Lass uns ab jetzt Fremde bleiben

Wenn eine Beziehung ihr Ende erreicht, ist alles klar: Man macht Schluss. Aber wie soll man ganz normale Freundschaften beenden? Wir brauchen eine neue Etikette.

Auf 130 Freunde bringt es der durchschnittliche Facebook-Benutzer. So hat es im Dezember das amerikanische Marktforschungsinstitut NM Incite ermittelt. Dass sie alle tatsächlich Freunde sind, glaubt niemand. Manchem ist man nie begegnet und dafür dankbar, denn mit Leuten, die wie Richard David Precht über die Liebe zitieren oder zum Frühstück verkünden, dass sie Elnett-Haarspray nicht mehr ertragen, säße man nicht gern in einem Verkehrsstau fest. Doch im Internet scrollen sich solche Bekundungen komfortabel weg. Bei den Freundschaften, die man offline unterhält, geht das nicht. Da muss man sich solidarisch über die neuesten Untaten des Chefs empören, den Spruch, der schon beim zweiten Mal nicht mehr gut war, auch beim fünften Mal belachen, und Interesse am Beziehungsknatsch des Menschen heucheln, mit dem man doch nur wieder mal ein Feierabendbierchen zischen wollte. Schließlich ist es das, was den Geist der Freundschaft ausmacht: reden lassen. Verständnis zeigen. Im Notfall Schnaps nachbestellen, Tempotaschentücher zücken, ein Gästebett anbieten, »Wird schon wieder« sagen. Per Definition ist der Freund jener Mensch, dem man es erlaubt, sich auszusprechen, in allen ermüdenden Details, über die man selbst längst den Überblick verloren hat. Normalerweise werden Freundschaften pathetischer beschrieben, tiefes Verständnis, Seelenverwandtschaft und dergleichen. Doch Pathos ist meistens Notwehr, mit der man sich die Empirie verkitscht, um sich nicht eingestehen zu müssen, wie viel Optimierungsbedarf sie hat. Nüchtern betrachtet sind Freundschaften oft Beziehungen, in denen man sich alles anhören muss, ohne dafür mehr zu bekommen als die Gelegenheit, sich ebenfalls gehen zu lassen. Fühlt sich sicher toll an, falls man zufällig mit jemandem befreundet ist, der geistreiche Witze macht, klasse Geschichten erzählt und einen nie schlecht draufbringt. Aber das kommt selten vor. Auch weil man immer wieder die eigenen Kriterien von Relevanz und Interessantheit souverän unterläuft.

Die meisten Freundschaften zieht man sich ja eher zufällig zu, im Büro, auf dem Spielplatz, in der Pilatestruppe. Mit dem einen oder der anderen geht man hinterher auf einen Kaffee, und wenn man es schafft, die Konversation halbwegs am Laufen zu halten, freut man sich bald darüber, jemanden gefunden zu haben, mit dem man hin und wieder ausgehen, zu Mittag essen, ein wenig Dampf ablassen und sich übers Leben austauschen kann. Anders als in Liebesbeziehungen handelt man in Freundschaften nie haarklein aus, was alles geht und was nicht. Ihr Vorteil besteht darin, dass man in ihnen auf eine Weise verschieden sein kann, die man nicht ertrüge, müsste man miteinander Bett und Tisch teilen. In Freundschaften gönnt man sich die Toleranz, zu der man in Liebesbeziehungen nicht fähig wäre, und über die Jahre kann sich das durchaus lohnen. Schließlich kann auch ein Mensch, der seine Freizeit am liebsten mit World of Warcraft verbringt, ein verkorkstes Sexualleben hat und Spaghetti mit dem Messer klein schneidet, ein talentierter Zuhörer, fantastischer Trinkkumpan und geduldiger Depressionsbegleiter sein. Die Marotten, die einen davon abhalten, einen Menschen zu lieben, stören in Freundschaften nicht, man sieht ja keinen Frotteepyjama und hört das Schnarchen nicht. Sehr einleuchtend also, dass Menschen Freundschaften gern verklären. Ihr Erfolgsgeheimnis besteht nicht darin, dass sich Seelenverwandte gefunden haben, sondern dass man einander mit dem Seelischen nicht so traktiert, wie es Familienmitglieder oder Eheleute tun müssen. Normalerweise jedenfalls. Gute Freundschaften haben etwas eminent Nützliches. Sie sorgen dafür, dass man noch ein soziales Leben jenseits von Verpflichtungen hat. Man darf so bleiben, wie man ist, kann ein wenig auch über die gehaltvolleren Fragen des Lebens plaudern, und hinterher geht jeder allein nach Hause. Perfekt eigentlich.

