Das zerstörte Mädchen

Sie ist eine erwachsene Frau, aber sie wünscht sich, sie wäre keine. Sie will nicht groß sein. Sie will nicht essen. Sie will nur, dass die schrecklichen Erlebnisse ihrer Kindheit doch noch einen Sinn erhalten, irgendwie.

Sabine B., 41 Jahre alt, 134 Zentimeter groß, 29 Kilogramm schwer, zu Hause in ihrer Wohnung in Zürich.

Sie ist jetzt 41 und hat Brüste. Nicht dass die hässlich wären oder schmerzten. Aber lieber wäre ihr, Sabine hätte keine.

Sie schminkt die Lippen rot und stöckelt durch die Stadt, Kafka im Gepäck oder Frisch, manchmal Funke, Die wilden Hühner oder Tintenherz.

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Eigentlich will sie keine Frau sein, sagt Sabine B. über die, die sie ist, geboren am 8. August 1971, vier Wochen zu früh. Ganz klein will sie sein, leicht und klein und hübsch, damit jemand Sabine umarmt.

Dafür hungert sie.

Vielleicht.
Sabine listet auf, was sie isst: Habe mir 2 Kichererbsenbällchen gegönnt, 1 Bananenmuffin > Durchfall 5x. War ich heute glücklich?

Vor zweieinhalb Jahren, kaum waren die Brüste gewachsen, hatte Sabine die erste Blutung. Sie schlief, achtunddreißig, bei Mami in Uster nahe Zürich, es war Nacht, Blut in der Toilette, rotes rotes Blut, Mami, ich sterbe, Mami, hilf.

Die Mens hatte sie nur fünf Mal. Zum Glück, sagt sie mit hoher heller Stimme. Manchmal denkt sie, wie es wäre, jemand legte seine Hand auf Sabines Brust, ganz leicht, und streichelte sie, aber nur streicheln, nur streicheln.

K. saugte, sagt sie.

K. war elf Jahre älter, Sabines Trainer, ein Volksschullehrer im Aargau, Meister im Pferdsprung, Mitglied des Schweizerischen Arbeiter-Turn- und Sportverbands Satus. Sabine B. turnte, seit sie sieben war. K. holte sie, weil sie so gut turnte, vom Zürcher Oberland nach Möriken-Wildegg, sie schlief in seinem Haus unter dem Dach, Dienstagabend, Freitag bis Sonntag, sechs Jahre lang, Mami hatte nichts dagegen, Mami war beschäftigt, sie hatte einen neuen Mann, und Dädi war weg.

K. saugte, bis sie blutete, sie war zwölf, dreizehn, sie dachte, das muss vielleicht so sein. Er sagte, ich mache das nur, weil ich dich besonders mag. K. nannte sie Käferchen, dann Säuli, Schweinchen, weil ich zu dick bin, er will, dass ich sechs Kilo abnehme, von sechsunddreißig auf dreißig, manchmal, wenn ich nach dem Training nackt vor ihm stehe, geht er auf allen Vieren und spielt einen Hund und beißt mich in den Hintern. Dann muss ich lachen. K. ist lustig, alle mögen ihn, die Leute im Dorf, seine Schüler, die anderen Turnerinnen, jeden Morgen stellt er mich auf die Waage, jeden Abend. Und dann holt er mich in die Badewanne oder in sein Bett, leckt und reibt, liest dann laut aus der Geschichte, die er am nächsten Morgen seinen Schülern vorlesen wird, Jim Knopf und die wilde 13.

Lieber K., schrieb Sabine B., ich möchte Dir noch einmal danken für das schöne Wochenende! Weißt Du, das freut mich immer, wenn ich nach Möriken kommen darf.
Ich schätze dich sehr, mein liebes Käferchen. Ein liebes Grüßchen von K.

Manchmal, da war Sabine vielleicht fünfzehn und oft traurig, vielleicht siebzehn, schickte er mir ein Gedicht.

Weil deine Augen so voller Trauer sind,
Und deine Stirn so schwer ist von Gedanken,
Lass mich Dich trösten, so wie man ein Kind
In Schlaf einsingt, wenn letzte Sterne sanken
.

