Es läuft ganz gut

Der deutsche Manager Volker Wagner holt Sportler aus Afrika und lässt sie gegen kleines Geld bei deutschen Marathonrennen antreten. Manche nennen ihn einen Sklaventreiber. Andere finden, dass er Menschen eine Chance gibt.

In einem Bungalow mitten in der deutschen Provinz warten drei Kenianer auf den Abend. Samson Kosgei, Hesbon Rono und James Barmasai haben sich auf die grünen Ledermöbel im Wohnzimmer gefläzt und den alten Röhrenfernseher angeschaltet. Zeit totschlagen. Ein paar Stunden noch, dann fahren sie nach Borgholzhausen. In dem 8500-Einwohner-Ort findet heute ein Nachtlauf statt, ein Sechs-Meilen-Rennen. Für die drei geht es um Start- und Siegprämien, es geht ums Geldverdienen. Laufen ist ihr Beruf. Bis zur Abfahrt zappen sie im Fernsehprogramm herum. Sie bleiben bei einer deutschen Autosendung hängen. Sie verstehen kein Wort.

Die drei sind Gäste von Volker Wagner, einem pensionierten Hauptschullehrer. Wagner, 62 Jahre alt, holt afrikanische Läufer nach Deutschland. Die meisten kommen aus Kenia, einige auch aus Äthiopien und Tansania. Für ein paar Wochen wohnen sie bei Wagner in Detmold, 30 Kilometer östlich von Bielefeld, am Fuße des Teutoburger Walds. Wagner lässt seine Athleten bei Veranstaltungen in der ganzen Bundesrepublik starten. Zehn-Kilometer-Läufe, Halbmarathons, Marathons. Manchmal fahren sie auch nach Tschechien oder in die Niederlande, überall dorthin, wo es Preisgelder zu gewinnen gibt. Es ist ein Geschäft.

Wagners Geschäft begann vor 25 Jahren. Damals fehlte dem tansanischen Langstreckenläufer Suleiman Nyambui bei einem Wettkampf ein Tempomacher. Volker Wagner sprang ein, lief, so schnell er konnte, und freundete sich mit Nyambui an. Er half ihm bei der Suche nach lukrativen Läufen in Deutschland, Schritt für Schritt wurde er sein offizieller Manager. Suleiman Nyambui verdiente gutes Geld. Volker Wagner machte sich in der Szene einen Namen. Andere Ostafrikaner schickten ihm Anfragen nach Detmold, ob sie nicht auch für ihn starten könnten. So entstand Wagners erste Läufer-Gruppe.

Meistgelesen diese Woche:

Heute halten seine Athleten bei Wettbewerben in ihrer Heimat Ausschau nach neuen Talenten. Sie sprechen sie an und geben Namen und Telefonnummern an Wagner weiter. Sein kleines Scouting-System. Ab und zu fliegt er auch selbst nach Afrika. Wenn alles passt, nimmt er die empfohlenen Läufer unter Vertrag. Er besorgt ihnen Laufschuhe und Trainingskleidung, verhandelt mit Ausstattern, meldet sie bei Rennen an. Doch Wagner ist mehr als nur ihr Manager. Er ist auch ihr Trainer, er ist ihr Masseur. Vor allem aber ist er die einzige Bezugsperson, die die Afrikaner hier im ostwestfälischen Nirgendwo haben.

An der Hauptstraße, die den Detmolder Stadtteil Diestelbruch zweiteilt, stehen solarbezellte Einfamilienhäuser neben restaurierten Fachwerkhöfen. Ein großes Holzschild weist darauf hin, dass Diestelbruch ein staatlich anerkannter Erholungsort ist. In den Sechzigerjahren entstand hier ein Bungalow-Feriendorf mit siebzig Schlafplätzen. Doch die Urlauber kamen irgendwann nicht mehr.

That's no problem

Heute wohnen Wagners Läufer hier. Zu siebt sind sie derzeit, vier Männer und eine Frau aus Kenia, ein Mann und eine Frau aus Äthiopien. Sie leben in zwei Häusern. Die Männer in dem einen, im anderen die Frauen. Ihre Zimmer erinnern an Jugendherbergen. Etagenbetten, Waschbecken unter einem Spiegel, zu zweit oder zu dritt schlafen sie in einem Raum. »Thats no problem«, sagt Lydia Rutto, »immerhin haben wir hier fließendes Wasser im Haus.« Im Flur steht Gerümpel. Eine ausrangierte Waschmaschine, ein kaputter Kühlschrank. Pfandflaschen liegen herum. Kabel hängen aus der Decke, an den Tapeten breitet sich Schimmel aus. »That’s no problem«, sagen auch die anderen Läufer, »es ist nur ein bisschen kalt.« Die Heizung ist ausgefallen. Wagners Gäste haben sich in Wolldecken und Winterjacken eingepackt und vor den Fernseher gesetzt. Draußen zeigt das Thermometer 18,5 Grad. Drinnen frieren die Läufer.

