»Ich wäre liebend gern ein Böser«

Peter Handke kann schon ziemlich schroff werden. Aber nur, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Sonst ist er »schändlich versöhnlich«, sagt er. Ein Gespräch über Widersprüche.

SZ-Magazin: Herr Handke, Sie waren 22, als Sie den Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld kennenlernten. In den folgenden 35 Jahren führten Sie einen Briefwechsel mit ihm, der jetzt als Buch erscheint. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihr erstes Treffen im September 1965?
Peter Handke: Ich bin ein Mensch, der furchtbar auf Einzelheiten abfährt. Ich weiß ganz genau, dass er einen Furunkel auf der Nase hatte.

Unseld fuhr eine Jaguar-Limousine mit dem Nummernschild
F-SU 1 und trank Weißwein aus silbernen Bechern.
Entsetzlich. Das schmeckt überhaupt nicht. Ich habe es nicht erreicht, dass das nach seinem Tod geändert wurde. Das war dann Pietät oder was auch immer. Diese Becher stehen für Gäste immer noch bedrohlich bereit.

Unseld entstammte dem Kleinbürgermilieu. Kam Ihnen sein Nummernschild neureich vor?
Ungeschickt eher. Siegfried, inzwischen darf ich ihn beim Vornamen nennen, war ein innerlich sehr scheuer Mensch, der eine eiserne Energie zeigen musste. Es war ein großer Zwiespalt in ihm, den ich würdigen konnte, als ich ihm näher kam.

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In der Villa Ihres Verlegers in der Frankfurter Klettenbergstraße hing ein Porträt Unselds von Andy Warhol. Besuchern las er gern vor, was Warhol im November 1980 in sein Tagebuch notiert hatte: »Traf Dr. Siegfried Unseld. Er ist der Verleger von Hermann Hesse und Goethe. Er sieht wirklich gut aus.«
Er hat zeigen wollen, dass er angekommen ist, von einem Fluchtpunkt, der ganz weit weg war. Und jetzt steht er als Riese da. Alles um ihn musste das Format des Riesigen haben. Das Warhol-Porträt finde ich unerträglich. Ich sage immer zu Ulla, seiner Witwe und heutigen Verlags-Chefin, ich gehe nicht in die Klettenbergstraße, wenn ich diesen Warhol anschauen muss. Da braucht man ein Stillleben. Das wäre gut für einen Verlag.

Wird der Warhol abgehängt, wenn Sie zu Besuch kommen?
Nein. Ich schau da nicht hin und sage, wir gehen in einen anderen Raum.

1981 kam es zum ersten großen Krach mit Unseld, weil Sie ihm vorwarfen, mit Marcel Reich-Ranicki zu fraternisieren. Als Sie bei Ihrem Verleger einen Band mit Aufsätzen des Kritikers entdeckten, schrieben Sie: »Die Zeit der Lügen muss ein Ende haben. Schon an jenem Tag, als ich am Frühstückstisch in Frankfurt in dem Sammelwerk des übelsten Monstrums, das die deutsche Literaturbetriebsgeschichte je durchkrochen hat, die Widmung an Dich, meinen Verleger, gelesen habe: ›In alter Verbundenheit‹, da hätte ich die Pflicht vor mir und dem, was mir noch vorschwebt, gehabt, für immer meine Arbeiten aus Deiner sogenannten Obhut zu nehmen. Unsere Wege trennen sich hiermit, unwiderruflich.«
Das war ein völlig sinnloser Amoklauf, aber er hat mich, so blöd dialektisch das klingt, auch befreit. Was Reich-Ranicki zu Langsame Heimkehr geschrieben hat, war nackter Vernichtungswille. Er wollte mich weghaben. Und am nächsten Tag hat Siegfried Unseld ihn empfangen, ihn bewirtet. Ich fühlte mich verraten und musste einen Auslauf suchen aus mir. Da habe ich eben losgelegt. Ich bedaure das nicht.

Warum haben Sie Ihre Ankündigung, Suhrkamp zu verlassen, nie wahrgemacht?
Ich habe ein paar Mal im Leben so Ewigkeitserklärungen gemacht, aber ich bin schändlich versöhnlich. Ich wäre liebend gern ein Böser, aber es ist nicht der Fall.

