Wie geht man mit Krankheit um?

Eine Aufmunterung.

Wir kennen uns schon lange, die Hexe und ich. Sie gehört zum festen Bestand meiner Kindheitserinnerungen: als kleine Hex, die morgens früh um sechs kommt; als altes Weib, das »Knusper Knusper Knäuschen« krächzt; als wunderbares Wesen, das in René Clairs Film Meine Frau, die Hexe Intrigen strickt; oder als kundige Zauberin im Faust, die das vertrackte Hexeneinmaleins herunterbetet. Die Hexe konnte auch ein Quälgeist ohnegleichen sein, wenn sie des Nachts die Treppe heraufkroch und sich auf mich hockte. Lautlos schrie ich, gelähmt musste ich ihr schweres Gewicht aushalten. Bis ich mich nach scheinbar unendlich langen Sekunden aus diesem Albtraum lösen konnte. Besiegelt wurde unsere Bekanntschaft, seitdem mir vor einigen Jahren die Hexe ins Kreuz gefahren ist und sich dort festgesetzt hat: als Hexenschuss, Hexenstich, Lendenübel und wie die volkstümlichen Bezeichnungen für derlei Rückenleiden heißen. Die Medizin attestiert mir eine Fehlhaltung der Wirbelsäule plus ausgeprägter Skoliose. Die Hexe ist mein Alter Ego geworden, und ich stelle mich gut mit ihr.

Mein Alters- und Alltagsleben mit der Hexe wird vom gebeugten Gang anstelle des aufrechten geprägt: Der vornübergebeugte Mensch geht krumm und schief und hört auf Goethes »Beherzigung«: »…sehe jeder, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle.« Der gebeugte Gang führt zu Muskelschmerzen und Gleichgewichtsschwankun-gen, und er erregt Aufsehen. Wissbegierige Kleinkinder fragen erfrischend ungeniert ihre Erziehungsberechtigten: Mama, was hat denn die Frau? Man lernt den Umgang mit dem erschreckten Kläffen vorwiegend junger Hunde, die eine gebeugte Körper-haltung oft als Drohgebärde empfinden. Das Leben mit meinem Alter Ego ist wei-terhin durch den häufigen Besuch von Apotheken, Arztpraxen, Krankenhäusern, Rehabilitationszentren charakterisiert. Dort erfahre ich eine Menge über lebenswichtige Themen wie Mehrklassenmedizin, Arzneimittelkosten, Wert- oder Unwertschätzung der ärztlichen Zunft, medizinische Aufklärung, Irrlehren des Internet und Heilbarkeit aller Übel.

Früher stieg ich häufig und mit großem Vergnügen in ein Flugzeug, um auf der englischen Insel journalistisch tätig zu werden, mittlerweile sind solche Flüge rar geworden – kein stundenlanges Erwandern mehr von Stadtvierteln und Landschaften, keine langen Recherchen und Interviews. Das Verreisen findet nun häufig mit dem Finger auf der Landkarte statt. Doch auch da hilft Goethe, spöttisch zitiert: Willst du immer weiterschweifen? Sieh, das Gute liegt so nah…! Das Gute? Das Zweit- und Drittbeste ist für den Menschen mit eingeschränkter Mobilität nun das Beste geworden: Zu tun gibt’s weiterhin genug, nur anders. Langsamer. Zum Alltag gehört auch der regelmäßige Umgang mit Gymnastikbällen, Steppern, Hometrainern und Physio-therapeuten. Gehwagen sind unhandlich, Krücken und Walkingsticks Stolperfallen. In Bus oder Tram wird einem schon mal freundlich ein Sitzplatz angeboten oder das Tragen von Taschen und Tüten – doch Vorsicht, bitte, der gebeugte Mensch will gern selbstständig sein. Natürlich kennt er auch die grauen, grauslichen Tage, an denen er sich am liebsten ins Gesicht springen oder die Hexe verhauen würde und trotzig behauptet: Grad gehen kann schließlich jeder! Manche Altersgenossen machen in solchen Situationen die Zipperlein, die sich mit der Last der schwindenden Jahre einstellen, zum Gesprächsstoff und praktizieren Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein. Man sollte dafür offene Ohren haben, denn Zuhören kann den Schmerz des anderen lindern, und außerdem muss man dabei nicht so viel über eigene Wehwehchen reden.

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Mir hilft in solcher Düsternis auch das drastische, zum Lachen animierende Wort einer alten Dame, die einmal kurz und bündig meinte: »Bist ne arme Sau!« Und immer wieder denke ich an die kurze Begegnung, neulich, am Eingang zu einem Kaufhaus: Ein junger oder älterer Mensch – ich hab’s in meiner Verdutztheit nicht wahrgenommen – tippte mir von hinten auf die Schulter, schob mir einen Euro in die Hand und wünschte »Alles Gute« – dann war er weg. Kommentarlos. Grußlos. Und meiner Hexe und mir blieb die Spucke weg.

Hier weitere Fragen über das Alter:

Frage 1:
Fühlt man sich im Ruhestand nutzlos?
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 3:
Entwickelt man sich mit den Jahren zum Reaktionär?
Frage 4:
Macht das Alter maßlos?
Frage 5:
Wie wird es sich anfühlen, an früher zu denken?
Frage 6:
Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?
Frage 7:
Was tun, wenn man nicht ins Altersheim will?
Frage 9:
Was verändert sich im Alter überhaupt nicht?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?