»Ich sinnlose vor mich hin... und das mit Begeisterung!«

Gerhard Polt spricht über die Langeweile.

Foto: DDP

SZ-Magazin: Herr Polt, wie geht es Ihnen?
Gerhard Polt:
Dazu hat mir ein Freund kürzlich eine Geschichte erzählt. Sein Vater, ein alter Bauer, wurde mal ganz arglos gefragt: »Wie geht’s?« Da sagte der ganz misstrauisch: »Ich sauf immer noch meine sechs Maß!« Für den war das keine freundliche Frage nach seinem Befinden, sondern eine Fangfrage. Der fühlte sich beobachtet, als sei er wertlos: Warum fragt der mich jetzt, wie’s mir geht?

So entspannt, wie Sie dasitzen, wirken Sie nicht so, als würden Sie sich wertlos fühlen.
Polt schweigt.

Wir würden gern mit Ihnen über die Langeweile reden.

Sehr schönes Thema. Herrlich. Wobei – wenn wir jetzt nur über Langeweile reden, das wird auch langweilig. Es ist ja interessant, was wir in unserer Gesellschaft alles unternehmen, um gegen die Langeweile vorzugehen. Aber die Menschen haben ja immer schon ein Spektakel gemacht, um Stimmung in die Bude zu bringen, haben Leute von Krokodilen fressen lassen, geköpft, als Hexen verbrannt. Ich bin da nicht zuständig, aber vielleicht haben Menschen Kriege zum Teil nur angezettelt, um der Langeweile zu entgehen. Vielleicht gibt’s nicht nur Wirtschaftskriege, sondern auch Kriege aus Langeweile.

Haben Sie das Gefühl, dass die Langeweile heute noch stärker bekämpft wird als früher?
Natürlich. Mit dem Unterschied, dass man die Langeweile mit den Methoden der Langeweile bekämpft. Die ständige Action, die man gegen die Langeweile organisiert, ist ja zum größten Teil dermaßen langweilig …

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Es gibt auch schöne Langeweile.
Die Muße, ja. Die Zeit, in der der Mensch nicht handeln muss, in der er eben gar nichts muss, sondern nur so herumschildkrötelt. Er hat nicht das Damoklesschwert der Produktivität über sich schweben, sondern tut einfach, was ihm einfällt. Oder er tut auch nicht, was ihm einfällt, das ist vielleicht noch schöner.

Wenn man Sie so ruhig dasitzen sieht, wirken Sie eher wie die Inkarnation des Müßiggangs.

Ich sinnlose vor mich hin, und das mit Begeisterung. Wenn nichts passiert, passiert ja nur scheinbar nichts, weil irgendwas passiert ja immer, und wenn eine Ameise übern Sandboden läuft oder Staubpartikel durchs Fenster sichtbar werden, weil die Sonne reinscheint. Die Frage ist, ob es einem gelingt, sich diesem Angebot zu öffnen.

Aber ist es in diesen dramatischen Zeiten nicht schwerer, vor sich hin zu sinnlosen?

Dramatisch? Warum jetzt das?

Na, Griechenland, Europa, die Banken. Haben Sie keine Angst um den Euro?
Ich hab um gar keine Währung Angst. Da inflationiert sich zwar was zusammen, aber es wird immer Leute geben, die wissen, wie man einen guten Wein oder ein leckeres Schnitzel macht.

»Langeweile ist für viele höchst bedrohlich, weil sie sich nutzlos fühlen«

Sie haben nicht den Eindruck, dass es momentan schwerer ist mit dem Müßiggang?
Diese unglaubliche Erregtheit, der Ratingstress, das totale Evaluieren, das ist tatsächlich unerträglich. Dabei weiß doch jeder aus der Musik: Das Entscheidende sind die Pausen. Die Ruhe, vor der die Musik überhaupt nur hörbar wird. Das haben die Ökonomen in ihrer Weltanschauung vergessen: Es gibt kein Rating für Muße.

Was muss man tun, um ein professioneller Dasitzer zu werden? Muss man mit sich im Reinen sein?
Wenn man sich an den Strand knallt und von der Sonne so lange das Hirn ausdörren lässt, bis man nur noch ein Zellkomplex ist, der keine Regungen mehr spürt, dann ist das nicht die hohe Schule der Langeweile. Zur richtigen Langeweile gehört dieses Ruhige, ein ruhiges Genießen von Gerüchen. Da riecht’s nach Heu, und dazu gesellt sich der Duft von Wiener Schnitzel, der vorüberzieht. Oder man hört in der Ferne Kinder schreien und versucht, die verschiedenen Stimmen auseinanderzuhalten. Aber wenn man das macht, braucht man – das ist das Banalste – Zeit.