Nach einem Krisengespräch mit Ihnen notierte Unseld: »Er ›hasste‹ meine ›verbrüdernde, zersetzende, krebserregende‹ Umarmung mit den Medienpäpsten.« War das so?
Ich habe damals nicht begriffen, dass er auch ein Händler und Kaufmann ist, eine Art Drehmännchen. Wie eine Karussellfigur musste er zu allem, was im Umkreis passierte, ein gutes Gesicht machen, oder zumindest ein kommunikatives.

Sie sollen Unseld gezwungen haben, das von Reich-Ranicki signierte Buch vor Ihren Augen in den Papierkorb zu werfen.
Jetzt wollen Sie auf dem Thema Reich-Ranicki drei Stunden herumgaloppieren, oder?

1994 sagten Sie: »Nie werde ich Reich-Ranicki auch nur das Kleinste verzeihen können.« Sind Sie heute milder gestimmt?
Wollen wir den jetzt seinen Lebensabend ruhig verbringen lassen? 15 Jahre meines Lebens hat mich das wirklich beschäftigt. Auch Martin Walser war ja fast krank, besessen. Da bin ich noch ein harmloser Fall.

Reich-Ranicki hat in letzter Zeit versucht sich mit einigen Autoren zu versöhnen.
Ich habe es gehört. Sogar mit Ulla Berkéwicz. Die hat mir erzählt, er kam eines Tages in ihr Vorzimmer angekeucht, mit letzter Kraft, unangemeldet. Und dann saßen die einander gegenüber. Der eine hat gekeucht, die andere wahrscheinlich milde gelächelt. Ich habe keine Lust, mir das vorzustellen. Es ist eine allgemeine Weltbewegung in dem armen alten Mann, was auch immer Versöhnen ist. Aber haben wir nicht andere Probleme? Er ist überhaupt kein Problem mehr für mich. Es ist nichts zu versöhnen. Es ist vorbei. Ich bin der, der dies gemacht hat, und er ist der, der das zusammengeschustert hat. Ich glaube, das ist unsterblich, wie ich es in der Lehre der Sainte-Victoire geschrieben habe: Ein paar getrocknete Haufen liegen herum von dem Hund. Das wurde mir übel genommen als Antisemitismus, aber da konnte ich auch nur staunen drüber. Er lebe in Frieden. Ich sage das ganz ernsthaft.

Nach einem Ihrer Wutbriefe schrieb Ihnen Unseld 1993: »Lieber Peter, ab und an hätte ich nicht übel Lust, dem einen oder anderen Autor einen Brief zu schreiben, derart, wie Du ihn mir geschrieben hast. Aber im Autor/Verleger-Stück braucht es ja wohl unbedingt das umgekehrte Rollenspiel, in dem es fettgedrucktes Gesetz ist, ausschließlich nach Verletzung und Wahrheit des einen Protagonisten zu fragen.«
Dieses lateinische Periodensystem klingt so, als ob ein Ghostwriter ihm das geschrieben hätte, vielleicht ein Lektor. Wenn er wusste, dass das nicht publiziert wird, konnte er auch unendlich verletzend sein. Das Manuskript von Mein Jahr in der Niemandsbucht habe ich mit äußerster Sorgfalt mit Bleistift geschrieben. Da hat er mir eines Abends im Schlosshotel in Kronberg wirklich gesagt, das ist kein ablieferungsfähiges Manuskript, wenn es mit der Hand geschrieben ist. Da bin ich durchgedreht. Gehen Sie nach Kronberg ins Schlosshotel. Vielleicht ist das noch in der Luft, wie ich da gebrüllt habe. Viele meiner Wutausbrüche, es waren 63 im Laufe meiner Jahre, wenn nicht mehr, bedaure ich, aber dass ich da losraketisiert habe, bedaure ich nicht.



Als Unseld auf Ihre 530 handgeschriebenen Seiten nach drei Wochen immer noch nicht reagiert hatte, packte Sie abermals die Wut.

Ich war verwöhnt. Er hatte immer sehr rasch reagiert. Deshalb war ich verängstigt, dass ich einen Scheiß getrieben habe mit Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ich hatte noch nie so eine lange Geschichte geschrieben. Er hätte mir doch irgendein Zeichen geben können – Bin auf Seite 143 – aber es kam überhaupt nichts.

In seiner …
Sagen Sie mal was Nettes zu mir. Sie blättern da wie Untersuchungsrichter in Ihren Aufzeichnungen.