Wagner hat keinen besonders guten Ruf. In Online-Foren von Laufmagazinen werden Manager wie Wagner »moderne Sklaventreiber« genannt. Sie seien »Menschenhändler, die mit den Träumen anderer Kohle machen«. Aussagen in der Anonymität des Internets. Der Gedanke: Die Weißen holen ein paar Schwarze nach Deutschland, lassen sie für sich laufen und kassieren ordentlich ab. Neue Kolonialherren.

Volker Wagner hat sich mit einem dicken Ordner bewaffnet. Er könne diese Aussagen irgendwie schon verstehen, ja, das wirke auf Außenstehende sicher alles seltsam und bedenklich. Und es gebe auch genug Manager, bei denen Skepsis angebracht sei. »Ich arbeite aber sauber und fair«, sagt Wagner. Mit Verträgen, Abrechnungen und Quittungen will er das beweisen. Jedes Mal, wenn er einen Läufer aus Afrika zu sich nach Detmold hole, schieße er Geld vor. Flüge, Visum, Versicherung, alles im Voraus. Seine Athleten schulden ihm diese Kosten dann erst mal. »Je nach Reisesaison und Aufenthaltsdauer sind das zwischen 800 und 2000 Euro«, sagt Wagner. Mit dem Geld, das die Läufer bei Wettbewerben gewinnen, zahlen sie ihre Schulden zurück. In dieser Zeit wohnen sie kostenlos in den Bungalows in Diestelbruch. Erst wenn sie die Schulden beglichen haben, bekommen die Athleten die erlaufenen Prämien ausgezahlt, abzüglich 15 Prozent Managergehalt für Volker Wagner. Von ihren Gewinnen müssen sie von da an 15 Euro pro Tag fürs Wohnen, die Heizung und den Strom bezahlen. So steht es in den Ein-Jahres-Verträgen.

Wagners Läufer drehen gerade eine Trainingsrunde durch die Gegend um Diestelbruch. Rechts vom Feldweg Roggen und Gers-te bis zum Horizont, links vom Feldweg der Teutoburger Wald. Täglich trainieren sie hier, zwischen 150 bis 200 Kilometer in der Woche. Während einer kurzen Stretching-Pause will Isaac Boit ein bisschen was über Deutschland wissen. Ob wirklich jedes Kind hier zur Schule gehe, fragt er. Und ob man einfach so Flaggen in seinem Garten hissen könne, ohne verhaftet zu werden. »Gibt es in Deutschland auch so viele verschiedene Stammessprachen wie bei uns?«, fragt Lydia Rutto. Einige aus der Gruppe würden später gern mal herziehen.

Sie könnten sogar ein wenig die Sprache, sagen sie: »Guten Morgen«, »Wasser«, »Tschüss«. Damit ist ihr Leben hier auch schon zusammengefasst. Sie kommen, sie laufen, sie gehen wieder. »Running is business«, sagt Samson Kosgei, Laufen sei ein Geschäft. Sie übernehmen Jobs, die die europäischen Spitzenathleten nicht mal in Erwägung ziehen. Für 750 Euro Siegprämie quälen sie sich durch Würzburg, für die Aussicht auf 500 Euro jagen sie durch Oelde. Ab und zu gibt es noch Startgeld obendrauf. Aber auch das übersteigt den dreistelligen Eurobereich so gut wie nie. In den kleinen Städten ist kein großes Geld zu machen. Aber immerhin ein gutes kenianisches Monatsgehalt. Deswegen starten sie in Borgholzhausen, vier Runden durch die Innenstadt eines Provinznests.

In Borgholzhausen ist gerade der Firmenlauf gestartet. Es riecht nach Bratwurst und Bier, eine Blaskapelle dröhnt, Volksfeststimmung. Etwas abseits der Strecke ziehen sich Wagners Läufer ihre Trikots an. Sein klappriger silberfarbener Ford dient als Umkleidekabine. Die, die schon fertig sind, unterhalten sich mit anderen schwarzen Athleten auf Swahili oder Kalenjin. Rund zwanzig Afrikaner starten in Borgholzhausen. Die meisten kommen aus Kenia, aus der Läuferhochburg Eldoret, der viertgrößten Stadt des Landes. Sie kennen einander.