Sie ist jetzt 41, 29 Kilo schwer, 134 Zentimeter hoch, Schuhgröße 34, Sabine trägt einen Büstenhalter aus der Kinderabteilung und kennt das Gedicht auswendig.

Die Sonne ruf ich an, das Meer, den Wind,
Dir ihren hellsten Sonnentag zu schenken,
Den schönsten Traum auf Dich herabzusenken,
Weil Deine Nächte so voller Trauer sind.

Heute drei Gurkenscheibchen auf einmal in den Mund gestopft – widerlich! 1 Reispudding mit Studentenfutter, 2 Esslöffel.

Sabine B. wohnt in der Altstadt von Zürich nahe am Fluss, ein Zimmer, eine Küche, eine Dusche, bezahlt von der staatlichen Invalidenversicherung, sie steht spät auf, vielleicht um zehn, vielleicht um eins, liest im Bett, schluckt Seroquel, 25 Milligramm gegen dieses Nebeneinander, Miteinander, Durcheinander, das Sabine ist, sie duscht, rasiert die Beine, die Arme, die Scham und schneidet sich blutig dabei, sucht mit der Lupe nach einem letzten Haar, duscht, schrubbt, wäscht das kurze Haar auf ihrem Kopf, zuerst mit Shampoo, dann mit Weichspüler, trägt Creme ins Gesicht, Nivea Vital gegen die ersten Falten, besprengt sich mit Parfüm.

Sabine will sich nicht riechen.
Dann isst sie ein Sojaflan, 97 Kilokalorien.

Manchmal rennt sie auf die Straße und kauft ein Muffin, isst es schnell, verschluckt sich, würgt und hustet, rennt nach Hause, schluckt Dulcolax, ein Abführmittel, notiert, wie oft sie auf der Schüssel sitzt, heute 19x.

K. zupfte Sabines erstes Schamhaar aus.

Weil deine Augen so voller Trauer sind,
Und deine Stirn so schwer ist von Gedanken.

Ein Jahr lang hing das Gedicht über Sabines Bett.

Am Freitag gab es Aprikosenkuchen im Restaurant, das Mädchen neben dem Lehrer, sie aß die Spitze, er den Rest. Manchmal nahm er Sabine mit ins Kino, 101 Dalmatiner, Elliot, das Schmunzelmonster, sie lehnte ihren Kopf an seinen Arm, schlief weg. Einmal fuhr er mit Sabine und Mami nach Deutschland in den Europapark, ihr schönster Tag, Sabine ist glücklich, sie tanzt vor Freude, K. und Mami und ich, K. kauft Sabine ein Eis, Sabine steckt es heimlich ins Gebüsch. Will jemand ihr etwas schenken, bettelt sie um ein Schweinchen aus Plüsch.

Manchmal, im Bett, sagt er, ich bin so traurig, Säuli, tröste mich, dann streichelt sie ihn.

Sein Samen stinkt nach Fisch.

Lieber K., Deine Liebe kannst du so gut zeigen, tschüssli, es liebs Grüessli vom Säuli – Aktenstück Nr. 3 zuhanden der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, StA-Nr. 98-1613.

Der Schwebebalken war ihr liebstes Gerät, zuerst Grätschstütze, dann Stützhandstand, dann Spagat, eine halbe Drehung, dann Doppelpirouette, Spagatpirouette, Handstanddrehung, Handstand mit halber Drehung, Rondat, dann Salto gestreckt, Stand. K. lacht und lobt, Kieferhöhlenentzündung im April 1985, Fraktur Kleinfinger, Juli 1985, Grippe im März 1986, sie stürzt immer wieder, oft auf den Kopf, und rennt in Wände, Schleudertrauma Wirbelsäule bei Salto, Mai 1986.

Nichts tut weh, wenn er die Glücksspritze macht. Sie hat nie Hunger, fühlt keinen Schmerz, keine Müdigkeit, keine Temperatur, Sabine verbrüht sich beim Duschen und merkt es nicht.

Seine Hand so warm.
Ich bin jetzt 41.
Sabine hat Brüste.