In seiner Verlags-Chronik bezeichnet Unseld Sie einmal als »zärtlichen Terroristen«.
Das ist ein Oxymoron, ein seltsames. Ich bin auf keinen Fall ein Terrorist, und zärtlich bin ich höchstens zu Kindern. Zart ist was Schönes, aber mit diesem zärtlich können Sie mich jagen.

Einmal machten Unseld, Martin Walser, Rudolf Augstein und der Kritiker Reinhard Baumgart gemeinsam Urlaub auf Sylt. Der Walser-Biograf Jörg Magenau schreibt über diese Zusammenkunft: »Als Unseld, auf Wasserskiern hinter Augsteins Boot geseilt, versuchte, sich auf die Wasseroberfläche hochzuarbeiten, das nicht schaffte, aber auch nicht aufgeben wollte und angestrengt weiterkämpfte, sagte Walser, der diesen Kampf vom Strand aus beobachtete, zu Baumgart: ›Da schau, deswegen ist er mein Verleger.‹«
Das ist auf Fabel getrimmt. Ich bin auf Siegfried Unseld angesprungen, als ich mit meiner kleinen Tochter in Kronberg gelebt habe. Er kam am Abend oft vorbei und hat mich nur schweigend angeschaut. Da habe ich gesehen, was er für warme, leuchtend schöne Augen hat. Da habe ich Vertrauen gehabt. Ich bin ja kein kommunikativer Mensch. Das ist ja absurd für einen Schreiber, dass er offen sein muss.

Unseld schrieb Ihnen, Sie seien »der wichtigste Autor« seines Verlags. Glaubten Sie ihm das?
Nein. Mir selber hätte ich es schon geglaubt, aber ihm nicht. Ich wusste, das ist Programmmusik. Ich bin schon eitel, aber meine Eitelkeit ist so verborgen, dass die nur zu unheiligen Zeiten herauskommt. Das ist die schlimmste Eitelkeit. Die wirklich eitlen Menschen wissen nicht, dass sie eitel sind. Deswegen sind sie so angenehm, so harmlos.

Leiden Sie unter Ihrer Eitelkeit?
Ja. Ich bin natürlich dagegen.

Wie äußert sich das?
Dass ich zu mir selber sage, mit Recht, ich bin ein Arschloch. Ich habe kein Recht, das und das von mir zu denken, also mich selber zu erhöhen.

Sie sagten mal: »In mir ist von Kind an eine seltsame Bereitschaft zur Entzweiung. Es gibt keinen, den ich nicht in zehn Minuten bis an sein Lebensende gedemütigt hätte.«

Das wird mir jetzt dauernd um die Ohren gehauen, aber ja, das war schon so. Dass ich manchmal so schroff werde, kommt aus einem inneren Stolz, den ich normal im Leben nicht zeige. Aber wenn ich aufs Spiel gesetzt werde, dann werde ich etwas anderes, als ich alltäglich bin. Dann verkörpere ich die Rolle, die ich bin: der Schriftsteller. Und ihr habt euch gefälligst daran zu halten. Da kriege ich fast biblische Zustände.

Dem FAZ-Journalisten Jochen Hieber sollen Sie einen Faustschlag versetzt haben.
Eine Ohrfeige war das. Ich wollte ihn mir vom Leibe halten. Es war ein Festabend, und er hat sich extra hinter mich gesetzt und mir dauernd Sticheleien ins Ohr gezischelt. Irgendwann habe ich mich umgedreht und ihm eine runtergehauen. Und dann hat er geweint und gesagt, er würde mich doch so lieben. Der Richter würde sagen, das war höhere Gewalt.

Ist Hieber der einzige Kollege von uns, den Sie geohrfeigt haben?
Ja. Das genügt doch. Pars pro totis.

Nach einem Treffen mit Thomas Bernhard und Ihnen notierte Unseld: »Das Überraschendste: Thomas Bernhard und Peter Handke, die ja nicht nur von der österreichischen Umwelt immer mehr polarisiert werden, fanden Gefallen aneinander.« Richtig?
Als ich jung war, habe ich Thomas Bernhard wirklich verehrt. Als ich Frost gelesen habe, dachte ich: Wenn ein Österreicher so wüst und kräftig und zugleich mit genauen Umrissen schreiben kann, kann man sich einfach freuen, in dem Land zu sein. Ich wollte ihn aber nicht besuchen. Unseld hat mich mitgeschleppt, und aus meiner schwächlichen Höflichkeit bin ich mitgegangen. Ich bin nicht einmal neugierig, und ich besuche auch gar nicht gern Schriftsteller, außer es geht um Fußball oder man schaut in die Landschaft. Bernhard war ein reizbarer Mensch. Man hat unter dieser doch fast umgänglichen Oberfläche gespürt, er könnte denken: Was tue ich mit denen? Mir geht es genauso.

