. Gleichzeitig aber hatte er Angst, den Menschen in Natori weitere Hoffnung zu nehmen. Denn das Material zeigt, dass wirklich NICHTS übrig geblieben ist außer einem weiten Himmel über einem braunen Landstrich.

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„Ja, sieht ziemlich übel aus“
Ich war so betroffen, fühlte mich sogar schuldig, dass ich mich nicht in der Lage sah, seine Empfindungen zu teilen, aus dem einfachen Grund, weil ich nicht wusste, wie die Stadt zuvor aussah. Weil ich nur wusste, wie sie jetzt aussieht. Und so was habe ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen. Ich sah fünf oder sechs Neuwagen übereinander gestapelt. Abe san sagte: „Da waren wahrscheinlich noch Leichen drin von Menschen, die versucht haben, in ihren Autos zu fliehen, als es schon zu spät war.“ Zwar hörte ich, was er sagte, war aber zu keinem klaren Gedanken fähig. Was hätte ich auch sagen können? Nichts. Ich habe andere Leute aus dem Norden getroffen, ihnen fehlten erst recht die Worte. Mehr als „Ja, sieht ziemlich übel aus, ja ja, übel, übel!“ kam nicht über ihre Lippen. Ich wünschte, ich könnte mich besser in sie hineinversetzen, aber das wäre wohl zu vermessen.   

"Gebt uns zehn Jahre Zeit"
Abschließend ist hier noch eine Nachricht von Abe san an alle in Europa: „Leute, wahrscheinlich macht ihr euch jetzt große Sorgen um das Kernkfraftwerk in Fukushima. Aber gebt uns zehn Jahre Zeit, und wenn die Krise dann bewältigt ist, dann bitte kommt und besucht uns. Ihr werdet überrascht sein, dass wir bis dahin wieder alles wieder aufgebaut haben werden. Also los geht’s!“

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