Denn so läuft die Globalisierung des Laufmarktes: Die Kenianer trainieren gemeinsam auf den staubigen Stadionbahnen in Eldoret, werden von europäischen Managern beobachtet, die Besten bekommen Verträge und fliegen nach Düsseldorf, Hamburg, Berlin, München. Überall in Deutschland verteilt trainieren sie für die Wettkämpfe – und bei denen treten sie dann wieder gegeneinander an.

Volker Wagner hat sich am Streckenrand positioniert. Eigentlich ist die Veranstaltung für ihn finanziell uninteressant. »Zu solchen Läufen darf man gar nicht hinfahren«, sagt er, während seine Athleten an ihm vorbeikeuchen. Er vergleicht mit der Stoppuhr Rundenzeiten. Ab und zu ruft er »go, go, go« oder »it’s good«. Seine Kenianer überrunden die einheimischen Hobbyläufer einmal, zweimal. Sie schlängeln sich vorbei an Feierabend-joggern und Teilnehmern mit Bauchansatz unter den verschwitzten T-Shirts. Die Zuschauer stehen in ihren Vorgärten und tröten in schwarz-rot-goldene Vuvuzelas. Ja, guck mal da, die schnellen Afrikaner.

Das Preisgeld sei lächerlich, sagt Wagner. 400 Euro gibt es für einen Sieg, der Neunte bekommt noch 30 Euro. Seine Athleten brauchen diese Läufe aber, um wenigstens ein bisschen Geld mit nach Kenia nehmen zu können. In Borgholzhausen springt ein zweiter Platz für James Barmasai raus, Lydia Rutto und Aynenesh Niguse laufen bei den Frauen auf die Plätze zwei und drei. Insgesamt verdient die Gruppe 850 Euro Preisgeld, dazu kommen 200 Euro Antrittsprämie. Immerhin etwas, um die Schulden bei Volker Wagner abzubezahlen.

Weltmeister in der Vergangenheit

Seit fünf, sechs Jahren geht Wagners Geschäft nicht sehr gut. Nur wenige seiner Athleten erlaufen Gewinne. Von den sieben, die gerade bei ihm in Diestelbruch wohnen, vielleicht zwei oder drei. Die anderen hinterlassen Schulden. Der eine 445 Euro, der andere 1675 Euro. Sie werden ihrem Manager das Geld niemals zurückzahlen können. Sobald sie ins Flugzeug nach Kenia steigen, werden ihre Schulden zu Wagners Schulden. 2011 hat er 24 000 Euro Verlust gemacht.

Aber warum macht Wagner weiter? Die Antwort liegt in der Vergangenheit. In den 25 Jahren, die er inzwischen dabei ist, hat er große Siege gefeiert. Seine Athleten haben 13 Weltrekorde aufgestellt. Sie haben alle großen Marathonrennen gewonnen, in New York, in Tokio, London, Rotterdam. Wagner hat Läuferinnen wie Tegla Loroupe und Joyce Chepchumba zu Weltstars gemacht, zu Multimillionärinnen. »Wenn ich nur die Top-Leute aufzählen würde, die ich hatte, könnte ich zwanzig Namen nennen«, sagt Wagner. Er erzählt gern von früher. Wie er sich einmal einem Japaner vorstellen wollte und der zu ihm sagte: »Ich kenne Sie. Sie sind ein berühmter Trainer.« Wie er den Managerriesen aus Italien und Holland mit ihren vielen Mitarbeitern die ersten Plätze beim Berlin-Marathon wegschnappte. Gespräche mit Volker Wagner enden zwangsläufig bei Geschichten aus der Vergangenheit.

Die Bilder von damals sind in den Bungalows in Diestelbruch überall zu sehen, Fotos von Zieleinläufen und Siegerehrungen hängen an den Wänden. Wagner will diese Momente wiederhaben. Mit jedem Kenianer, den er nach Deutschland holt, sehnt er sich nach dem neuen Coup.