Wann begann die Entfremdung zwischen Ihnen?
Es geht nicht, wenn das, was der andere macht, nicht mehr dem eigenen Fernziel entspricht. Irgendwann haben wir gespürt, dass wir nichts mehr miteinander zu schaffen haben, im Wortsinn. Ich habe mir gewünscht, so etwas lesen zu können wie die Auslöschung. Ich bin sogar mit diesem dicken Buch fast demonstrativ durch Salzburg gegangen und habe das im Gehen gelesen, damit die Leute sehen, dass ich Thomas Bernhard lese. Aber dann kam ich an eine Stelle, wo Ingeborg Bachmann verwandelt vorkam in einem Traum, fast 30 Seiten lang. Das war ein derartiger Kitsch. Da war mein Demonstrationswille nicht mehr vorhanden. Es tut mir leid, nicht für mich, sondern für das Werk von Thomas Bernhard.

Unseld starb nach langer Krankheit im Oktober 2002. Wie verlief Ihre letzte Begegnung?
Als er krank war, kam ich in die Klettenbergstraße zu Besuch. Er hat sehr langsam gesprochen, aber die Wörter wurden schon noch Worte. Er machte sich auf eine sanfte Weise über sich und alles lustig. Ich fand das vorbildlich. Es gab Pflegerinnen, die ihn betreut haben. Eine war aus Bosnien. Er hat mich ihr vorgestellt: Das ist der Peter Handke. Sie müssen wissen, der hat viel Erfolg bei Frauen. Dabei hat er mir zugezwinkert. Das war das Letzte, was ich in Erinnerung habe.

Denken Sie oft an ihn?
Siegfried Unseld, meine Mutter und Nicolas Born sind die drei Menschen, die mir nach ihrem Tod erschienen sind. Das ist etwas mystisch, aber das waren keine Träume. Ich habe gedacht, die sind jetzt da und schauen mich an, ein Durch- und Durchgehen, wie wenn einer mit einem Schneidbrenner einem durch die Seele fährt. Alle drei hatten was Ermahnendes an sich, als ob man sich in einer gewaltigen Kathedrale befände, und ich würde von ihnen stumm mit den Augen zurechtgewiesen.

Wenn Sie bei Veranstaltungen auftreten, fühlen sich die Menschen von Ihnen eingeschüchtert.
Hoffentlich!

Und werden linkisch.
Dabei bin ich der Linkischste von allen. Wenn ich genug Selbstironie habe, kann ich öffentlich sein, aber das passt dann nicht zur Öffentlichkeit. Es ist ein Widerspruch, wenn die öffentliche Person sich selber über ihre Öffentlichkeit lustig macht. Morgen zum Beispiel bin ich eingeladen beim österreichischen Bundespräsidenten. Da werden Kameras sein, und ein Schauspieler und ein Kind werden was von mir vorlesen. Ich bin jetzt schon bedrückt, weil ich nicht weiß, wie ich das spielen soll. Ich bin ein ganz guter Spieler, wenn ich mit mir allein bin, sonst kommt man ja nicht durch den Tag. Aber mit anderen in der Öffentlichkeit bin ich ein Falschspieler.

Was werden Sie Ihrem Bundespräsidenten sagen, wenn er Sie fragt, wann Sie endlich nach Österreich heimkommen?
Das hat er schön öfter gefragt. Wenn er mir das Jagdschloss schenkt, das ihm als Sommerresidenz zusteht, würde ich schon hingehen.

Geht’s auch drunter?
Das Jagdschloss liegt ziemlich hoch in den Bergen. Da ginge auch noch was drunter.

»Die scheußlichsten Wörter der Bundesrepublik kommen von Journalisten.«

Sie leben seit 22 Jahren in Chaville bei Paris …
… seit 22 Jahren, sechs Monaten und 13 Tagen.