Sie schreibt, was ihr zufliegt, in ein kleines dünnes Heft: Was hält mich heute, 16.8.11 am Leben? Möchte ich sterben? Ich sehne mich nach Liebe, nach einer großen Umarmung, die nie aufhört.

Mit roten Lippen stöckelt sie durch die Straßen, zwei Bücher in der Tasche, weil sie sich nicht entscheiden kann, welches sie lesen soll, Sabine B. setzt sich in ein Restaurant oder Café, »al Leone«, »Sprüngli«, »NZZ Bistro by tibits«, »Kronenhalle«, »Karl der Große«, trinkt Tee, manchmal Kaffee, weil Kaffee den Hunger stillt, liest und liest, legt das Buch zur Seite und schaut sich um, genießt es, wenn einer auf ihre roten Lippen starrt, ihre roten Nägel, das spurlose Gesicht, einer sagte, kommst du mit zu Diesel? Zu Diesel? Ein Jeansladen! Wozu? Dort gibt es Umkleidekabinen, von innen verschließbar. Guter Sex braucht nur drei Minuten.

Am liebsten aber streunt sie durch Bibliotheken und Buchhandlungen.

18.8.11, 22:15 Uhr: Ob es im Himmel wohl Bücher gibt?


Sabine friert gern

Der Turnlehrer K., der sie missbrauchte, wurde zu etwas mehr als drei Jahren Haft verurteilt und ist längst wieder frei. Sabine B. leidet bis heute.

Sabine friert gern, weil Frieren Kalorien verbraucht. Manchmal duscht sie so kalt, dass es wehtut. Manchmal rennt sie in eine Bäckerei, schaut sich die Auslagen an, kauft nichts, rennt heulend weg. Sie möchte, es wäre wie einst, als sie keinen Hunger hatte, keine Müdigkeit, keinen Schmerz.

Nun erwache ich nachts, weil der Magen krampft oder ein Muskel.

Nicht einmal zum Schlafen reicht die Kraft, sagt Sabines Mädchenstimme.

Sie schreibt: K. was my first love, K. was my future, was my past.

Heute 20-mal auf der Toilette.

War sie zu Hause bei Mami in Uster, las sie seine Briefe.

Liebe Sabine! Es ist schön, dass Du wieder da bist! Dein K.

Lieber K., eigentlich weiß ich gar nicht, was ich Dir schreiben möchte, aber irgendwie spüre ich einfach etwas, und das bringt mich dazu, Dir zu schreiben – Aktenstück Nr. 6.

Im Herbst war Trainingslager der Kunstturnerinnen Möriken-Wildegg. Nacht für Nacht holte K. ein anderes Mädchen in den Schlafsack, Sabine weinte, vielleicht bin ich ihm zu dick, vielleicht war ich heute frech, schlecht auf dem Balken, zu unkonzentriert.

Hallo liebe Mami. Das Herbstlager ist toll. Heute ging es mir im Training besser als gestern. Nur einmal, nach dem Einturnen, hatte ich wieder Kopfschmerzen. K. meinte, ich hätte Fieber. Aber das glaube ich nicht. Also tschüssli, Mami, einen großen Kuss für dich, dein Bindli. I love you. I love you. I love you.

Meine liebe Mami, freut es dich, dass ich dir einen Brief geschickt habe?

Zurück im Aargau fragte er: Wir machen doch nichts Verbotenes, nicht wahr, mein Schweinchen?
Wir machen nichts Verbotenes, sagte sie.
Und es gefällt dir doch auch?
Es gefällt mir auch, sagte Sabine, vierzehn.
Schade nur, sagt er jetzt, dass ich dir nie ganz ganz ganz nahe sein kann.

Ich war ihm zu eng.

Sabine B., 41, sitzt auf ihrem Stuhl, die kalten Hände auf die schmalen Knie gelegt, steif und leise: Eigentlich gefiel er mir nicht. Aber er war Gott. Und Gott muss nicht gut aussehen.