Gut, Zeit. Was braucht man noch?
Die Frage ist: Wie viel an Langeweile ist man fähig zu ertragen? Mir hat einmal ein Jugoslawe gesagt: »Weißt du, hab ich erlebt Erstes Weltkrieg, Zweites Weltkrieg, Revolution weiß ich nicht, fünf-, sechsmal, Verkehrsunfall hundertmal, weiß ich nicht, und trotzdem – Leben stinklangweilig.« Langeweile ist für viele höchst bedrohlich, weil sie sich nutzlos fühlen. Warum können andere ohne Grund lachen, warum kommen die mit den primitivsten Dingen wunderbar zurecht? Wenn die dann Leute sehen in Nordjakutien, die da im Iglu nisten und froh sind, weil sie leben – da bekommen viele eine Krise.

Brauchen Sie das Herumschildkröteln, um produktiv sein zu können?
Kann sein, aber beim Herumschildkröteln erwart ich mir nichts. Ich sitz ja nicht herum, um produktiv zu sein, sondern um herumzusitzen. Die Produktivität muss da nicht stattfinden.

Wann findet sie bei Ihnen statt?

Ich hab keine Bilanz für so was. Einer sagt vielleicht: Au, in drei Wochen fängt das Programm an, jetzt muss ich mal was schreiben. Und der andere sagt: Ich sammle eben, und es kommt, und dann kommt wieder lang nix. Ich kultiviere eben dieses Vor-mich-hin-Sinnlosen.

Wenn Sie so rumsinnlosen und nach Themen für Ihre Arbeit suchen: Hören Sie dann einfach zu, wenn andere reden, oder verwickeln Sie Menschen ins Gespräch?
Das schließt einander nicht aus. Oft muss man ja gar nicht nachfragen. Ist doch wunderschön, wenn einer sagt: »Ich hab ihm nicht gesagt, dass ich ihn erschieße, ich habe nur gesagt, so einer wie der würde früher standrechtlich erschossen worden sein.« Was sollte ich dem hinzufügen? Das bedarf doch keiner Erläuterung.

Was ist Ihnen als Letztes zugetragen worden?
Vor Kurzem hab ich mich im Tegernseer »Bräustüberl« mit einem Herrn unterhalten, der sich immer mehr erregt hat. Das war herrlich.

Worüber hat er sich erregt?
Über die Welt. Dem hat es vollkommen genügt, dass er sagen konnte: Es ist ein Saustall. Er musste nicht genau sagen, warum, weshalb, wozu, aber es ist ein Saustall, Prosit. Die Tatsache, dass alles ein Saustall ist, hat ihn so erregt, dass er natürlich noch freudiger dem Bier zugesprochen hat. Da freu ich mich dann, wenn so jemand nicht irgendwann schweigt, sondern vom Hundertsten ins Tausendste kommt – diese irrsinnigen Gedankensprünge, das ist toll.

Und wo ist der hingesprungen?
Zum Zug. Der musste leider gehen. Er hat gesagt, er hätte gern noch einiges erläutert, aber er müsse jetzt nach München. Der war zwar sowieso schon fast am Höhepunkt, aber ich glaube, er hätte den allgemeinen Saustall gern noch etwas intensiver beschrieben.

Gehen Sie oft gezielt ins Wirtshaus?
Ich glaub, ich bin noch nie irgendwo hingegangen mit dem Ziel: Jetzt kauf ich mir ein Bier, um eine Geschichte zu hören. Wenn man irgendwo hinkommt, dann gerät man auch irgendwo hinein, wenn man will.

Und wo kann man am besten schildkröteln?
Vor dreißig Jahren war die Grundsituation zum Schildkröteln viel günstiger. Da gab es diese als Gaststätten getarnten Wärmestuben. Die Leute haben dort Schach gespielt und hatten Zeit. Solche Leute sieht man heute seltener. Außerdem sterben die klassischen Lokale aus, in denen Kartenspieler und Dissidenten einfach nur herumsitzen.

Das andere Problem ist, dass die Leute heute so wenig Zeit haben. Wie kann man es einrichten, dass man arbeitet und zwei kleine Kinder hat – und trotzdem die Muße nicht stirbt?
Die stirbt ja schon deshalb nicht, weil die Kinder da sind. Die Art, wie Kinder erzählen und berichten, das ist für sich genommen oft schon wert, dass man es weitererzählt. Und es genügt dann nicht, wenn ich das einem erzähle oder zweien, sondern wenn ich wirklich begeistert bin, dann lauf ich durch die ganze Firma und erzähl’s jedem, auch dem Pförtner.

