Das Beste aus aller Welt

Staunend steht unser Autor im Supermarkt vor dem meterlangen Gurkenregal. Und spürt auf einmal eine unheimliche Nähe, ja Verwandtschaft zu den in würziger Tunke schwimmenden Früchten, die ihn erschaudern lässt.

Es geschah kürzlich vor dem Gewürzgurkenregal in einem großen Supermarkt, dass mich eine Ehrfurcht vor den Fähigkeiten unserer Zivilisation anwehte. Dieses Gurkenregal war ungeheuer groß. Zehn Schritte nach links, zehn Schritte nach rechts: Ich wäre jeweils nicht an seinem Ende gewesen. Die Menschen in diesem Land scheinen einen großen Teil ihrer Ernährung mit Gurken zu bestreiten, denn man kann sagen, dass kein anderes Regal im Supermarkt ein solches Ausmaß hatte, vielleicht noch die Keks-Abteilung, aber das sollen andere prüfen. Keks und Gurke sind insofern nicht vergleichbar, als der Keks ein handwerkliches Produkt ist und im Laufe der Geschichte zu einer Fülle von Ausformungen gefunden hat, Butterkeks, Mürbekeks, Schokokeks, Doppelkeks und so weiter, dies alles jeweils kulturell differenziert und nach Ländern aufgefächert, Abbracci oder Pan di Stelle in Italien, Shortbread oder Gingerbread in England, Chocolate Chip Cookies in den USA.

Die Gurke jedoch ist nun eben die Gurke, von Natur aus groß oder klein, jünger oder älter, man legt sie ein oder isst sie frisch, mehr ist da nicht zu machen. Und doch, und doch. Hier im Regal stand Gurkenglas an Gurkenglas: Gurken mild-süß, süß-würzig, scharf-würzig, knackig-aromatisch, knackig-scharf, knackig-pikant, knackig-würzig, mild-würzig, Moskauer Gurken, Münchner Gurken, Spreewälder Gurken, Breslauer Happen, Ungarische Gurken, Gärtner-Gurken, Bärlauch-Gurken, Knoblauch-Gurken, Dillgurken, Honiggurken, Senfgurken, Pfeffer-Gurken, mehr als sechzig Varianten. Unglaublich, was der Mensch dieser banalen Frucht abgerungen hat. Und dass er ausgerechnet im Ringen mit der Gurke an seine Grenzen ging, den Weg zurücklegte von der urtümlichen Salzgurke hin zum »Schlemmertöpfchen feine Gürkchen«, zu »Kleine Gürkchen handverlesen«, ja am Ende zu »Bayerischen Brotzeitgurken direkt von Bauernhand eingelegt«.

Solche Momente des Innehaltens im Supermarkt kann ich nur empfehlen. Auch bei den Spülmaschinentabs ergreift mich immer wieder Freude über den Menschen und seine Leistungen: Seit 2000 wird diesen Tabs Jahr für Jahr, so haben die Autoren der Internetseite Riesenmaschine.de beobachtet, jeweils eine Funktion hinzugefügt. Das heißt, im Moment steht zum Beispiel der ja! Geschirr-Reiniger bei zwölf Fähigkeiten (was 2013 bringen wird, ist noch unklar): vom Geschirrspülen über Wasserenthärten und Silberschutz zu Power-Entkrusten und Geruchsneutralisieren. Setzt sich dieser Prozess fort, müssen bis zum Jahr 2500 genau 488 weitere Funktionen für Geschirrspültabs erfunden werden, vermutlich für das Aus- und Einräumen der Maschine, vielleicht sogar ein Anti-Migräne-Effekt sowie das Abholen der Kinder von der Schule, und »in etwa 10100 Jahren werden Spülmaschinentabs alle im Universum vorhandenen Funktionen übernommen haben«, wie die Riesenmaschine herausgefunden hat. Aber warum ist der Mensch gerade im Ringen mit der Gurke zur Hochform aufgelaufen? Warum hat er nicht der Tomate diesen Variantenreichtum abgezwungen? Dem Pilz?

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Zu den Werken des bedeutenden österreichischen Künstlers Erwin Wurm gehört ein Selbstporträt als Essiggurkerl, das aus 36 in Acryl gegossenen und täuschend echt bemalten Gurken besteht, die auf weißen Podesten aufrecht stehend präsentiert werden. Man sieht bei der Betrachtung dieser Gurkenskulpturen, was man auch den Gurken im Glas ansehen könnte: Keine Gurke gleicht der anderen, jede ist ein wenig anders gebogen, besitzt andere Hautschattierungen, eine andere Oberflächenstruktur. Die Gurke ist so individuell wie wir, sie ist quasi der Homo sapiens unter den Gemüsen und der Mensch die Gurke unter den Säugetieren! Womit für heute alles mal wieder klar und hinreichend erklärt wäre. Und jetzt? Brotzeit.

Illustration: Dirk Schmidt