Er brachte Bravo-Hefte, Dr. Sommer zur Aufklärung, K. macht die Glücksspritze, sie schreit. Doch am Morgen, wie jeden Morgen, ist sein Tisch gedeckt, alles an seinem Platz, K. lacht und lobt, sie isst, was er vorsetzt, Müsli, einen Joghurt, Mocca, stichfest.

Sie las, weil K. Schach spielte, die Schachnovelle von Zweig.

Dann, irgendwann im Jahr 1985, nach einem Abgang vom Schwebebalken, als K. grob an ihre Brust griff, dass es wehtat, habe sie, sagt Sabine B., beschlossen, nicht mehr zu wachsen, Mädchen zu bleiben für alle Zeit, zu eng für jeden, der in ihr Innerstes wolle.

Seine Hand so stark.
Seine Schamhaare im Mund.
Mocca am Morgen.

Hallo Mami, nach dem Training lief ich voll in eine Mauer hinein und schlug mir das Knie auf. Also tschüss, Mameli, deine Bindli. P.S. Ich liebe dich! Aua, mein Knie schmerzt. Ich muss, glaube ich, eine Salbe drauftun.

1987 wurde Sabine B. Kunstturnmeisterin des Satus, Schweizerischer Arbeiter-Turn- und Sportverband, Mami schaut zu und zieht, statt bei Sabine zu feiern, mit dem neuen Freund davon, ich schmeiße die Medaille in den Müll, schneide mir am nächsten Tag das lange Haar vom Kopf.

Hallo liebe Mami. Wir wollen doch immer lieb zueinander sein und einander immer helfen, gell?

Gestern, haucht jetzt Sabine B. auf ihrem schmalen Stuhl in ihrem kleinen Raum, gestern rief sie achtmal an, ich nahm nicht ab, zu viel ist zu viel.

Ohne meine Mami, sagt Sabine, kann ich nicht sein.

1 Apfeltasche, 2x Kaffee, 1 Suppe.

Sie notiert in ihr Heft: Als der Arzt letzte Woche meinte, ich sähe zum Glück nicht aus wie eine, die morgen schon verhungere, war ich empört. Fand er mich vielleicht nicht dünn genug?

Manchmal isst Sabine Watte.

Ich hasse meine Brüste. Sie erinnern mich daran, dass ich Frau geworden bin. Sie erinnern mich an meine Mutter. So will ich nicht enden. So fleischig, sagt sie und reibt die kalten Hände.

Auf hohen Absätzen wankt Sabine durch die Straßen, zwei Bücher in der Tasche, weil sie sich nicht entscheiden kann, welches sie lesen soll, Die wilden Hühner oder Montauk von Max Frisch, Sabine B. setzt sich in die »Kronenhalle«, trinkt Tee, manchmal Kaffee, weil Kaffee den Hunger stillt, liest und liest, legt das Buch zur Seite und schaut sich um, genießt es, wenn einer auf ihre roten Lippen starrt, ihre roten Nägel, das Gesicht ohne Vergangenheit.

Wir machen doch nichts Verbotenes, gell, mein Säuli?
Wir machen nichts Verbotenes.

Sie sitzt in der »Kronenhalle« am Tisch von James Joyce, holt das kleine schmale Heft aus der Tasche, den Stift.

19.8.11, 15:05 Uhr: Was ist falsch an mir? Ich habe doch alles getan, was du verlangtest. Habe Diät gehalten, diese grässlichen Moccajoghurt gegessen, meine Turnschlappen anständig hingestellt, deine Launen ertragen, habe geweint und gehofft, mein Unterhöschen am nächsten Morgen aus deinem Bett geholt – geschwiegen!

Sie schrie sich in Ohnmacht, wenn Mami Würste briet. Mami, da war Sabine dreizehn, trat eines Tages in den Umkleideraum, Sabine war nackt, K. saß vor ihr, seine Hand an ihrem Gesäß, und Mami, meine Mami dreht sich einfach um, geht weg, meine Mami lässt mich mit ihm.

Schlaf gut, mein Mameli, ich habe dich gern. Habe am Schienbein einen riesigen blauen Flecken, aber der geht wieder weg. Love Love Love.