Kriegt Sie noch jemand hier weg?
Ich möchte nicht, dass irgend so ein Steuerberater oder Journalist in meinem Haus wohnt. Sonst würde ich vielleicht weggehen.

Sie haben zwei erwachsene Töchter, die Ihnen vermutlich nahelegen, endlich das Schreiben von E-Mails zu erlernen. Wann knicken Sie ein?
Wenn Sie das Wort einknicken noch mal verwenden, stelle ich Sie hinaus in den Regen. Einknicken, sich hinauslehnen, verschnarcht: Die scheußlichsten Wörter der Bundesrepublik kommen von Journalisten.

Sie sind seit vielen Jahren mit dem Verleger Hubert Burda befreundet. Will er Ihnen E-Mails schreiben?
Hubert Burda kann selber keine E-Mails schreiben. Der kann nicht einmal SMS schreiben. Das darf man ihm nicht übel nehmen. Das machen ja die anderen für ihn.

Hubert Burda ist Leiter einer alljährlichen Konferenz über digitales Leben.
Diesen Widerspruch können Sie ruhig durchgehen lassen. Das gibt Vertrauen, für mich jedenfalls. Ich habe SMS erst dadurch gelernt, dass meine Tochter Leocadie ein Jahr in Berlin war. Das ist eine ganz andere Art sich auszudrücken. Ich meine nicht die Floskeln und die Kürzel. Man muss anders denken. Es tut mir gut, diese SMS zu schreiben und mich zur Lakonie zu verjüngen. Ich fange sachlich an, aber ohne dass ich es will, kommt ein Bild dazu und ein Gefühl, was man halt Poesie nennt.

Haben Sie ein iPhone?
Was ist denn das? Ich weiß nicht, was ich habe, so ein ganz zerkratztes. 264 Nachrichten habe ich geschickt im letzten Jahr, gut, nicht? Ich bin nicht sehr geübt und kann nur staunen, wie die Leute in der Metro tupfen können mit den Buchstaben. Wie die Derwische sind die mit den Fingern. Ich haue nach drei Buchstaben immer daneben.

Was macht ein Peter Handke aus 160 Zeichen?
(holt ein altes Nokia-Handy) Das habe ich zuletzt – wie sagt man da?

Gesimst.
Also gesimst: »Seit Langem kein Wort von Dir. Sogar im Hause nehme ich jetzt zwei Stufen auf einmal und denke an Dich.«

Liest Leocadie Ihre Bücher?
Das weiß ich nicht. Ich würde es schon wissen wollen, aber nur, wenn sie es erzählt. Ich scheue mich, sie zu fragen, und sie scheut sich auch. Das ist doch das Schönste, die menschliche Scheu.

Nach einem Treffen mit Samuel Beckett sagten Sie: »Da waren so richtige Bücklingsmenschen um ihn herum, und ich dachte: Um Gottes willen, nur nicht so enden, dass mit 70 jeden Tag drei Universitätsassistenten mich umlungern!« Geht es Ihnen heute ähnlich?
Dieses Problem habe ich mir größer vorgestellt. Leider umlungert mich niemand mehr. Manchmal kriege ich Abschlussarbeiten zugeschickt von Studenten. So was lese ich auch immer gerne. Das sind schöne Lebensrufzeichen.

Sie werden am 6. Dezember 70. Wird man sich selber im Alter mehr und mehr zur Farce?
Manchmal habe ich eine Zuversicht, es könnten mir noch die Augen und Ohren nicht nur im Katastrophensinn aufgehen. Aber heute sind alle Filme, alle Zeitungen, alle dritten Seiten, alle siebten Seiten voll mit Geschichten über das Siechtum des Alters. Das Wort dement kann ich schon nicht mehr hören. Das sollte man einfach streichen. Oder inkontinent. Statt Kontinent liest man viel öfter inkontinent. Statt Grenzen liest man nur von grenzenlosem Scheißen. Der Sog ist schon stark. Sie entkommen dem Grauenmachen nicht.

Beckett ist am Ende seines Lebens ins Altersheim gegangen.
Ich weiß. Ich denke oft an ihn. Es kommt aufs Heim an.

Sie haben Österreich mal als großes Altersheim bezeichnet.
Nein, nein, nein. Das war ein anderer Dichter. Ich bin Patriot.