Wagners Hoffnung ist Eliud Kiptanui. Der 23-Jährige sitzt auf seinem Bett und packt zwei Plastiktüten mit Kleidung aus. Aus dem CD-Player knarzt der Song No Limit der Neunzigerjahre-Gruppe 2 Unlimited. Kiptanui und zwei der anderen Kenianer waren beim Trödelmarkt in der Detmolder Innenstadt. Sie haben sich Hüte gekauft, ein paar Klamotten, die CD. Kiptanui kann sich diese Einkaufstouren leisten, er hat gut verdient, seit er für Volker Wagner läuft. 2010 holte der ihn nach Deutschland. Wagner meldete Kiptanui für den Marathon in Prag, ohne ihn jemals in einem Wettbewerb gesehen zu haben. Er kannte nur eine ungefähre Zeit aus Kenia von ihm. Kiptanui lief in Prag 2:05:39 Stunden, gerade mal eine Minute und 40 Sekunden über dem damaligen Weltrekord. Preisgeld, erster Platz, eine kleine Sensation. »Da war es für Volker wie früher«, sagt Natalya Wagner. Ihr Mann war wieder angefixt. 2011 verdiente Eliud Kiptanui durch Prämien und Sponsorenvertrag rund 98 000 Euro. Von dem Geld lieh er Wagner 45 000 Dollar bei acht Prozent Zinsen, damit der seine Schulden zahlen konnte. Eliud Kiptanui ist der Grund, warum es Volker Wagners Kenianer-Gruppe überhaupt noch gibt.

Eine Woche nach dem Lauf in Borgholzhausen. Wagner fährt mit beschlagener Windschutzscheibe durch den Hamburger Stadtverkehr. Seine Läufer haben beim Halbmarathon gerade 1900 Euro gewonnen, Startgeld inklusive. Wagner hat sich ein kleines Sichtfeld freigerubbelt. Sein Blick unter den buschigen Augenbrauen ist leer, er ist mit den Gedanken woanders. Sein bester Mann ist nicht mit nach Hamburg gekommen. Eliud Kiptanui ist wenige Tage vor dem Lauf zurück nach Kenia geflogen. Seiner Freundin ging es nicht gut. Weg war er. Kiptanui weiß, wie wichtig er für Volker Wagner ist, er hat seinen Manager in der Hand. Wagner macht sich Sorgen. »Mir ist klar, dass Eliud schon häufiger von anderen Managern angesprochen wurde.« Immer wieder wurden ihm Top-Läufer abgeworben. Selbst die, denen er 1000 Euro für eine prunkvolle Hochzeit zugeschossen hat, waren irgendwann weg. »Volker ist da zu gutmütig, er kann nicht böse werden«, sagt Natalya Wagner über ihren Mann, »ich weiß aber, dass ihm das große Schmerzen bereitet.«

Für die Kommentatoren in den Online-Foren gehört Volker Wagner weiter zu den modernen Sklaventreibern. Die Lebensbedingungen in den Bungalows in Diestelbruch mögen für deutsche Verhältnisse katastrophal sein. Und trotzdem. Lydia Rutto kann mit dem Preisgeld aus Borgholzhausen und Hamburg ihren fünfjährigen Sohn weiter auf eine Privatschule schicken. James Barmasai wird mit ein wenig Geld nach Kenia zurückkehren und der Aussicht, später ordentlich vom Laufen leben zu können. Isaac Boit wird die 100 Euro, die Wagner ihm mitgeben will, in seinen Mais- und Zwiebelanbau in Eldoret stecken. Aynenesh Niguse werde 250 Euro mit nach Äthiopien bekommen, sagt Wagner. Und auch Samson Kosgei und Hesbon Rono, die ihm zusammen mehrere tausend Euro Verlust einbringen, kriegen von ihrem Manager jeweils hundert Euro und neue Laufschuhe, damit sie überhaupt etwas nach Kenia mitnehmen können.

Volker Wagner selbst macht erneut Verlust. Er sagt, er denke schon seit Monaten darüber nach, wie es weitergehen soll. Er habe eine Idee: ein Massage-Zentrum in Äthiopien. »Da gibt es ein paar Anfragen von Spitzenläufern. Die kennen meine goldenen Hände.« Er erzählt, wen er schon alles kurz vor wichtigen Wettkämpfen noch fit geknetet habe. Erst mal will er aber als Manager weitermachen. Wenn Eliud Kiptanui bei ihm bleibt. »Ein Jahr noch als Zugabe.« Und dann vielleicht noch eins. Und dann noch eins. Es muss doch noch einmal klappen. Einmal noch so wie früher.

Fotos: Timm Kölln