War Sabine zu Hause in Uster, schloss sie sich in ihr Zimmer, las seine Briefe, schnüffelte an einem Frotteetuch, seinem kupferroten Tuch, das sie K. gestohlen hatte.

Manchmal wurden die Hände blau, dann wusste ich, dass sie fror.

Jetzt hat Sabine Brüste, die sie hasst.

Höchstens streicheln, nur streicheln, mehr nicht.

1988, siebzehnjährig, begann sie eine kaufmännische Lehre in Uster, Sabine stand morgens um halb fünf Uhr auf, reiste vom Aargau ins Zürcher Oberland, Lenzburg, Zürich, Uster, abends zurück zum Training, zu ihm, Glücksspritze, Kaugummi, Mickey Mouse, Asterix, Jim Knopf, Sabine fiel vom Balken, Hirnerschütterung.

Er zog sie zu sich, als sie sagte, sie höre zu turnen auf, zwang sie auf seinen Schoß, schob seine Hand in ihre Hose, seine Zunge in ihren Mund, Kaugummi, und hauchte: Vergiss deine Turnschlappen nicht.

Lieber K. Das Turnen fehlt mir sehr. Oft liege ich abends noch lange wach im Bett und bin fest traurig. Trotzdem glaube ich, es ist richtig so. Mami hilft mir jetzt in dieser Zeit, wir gehen zusammen baden, zusammen laufen, ins Kino.

Lieber K. All das Liebe, was ich von Dir bekommen habe, werde ich nie vergessen. Es ganz herzlichs Grüessli, Sabine.

Manchmal vergaß Sabine B. ihren Namen, wusste nicht, wo sie war, wohin sie wollte. In die Toilette wagte sie sich nur mit einem schwarzen Panther aus Plüsch, der sie beschützte, und mit einem lila Zauberstab, gekauft im Kinderbuchladen des Zürcher Oberdorfs.

Meinen Körper parfümiere ich jetzt 3x / Tag, schreibt sie. Ich will mich nicht riechen müssen. Niemand soll mich riechen müssen.

Als sie 1991, zwanzigjährig, endlich von K. ließ, besaß Sabine B. fünfzig Schweinchen aus Plüsch.

Weißt du eigentlich, dass ich einmal 50 Schweinchen aus Plüsch in meinem Zimmer sammelte, weil du mich immer so genannt hast? 20.8.11, 14:10 Uhr.

Mittags 1 Muffin, schlechtes Gewissen, zittere, keuche vor Angst oder was.

Seroquel für das Hirn, 3x25 mg, Euthyrox für die Schilddrüse.

Die Arbeiter in den Konzentrationslagern bekamen achthundert Kalorien im Tag, sagt sie.

Vor Hunger biss Sabine B. in ihr Kissen. Sie wiegt jetzt 29 Kilo, wünschte, nur 27 zu wiegen.

Warum, weiß ich nicht.


Die Glücksspritze

Die Welt von Sabine B. Einen geregelten Beruf konnte sie nie ausüben. Struktur bekommt ihr Leben durch zwei bis drei Arztbesuche pro Woche, Halt gibt ihr die Mutter, die sie auch nachts um vier anrufen kann.

Die Lehrabschlussprüfung bestand sie im Sommer 1991, Note befriedigend bis gut. Dreimal im Tag wechselte sie ihre Unterhose, um sicher zu sein, dass kein Haar sich darin fand. Sie arbeitete im Travel Book Shop, Rindermarkt, Zürich, bei Gutmann in Russikon, Studio für Trickfilme, schaffte die Aufnahmeprüfung der Kantonsschule Wetzikon, war krank, fehlte oft, Lungenentzündung, Sabine stürzte auf der Treppe, fand manchmal keine Worte mehr, war gelähmt an Armen und Beinen. Sie wechselte ins Lernstudio Zürich, zur Minervaschule, zur Mittelschule Dr. Buchmann, sie rief K. an, immer wieder, manchmal nachts um elf, Sabine B. wollte reden, seine Stimme hören, schick mir einen Brief, lieber K., schick mir bitte ein Kärtchen, wenigstens ein Kärtchen, K. schickte ein Gedicht, ich muss dich sehen, nur einmal, mit Mami fuhr ich nach Ottikon, es war Herbst 1995, Restaurant »Traube«, K. saß dort mit seiner Frau, die sitzen in einer Ecke, auf diesen Moment hatte ich so sehr gehofft, Frieden wollte ich mit ihm machen, reinen Tisch, ein neues Leben beginnen, nun saß er dort und schwieg, ich sagte, ich sei, nach all dem, was geschehen sei, psychisch schwer gestört, nichts als traurig und kaputt, lieber K., dann begann er zu weinen wie ein Bub, wieder spielte er den Bub wie damals, wenn er wollte, dass ich ihn leckte, er sagte, auch ihm gehe es schlecht, er wage kaum, seine zwei Söhne zu berühren, ich rannte weg, nur raus hier, raus.