In einem Büro kann man damit den Kollegen ganz schön auf die Nerven gehen.
Wenn andere sagen: Das gibt’s ja nicht, jetzt ist der immer noch begeistert von seiner Anekdote, dann müsste man sagen: So, jetzt erzähl ich Ihnen erst recht, was mein Kind erzählt hat! Ich habe früher nie ein Foto von meinem Sohn dabeigehabt. Wenn mich einer nach dem gefragt hat, hab ich gesagt: Wenn du dir die Zeit nimmst, dann erzähl ich dir mein Kind. Ein Foto ist platt, da betrügt man den anderen um die Mitteilung. Der schaut das Bild an und sagt: Aha, und dann kann ich’s wegstecken, aber wenn ich erzähle, wie er sich schneuzt, was er gestern angestellt hat, wie ungern er in die Schule geht, das ist doch schön. Und dazu brauch ich Zeit. Da kann ich problemlos eine Stunde füllen. So ein Foto ist der Versuch, all das zu verkürzen. Man bestiehlt sich seiner Erinnerungen, in denen man schwelgen könnte. Das Dokumentieren ist eine teuflische Sache, da kann man nicht mehr viel romantisieren.

»Heute aufwachsen zu müssen ist für jedes Kind ein Riesenpech«

Wenn Sie an Altötting und Ihre Kindheit zurückdenken, war das langweilig?
Nie. Selbst die längsten Sommertage waren immer randvoll. Wenn ich einen Streich geplant hab mit meinen Freunden, allein die Vorfreude, wenn man bei einem Auto die Blinker ausgerissen hat! Dann haben wir uns irgendwo hingehockt und gewartet, wenn der um die Ecke fährt, dann geht der Blinker nicht mehr. Diese Vorfreude vor dem Streich, allein die Genugtuung, sich vorzustellen, wie das sein wird, wenn der ausrutscht, oder wenn man dem Scheiße in den Briefkasten reinschmeißt und der langt dann rein. Diese Vorfreude war schon so schön wie in der Adventszeit. Der Heilige Abend ist ja schnell vorbei, das Schöne ist die Adventszeit. Und so war das Vorbereiten eines Streichs bei uns Kindern. Eine lange, schöne Zeit.

Aber in einer Metzgerei in Altötting aufzuwachsen stellt man sich nicht so herrlich vor.
Das war toll! In einer Metzgerei gibt’s alles. Da gibt’s Ochsenhälften, Därme, Schweineköpfe, Ratten, herrlich. Da gibt’s Ängste, Blut, Schweine, die grunzen.

Ist Kindheit heute langweiliger?
Heute aufwachsen zu müssen ist für jedes Kind ein Riesenpech. Die Umwelt ist gnadenlos. Das fängt schon damit an, dass es viel schwieriger ist, ein Schallschutzfenster mit einer Schleuder einzuschießen als ein normales Fenster. Natürlich können Kinder mit viel Mühe auch heute noch irgendwas demolieren, aber die Möglichkeiten dazu sind wesentlich geringer. Und die Städte sind nur noch monoton. In meiner Zeit war das optimal. Wenn ich von Altötting oder vom Schliersee nach München gekommen bin in die Ruinen, das war der Superspielplatz schlechthin. Man kann die Menschen schon entschuldigen dafür, dass sie die Ruinen wieder weggetan haben, aber was sie stattdessen da hingestellt haben, ist unentschuldbar. Jedenfalls den Kindern gegenüber.

Sie leben ja viel in Italien und Schweden. Können sich die Italiener und die Schweden besser langweilen als wir?
Logisch! Das sind zwei extremere Welten. An der skandinavischen Welt bewundere ich, dass die Leute mit relativ wenig zurechtkommen. Die haben nur die Natur, keine Piazza, kein ständiges Reden oder rumsausende Kinder. Die Schweden haben irgendwann die Dörfer aufgelöst, so wie wir sie kennen, mit Kirche, Wirtshaus, Marktplatz. Die Dörfer in Nordschweden oder Finnland bestehen aus Einzelgehöften, da ist der Nachbar was anderes als in einem Spanischen Viertel in Neapel, wo die Leute weiß der Teufel wie zusammenleben. Dieses Spanische Viertel von Neapel, das sind ganz enge Straßen, alles voll mit Leuten und Mopeds, laut, überfüllt. Ich bin da einmal durchspaziert, da war eine offene Wohnung, die Tür stand offen, und auf der anderen Straßenseite ein Sofa, auf dem saß der Mann aus dieser Wohnung und hat durch den Verkehr hindurch das Fernsehprogramm angeschaut.