Manchmal jedoch gerät man an Menschen, die Freundschaft so asymmetrisch auslegen, dass man sich von ihnen chronisch übervorteilt fühlt. Man erträgt’s nicht mehr, ständig über dieselbe Männergeschichte, bloß mit wechselnden Vornamen, auf dem Laufenden gehalten zu werden, ohne je nach dem eigenen Befinden befragt zu werden. Man will nach Jahren auch einmal bewundert werden, nicht immer nur bewundern müssen. Man hat es so satt, dass man nie gröbere Probleme hat und deswegen so viel seelische Kapazität frei, Trost, Zuspruch, Verständnis zu spenden. Man sähe gern eine Entwicklung statt der ewigen Wiederkehr des Gleichen, es kann doch nicht so schwer sein, im Büro ein Quartal lang keine Probleme zu haben, und vielleicht muss man nicht jedes Wiedersehen damit verbringen, penible Updates über die Entwicklungsstufen eines Kindes zu bekommen. Auch dass einem ständig die Rolle zufällt, die Konversation in Schwung zu halten, während der andere stoffelig dasitzt, mag einem nach Jahren, in denen man es klaglos mitgemacht hat, plötzlich nicht mehr einleuchten. Es passt nicht mehr. Vielleicht hat es einmal gepasst, doch jetzt hat man ein anderes Leben als damals. Vielleicht zwei Kinder und der andere keines, vielleicht eine glückliche Beziehung, und der andere macht immer noch bloß Eroberungen, die einen nicht die Bohne interessieren, beim nächsten Mal heißt sie eben Anja und nicht mehr Anke. Das muss aufhören, das hat keinen Sinn mehr, das macht nur noch muffig.

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Doch wie man Freunde abserviert, bringt einem keine Etikette bei, seltsam in einer Gesellschaft, in der einem vom Handy-Gebrauch in Restaurants bis zur Konfliktlösung in Patchwork-Familien alles Menschenmögliche beigebracht wird. Wer eine Freundschaft beenden will, wird allein gelassen. Vielleicht weil alle Welt davon ausgeht, dass eine Freundschaft, die ihren Namen verdient, alles aushalten sollte. Tut sie aber nicht.

Die allgemein akzeptierte Übereinkunft lautet: Man zeigt dem Freund, der es nicht bleiben soll, die kalte Schulter. Sagt, dass man gerade keine Zeit hat und auch die nächsten drei Wochen nicht, reagiert auf E-Mails nicht, drückt die Anrufe weg. Wenn man das lang genug treibt, wird die Freundschaft bald wie von selbst verdunsten. Der Vorteil dieser Strategie: Man muss nicht aktiv grausam werden, das ist bequemer so für beide. Moralisch korrekt ist so ein Verhalten selbstverständlich nicht. Denn die Signale, die man aussendet, lauten bei richtiger Dechiffrierung: Wir sind zwar jahrelang miteinander auf ein Bier gegangen, aber jetzt habe ich so wenig Lust auf dich, dass ich nicht einmal mehr Lust habe, dir zu erklären, warum das nicht mehr geht.

Außerdem haben Methoden, die darauf setzen, dass der andere schon verstehen wird, was man ihm sagen will, indem man es ihm nicht sagt, keine Erfolgsgarantie. Die Leserforen von Frauenzeitschriften sind voll mit Geschichten, in denen erzählt wird, wie lästig anhänglich manche auf Herzlosigkeit reagieren. Sie ruft mich nach Monaten immer noch an, heißt es. Sie schickt mir immer noch E-Mails, in denen sie mich fragt, was mit mir los ist. Neulich hat sie mich im Café zur Rede stellen wollen. Ob mir unsere Freundschaft denn wirklich nichts mehr bedeute? Ja, hätte man sagen müssen, es geht einfach nicht mehr, kommt vor, schließlich sind wir kein Liebespaar, aber dann hat man doch die Handy-Geste gemacht und »Lass uns telefonieren« gesagt, und seitdem versucht sie es wieder ständig. Wie konnte man nur mit jemandem befreundet sein, der so verzweifelt mit einem befreundet sein will?

Was tun? Einen Brief schreiben, in dem man sich erklärt? Es auf Männerart versuchen und sich absichtlich danebenbenehmen, bis dem anderen einfällt, dass er sich trennen muss? Klingt nach Schulhof, denkt man und hat recht damit. Doch der erwachsene Vorschlag, sich mit dem Freund, der keiner bleiben soll, ein allerletztes Mal zu treffen, um ihm zu sagen, dass man nicht mehr mit ihm (Bier trinken, essen, ins Fitnessstudio) gehen will, scheint den Ideen, die wir von Freundschaft haben, zu widersprechen. Ein Freund ist doch jemand, dem man sich nicht erklären muss. Wenn er tatsächlich einer ist, müsste er es einem doch ersparen, dass man ihm komplizierte Gefühle auseinanderfusselt, nicht wahr? War er also nie wirklich ein Freund? Warum hat er dann Probleme, wenn man es auch nicht mehr sein will?

Vielleicht sollte man seine Freundschaften alle auf Facebook auslagern. Dort ist die Prozedur des Entfreundens in zehn Sekunden erledigt, eine Nachfrage, ob man’s ernst meint, das war’s. Der andere wird darüber nicht einmal informiert, und bei Dutzenden Beziehungen fällt ihm vielleicht gar nicht auf, dass eine fehlt. Andererseits berichteten im Dezember die Nachrichtenagenturen von einem Fall, der sich in Tennessee zugetragen hat. Dort wurden Billy Clay Payne und Billie Jean Hayworth erschossen, nachdem sie Jenelle Potter aus ihrer Facebook-Freundesliste gelöscht hatten. Kann sein, das Beste ist: sich gar nicht erst zu befreunden, mit niemandem. Oder Freunde zu bleiben, für immer.

(Aufmacherfoto auf sueddeutsche.de: Photocase/Miss X)

illustration: Daniel Heidkamp