22.8.11, 23:40 Uhr: Wann … wann …wann träume ich nicht mehr von diesem Menschen, der mich immer noch zum Weinen bringt, wenn ich an ihn denke?

Sabine B. zog nach Zürich, zog zurück zu Mami, wieder nach Zürich, sang im Kinderchor des Opernhauses Zürich, streunte durch Bibliotheken und Buchhandlungen und stand eines Tages, wie so oft, im Kinderbuchladen, Oberdorfstraße, Zürich, sah Jim Kopf und die wilde 13, Sabine B. schämte sich, das Buch, aus dem K. ihr vorgelesen hatte – Sabine in seinen Armen –, zu kaufen, steckte es rasch in die Tasche. Bei Orell Füssli stahl sie Pettersson und Findus, die Geschichte vom alten Mann und seinem Kater, Sabine B. wurde ertappt, erfasst, verurteilt.

Sie kichert hell und hoch.

Noch steht es hier im Regal, ein großartiges Buch.

1 Magersojabecher nature & 1 EL Haferflocken, Abführtabl. > 4x Durchfall.

Sabine B. traf zwei ehemalige Turnerinnen, sie sprachen über K. und die Nächte in seinem Schlafsack, sie beschlossen, sich zu rächen, wandten sich an den Fernsehsender TeleZüri, 8. April 1997. Die Kantonspolizei Aargau lud Sabine B., nun sechsundzwanzig, zum Verhör, sie sprach von Glücksspritze und Kaugummi, wusste nicht, dass es dafür andere Wörter gibt, Penetration, Zungenkuss. Sie zog einen Zettel aus der Tasche, verlangte, dass ein bestimmter Satz im Protokoll unterkam: Welche Möglichkeiten stehen offen, wenn die Dimension der Entscheidung, die aus dem Zusammenwirken von Geist und Seele erwächst, zwar einheitlich lebensbejahend, Neuem gegenüber offen, ja begierig ausfällt – wenn aber der Körper als Dritter im Bunde dieser Dimension sämtliche Lebensbasis entzieht?

Lieber K., schrieb sie Tage später mit bunten Stiften, für mich bist und bleibst Du der K., mit dem ich die wahrscheinlich schönste Zeit bis jetzt erlebt habe. Wir hatten es immer total funny im Training, und diese Erinnerungen können keine Beschuldigungen kaputtmachen!!!!! Ich wünsche Dir viel, viel Glück, und es gibt immer einen Ausweg! Ich denke immer an Dich und halte zu Dir – Aktenstück Nr. 14.

Sie duschte nur noch im Dunkeln, verbot sich den Blick auf ihren Bauch, Sabine B. sprach mit einer großen Puppe, die sie Lucy nannte, Sabine B. diskutierte mit Lucy, die oft anderer Meinung war als Sabine, rettete sich in Schlaf und Ohnmacht, Rohypnol, wurde süchtig. In Möriken-Wildegg befragte die Polizei 101 Kinder, 48 davon hatte K. sexuell missbraucht, 31 Schülerinnen und 17 Turnerinnen.

War ich heute einmal glücklich?, fragt sie.

Sie öffnet ihr Heft, liest laut die jüngste Notiz: Einsamkeit schmeckt nach Unglück und Verlassenheit. Aber kein Nachteil ohne Vorteil. Der Einsame muss nie tun, was er nicht will. Es gibt keinen Zwang, kein Missverständnis.