Sie haben in Ihrem Fernseher russische, italienische, schwedische Programme gespeichert. Machen die interessanteres Fernsehen?
Wenn ich mir die italienischen Nachrichten anschaue, seh ich, wie viele deutsche Themen gar kein Thema sind. Ich seh, was die Menschen hier besorgt und worüber sie Tag und Nacht reden, und am Ende red ich selbst Tag und Nacht drüber und bin besorgt. Aber dann seh ich im italienischen Fernsehen, dass das für Millionen Menschen gar kein Thema ist und auch nie eins werden wird. Dann ist die ganze Aufgeregtheit verpufft.

Und Berlusconi hat Sie all die Jahre nie aufgeregt?

Der war doch immer ein wunderbares Thema. Wissen Sie, eine gute Tragikomödie zu schreiben ist schwer. Die Italiener schaffen momentan nur die Schmierenkomödie. Die hat freilich auch immer ihre Zuschauer mit diesem Tortenhumor und den Furzgeräuschen. Die Italiener haben aber auch in Dario Fo einen ganz großen Mann. Der erklärt seinen Landsleuten die ganze Schmiere sehr schön, indem er klassische abschreckende Vorbilder zeigt, Giftmischer, Mörder, Inzest. Vorbilder für den Berlusconi gäbe es also viele in der Geschichte, wenn er welche gebraucht hätte. Aber der hat das ja alles ganz allein hingekriegt, wie man sieht.

Was schauen Sie am liebsten an?
Das italienische Fernsehen ist am unterhaltsamsten, weil es so unglaublich schlecht ist und so vollkommen schamlos. Eine Fleischfliege, die grünlich schillert, ist ja auch schöner als die Stubenfliege. Wenn einem da einer übers Fernsehen die Zukunft aus ein paar Karten legt oder diese dicke Wahrsagerin einen Zuschauer bittet, ihr ein Fax von seiner Handfläche zu schicken, und dann nimmt die die Handfläche aus Xeroxschwarz und sagt dem, wie’s in den nächsten zwei Jahren weitergeht – das find ich toll. Aber am besten ist Porta a Porta. Das ist am Anfang wie bei der Christiansen. Die setzen da seriöse Menschen hin, und dann wird bissl diskutiert. Nach einer Viertelstunde kommt aber ein Busenstar zur Tür rein und setzt sich mitten unter all die Minister. Die sagt gar nichts, die sitzt da und weiß gar nicht, worüber die reden, und wahrscheinlich ist es ihr auch scheißegal. Die hat nur dazusitzen, möglichst freizügig, und sobald einer länger als zwei Minuten redet, geht die Kamera auf den Busenstar, damit die Leute nicht auf Formel 1 umschalten.

Der Sabine Christiansen haben Sie mal abgesagt mit dem Satz: »Ich kann unmöglich kommen, weil ich um die Zeit immer daheim bin.«
Daheimsein hat für mich eben einen hohen Stellenwert. Das hat die nicht verstanden. Ich verstehe nicht, warum ich nicht absagen kann mit der Begründung, ich wohne gern. Warum gilt so was nicht als Entschuldigung? Ich hab auch noch nie verstanden, warum ich im Urlaub irgendwo hinfahren muss, bloß um zu beweisen, dass ich im Urlaub bin. Manchmal ruft mich jemand an, und ich sag: Entschuldigen Sie, ich habe jetzt keine Zeit, ich bin im Urlaub. Dann sagt der: Wieso, ich red doch mit Ihnen, Sie können ja gar nicht im Urlaub sein, Sie sind doch da.

Machen Sie Urlaub auch wohnenderweise?

Natürlich. Ich hab immer schon gern gewohnt. Ich bin ein leidenschaftlicher Herumwohner. Aber es wird immer schwerer, einfach so rumzuexistieren. Es braucht immer eine Entschuldigung. So wie es inzwischen Hunderttausende gibt, die ein Büro haben, nur um zu beweisen, dass sie arbeiten. Die könnten doch genauso gut zu Hause arbeiten. Ich hab mal einen gekannt, der war Billettlzwicker, der hat Fahrkarten abgestempelt. Der hatte den Zwang, immer mit einer Mappe herumzulaufen. Ohne diese Mappe hatte der Angst, die anderen ertappen ihn womöglich als Müßiggänger.

Zur Person:
Gerhard Polt arbeitet seit 1975 als Kabarettist, Autor und Schauspieler. Viele Jahre trat er zusammen mit der Biermösl Blosn auf. Da die Well-Brüder ihr Trio jetzt auflösen, arbeitet er allein an neuen Projekten: »Bald kann ich wieder sinnlosen. Ich habe jetzt ein Filmdrehbuch geschrieben mit einer Geschichte, in der sich, wie ich hoffe, die Schlüssigkeit auch tatsächlich erschließt.«