Gibt es, außer Seniorenermäßigungen, Vorteile des Altseins?
Ich hoffe, nein, ich bestehe drauf! Ich habe beschlossen, dass es mit mir nicht so wird wie auf Seite drei. Max Beckmann, der ja sehr herzkrank war und wusste, dass er relativ früh sterben wird, hat mal gesagt: Ich beschließe, mit höchster Energie mein Leben zu Ende zu leben. Energie heißt ja nicht, dass man das mit Geschrei oder mit Muskeln macht. Das kann auch eine sehr sanfte, sehr weitherzige Arbeitsenergie sein. Was man nicht schafft: dass das Herz immer weiter wird.

Wie alt sind Sie auf Ihrem inneren Passfoto?
Ist das ein neuer Ausdruck im Feuilleton? Früher habe ich noch Automatenfotos gemacht, aber schon lange bin ich nicht mehr im Stand der Gnade, dass ich
ein Automatenfoto von mir anschauen will. Ich wäre gern schwerer, nicht körperlich. Ich wünsche mir, die Schwere meiner Jahre zu verkörpern. Irgendwie bewege ich mich noch zu jung, finde ich.

Max Frisch sagte mit 70: »Man ist im Alter ungeheuer bedroht von Langeweile, Langeweile vor sich selbst.«
Es langweilt mich schon, dass man sich immer dieselben Sprüche macht. Langeweile ist etwas Furchtbares, eine Krankheit. Man trifft einen Menschen, den man nicht kennt, und nach zwei Sätzen denkt man: Das kenne ich doch schon, diese Figur habe ich schon tausendmal erlebt.

Helfen Frauen gegen Langeweile?
Auch kein entscheidender Unterschied. Sie sind in der Regel ein bisschen weniger langweilig als Männer, weil sie gefährlicher sind.

Und einen auf Trab halten?
Trab ist nicht das Wort. Wir sind nicht auf der Trabrennbahn.

Ihre Frau Sophie Semin lebt in Paris, Sie in Chaville. Wie ist Ihr Verhältnis?
Worum geht es denn jetzt plötzlich? Jetzt ist es aber genug!

Sie haben sich ein Fahrrad gekauft.
Yes, Sir. Nach dem Tun habe ich ein Bedürfnis, aus der Beengung herauszukommen und an Theken herumzustehen. Fernsehen mag ich dann nicht, aber an der Bar zu stehen ist wirklich im Wortsinn eine Lösung.

Einen Führerschein haben Sie immer noch nicht?
Haben Sie keine anderen Probleme mir nahezubringen? Mit Gottes Gnaden gehe ich immer noch mit Freuden zu Fuß. Vor zwei Tagen bin ich 30 Kilometer quer durchs Land gegangen. Das ist manchmal ein bisschen langweilig, aber es ist eine Existenzform, mit Betonung auf Form.

Wie länge hält bei Ihnen ein Paar Stiefel?
Das sind keine Stiefel. Es sind hohe Schnürschuhe. Die habe ich über 20 Jahre. John Lobb. Sie kennen die Marke, oder?

Können Sie sich vorstellen, dass Menschen in hundert Jahren Peter Handke lesen?
An dieser Stelle müssen Sie im Interview in Klammern einfügen: zieht belämmert die Augenbrauen hoch.

Ist das Leben eines Schriftstellers wie ein umgekehrter faustischer Pakt: Man will Unsterblichkeit erlangen und zahlt dafür den Preis eines miesen Lebens?
Nachwelt gibt mir nichts. Manchmal denke ich, das und das von mir kann nicht vergehen, aber das ist Vanitas vanitatum. Dieses Barockgefühl habe ich zunehmend im Alter. Das ist alles nicht sinnlos, aber alles ist eitel Tand. Und trotzdem, in dem Moment, wo man ein Gefühl episch schweben lässt, denkt man, jetzt bin ich ein bisschen geschützt vor der Vergänglichkeit. Das ist dann nicht gerade wie beim Film fünf Minuten danach wieder vorbei, aber tags darauf ist es wieder flöten gegangen. Kinder führen weiter, immer noch.

Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?
Mein Grabspruch ist: Bin hinten.

Muss es nicht heißen: Bin unten?
Nein. So wie man bei jemandem an die Haustür kommt, der im Garten arbeitet und ein Schild an die Tür gehängt hat: Bin hinten. Sie sind Materialisten, und ich bin ein Träumer. Die Träumer sind hinten, die Materialisten unten.

Fotos: dpa; rtr; afp