1 Stück Brot, 1 Reismilchmagerpudding, 1 EL Flocken m. Rosinen.

10.5.1999, Aerztlicher Bericht z.H. des Bezirksgerichts Laufenburg AG. Betrifft Sabine B., 8.8.71, Schönleinstr. 16, 8032 Zürich. Oben genannte Patientin befindet sich seit 1998 in meiner hausärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung. Mit größter Wahrscheinlichkeit muss von einem psychosozialen Kleinwuchs ausgegangen werden, d.h. durch extreme psychische und körperliche Belastung ist der Organismus nicht mehr im Stande, das an sich in der Natur des menschlichen Körpers liegende Wachstumspotenzial auszuschöpfen. Aber nur eine extreme psychische Traumatisierung kann das Wachstumspotenzial dermaßen beeinträchtigen, dass ein kompletter irreversibler STOPP auf der Stufe von 134 cm stattfindet. Es bestehen Zeichen einer Persönlichkeitsstörung, die sich im Stehenbleiben auf dem Stand eines 13-jährigen Mädchens manifestieren sowie in der in der Folge aufgetretenen Anorexie (Magersucht). Ob die durch den sexuellen Missbrauch erfahrene Traumatisierung je wird aufgearbeitet werden können, scheint mir sehr fraglich.

Am Fenstertisch im »Karl der Große«, eine hohe Tasse Tee vor sich, kritzelt sie: 22.8.11, 15 Uhr: Gestern Nacht der Notfallarzt, wieder Magenkrämpfe. Der fragt nach meinem Gewicht. Ich sage: Jetzt 29, vor einigen Jahren noch 17. Dann sagt der: Dann haben Sie jetzt fast Übergewicht!!!!

Die Verhandlung vor dem Bezirksgericht Laufenburg dauerte drei Tage, 19. bis 21. Mai 1999. Der Verteidiger von K. nannte Sabine B. unglaubwürdig, zumal sie behauptete, mit dem Samen des Angeklagten in Berührung gekommen zu sein, aber nicht einmal die Farbe der Bettwäsche kenne. Das Gericht verurteilte K. zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Berufsverbot. K. legte beim kantonalen Obergericht Berufung ein, das ihm drei Monate erließ, strafmindernd sei, dass K. mittlerweile verheiratet und Vater zweier Kinder sei.

Immer wieder denke ich an ihn, eigentlich täglich. Selten im Groll. Nein, seufzt Sabine B. in ihr Zimmer, ich frage mich, was aus mir geworden wäre, hätte er mich geheiratet. Käme ich mir weniger missbraucht vor, wenn ich nun seine Frau wäre?

Im November 1999, auf dem Fußgängerstreifen vor dem Universitätsspital Zürich, geriet Sabine B. unter ein Auto, ihr Becken splitterte in elf Teile, Sabine war zu dünn, zu leicht, zu schwach für eine Operation, drei Monate lang lag sie in einer Schale, bewegungslos, und Mami kommt täglich, bringt, wonach ich heule, einen Joghurt, Mocca, stichfest.

Liebe Mami, bitte hilf mir. Ich habe Angst, und es tut mir alles ganz fest leid, was ich getan habe. Ich möchte nur eines mit Dir: Frieden! Deine Sabine. 20.5.2000.

K. rief das Eidgenössische Bundesgericht an und verlangte Freispruch. Das Bundesgericht aber bestätigte. Sabine schrieb dem Komiker Beat Schlatter, bat ihn in die teure »Kronenhalle« und schlug vor, ihr Leben zu verfilmen, eine Komödie sollte es werden, er, Schlatter, als Turnlehrer K., der so lustig sein kann, wenn er den Hund spielt oder den Wolf, richtig witzig ist er dann.

Am liebsten trug Sabine B., 30, weiße Söckchen und Schuhe mit Fransen. Ihre Märchenkassetten standen alphabetisch geordnet im Gestell, Aatalstr. 19, 8610 Uster, Kissen und Decke lagen faltenlos. Am liebsten, gespielt von Alexey Botvinov, hörte sie die Goldberg-Variationen, Johann Sebastian Bach.

Nun nannte sie sich Sabina.

Am liebsten hätte ich in einem Tatort mitgespielt.

Bitte, liebe Mami, schreib mir ein liebes Wort, 15.03.2001.

Paracelsus-Spital Richterswil.
Aeskulap Klinik Brunnen.
Spital Zollikerberg.
Wieder bei Mami.
Wieder allein.

Noch zwanzig Kilo, Dezember 2002, ich sitze auf einem Stuhl, stundenlang, die Wärmflasche vor meiner Brust, ich kann kaum noch gehen, sitze auf meinem Stuhl und schaue Kika, Kinderkanal, Kommissar Kugelblitz, oder spielte auf meinem Apple TKKG, Tim, Karl, Klößchen, Gaby, Sabine hungerte bis um 17 Uhr, keine Sekunde länger, setzte sich dann an den Tisch, gerader Rücken, Serviette auf dem Schoß, aß ein Kinderüberraschungsei und stellte dann die Spielfigur zusammen, spielte damit, am liebsten eine Figur aus Herr der Ringe. Punkt 23 Uhr 30 ein Brötchen. Punkt Mitternacht ein wässriges Eis. Jeden Tag das Gleiche. Nie mehr als vierhundert Kalorien. Täglich zwei neue Zahnbürsten, meist geklaut, weil an der alten vielleicht noch eine Kalorie klebt.

Manchmal kam Mami, kratzte Sabine B., seit zehn verstopft, mit einem Löffel den Kot aus dem Darm. Mami brachte sieben oder acht Brötchen zur Auswahl, denn das Brötchen, das Sabine aß, musste vollkommen sein, ohne Delle, ohne Beule.

Wieder zu Hause bei Mami, Mami bringt mich ins Bett und kuschelt.

Noch 17 Kilo.

Am 30. Januar 2003 brachte Mami Sabine B. ins Spital Uster. Sabine, 32, einen Reif im Haar, darauf Mickey Mouse, schrie und schlug. Sie zerrte den Schlauch aus ihrem Arm, die Magensonde aus der Nase, den Katheter aus der Blase. Man fesselte sie endlich ans Bett und führte ihr täglich 1500 Kilokalorien zu. Waschen durfte sie sich nur, wenn sie zuvor ein Stück Orange gegessen hatte oder Zuckerhaltiges getrunken. Mami kam täglich, sie brachte eine Barbiepuppe, Dornröschen, langes blondes Haar, langes blaues Kleid, ein Krönchen auf dem Kopf, Sabine saß im Bett, weiß und dünn, kämmte Dornröschen, las Das Urteil von Kafka.

Am 19. Februar 2003, wieder 26 Kilo schwer, wurde sie nach Meilen überwiesen, Hohenegg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Da die Patientin weder selbst- noch fremdgefährdet war, wurde sie in die alten Verhältnisse entlassen. Sie wirkt sehr jung, ca. 10- bis 12-jährig. Bewusstseinsklar, zu allen Qualitäten orientiert. Keine AP für Wahnerleben oder Sinnestäuschungen. Die Patientin wirkt deprimiert, affektarm, ängstlich. Mangel an Ernährungszufuhr, kein Erbrechen, 13.03.2003.

Sie ist jetzt 41 und Frau. Selten kommt sie vor acht Uhr abends zurück in das Zimmer am Fluss, sie schrubbt sich sauber, beißt ins Kissen, setzt sich an ihr Tischchen und blättert durchs Strandgut des Tages.

Zu gerne wäre Sabine bestätigt darin, dass er alles aus LIEBE tat. Sieh her, K., wie sauber ich bin, wie rein, nie mehr berührt von jemand anderem. Warum war ich nicht deine Auserwählte? War ich zu dick? Zu fette Oberschenkel? Zu wenig hübsch? Meine Augenringe? Meine O-Beine, die ich von meinem Vater geerbt habe, der kein Vater ist?
Dann Seroquel für das Hirn, Euthyrox für die Schilddrüse.
Dann gute Nacht, Sabine.

Fotos: Nadja Athanasiou