Je später der Abend

Seit 40 Jahren laufen Talkshows im deutschen Fernsehen, aber in letzter Zeit schimpfen alle über das ewige Gelaber. Dabei ist die Idee doch super: interessanten Menschen dabei zuzuhören, wie sie miteinander reden. Man müsste nur alles mal ein Stück runterfahren - das Durcheinander im Studio genauso wie die überzogenen Erwartungen der Zuschauer.

1. Weniger Talkshows

Eine Forderung, die so naheliegend ist, dass sich ihr inzwischen selbst ARD-Intendanten anschließen. Aber das macht sie ja nicht falsch.

In einer normalen Woche wird im deutschen Fernsehen getalkt bei: Günther Jauch, Hart aber fair, Menschen bei Maischberger, Anne Will, Beckmann, Maybrit Illner, dreimal Markus Lanz, Peter Hahne, Riverboat, Nachtcafé, Kölner Treff oder Plasberg persönlich, 3 nach 9 oder NDR Talk Show oder Tietjen und Hirschhausen, Münchner Runde, 2+Leif, Eins gegen Eins, ZDF log in, Das Duell bei n-tv, Studio Friedman, Deutschland Akut, Unter den Linden, dreimal phoenix Runde, Presseclub, Scobel – macht mehr als 24 Stunden Talk wöchentlich.

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Problematisch daran ist vor allem die werktägliche Verstopfung der späten Primetime im Ersten und Zweiten. Die Talkinflation sorgt nicht nur dafür, dass Dokumentationen, Reportagen oder Filme, die hier eigentlich einen guten Platz hätten, verdrängt werden. Sie schadet auch dem Genre an sich: weil sich Themen und Gäste wiederholen und vor allem wegen der ganz normalen Ermüdung durch Einfalt.

Reinhold Beckmann geht mit gutem Beispiel, wenn auch sehr, sehr langsam, voran: Ende 2014 will er seinen Talk einstellen. Wenn vielleicht im Gegenzug das ZDF sich auf nicht viel mehr als einen Lanz pro Woche beschränken könnte, wäre schon viel gewonnen. Es könnte auch den Lieblings-Talkgästen von Markus Lanz Gelegenheit geben, versuchsweise wieder ein Leben außerhalb des Studios aufzunehmen. Und die Gefahr wäre gebannt, dass der Satz »Darüber haben wir ja beim letzten Mal schon gesprochen« den alten Talkshow-Klassiker »Ich habe Sie auch ausreden lassen« an Penetranz verdrängt.

2. Weniger Rituale

Das Wunderbare an einer Talkshow wäre, wenn man nicht wüsste, was passiert. Das war, die Älteren werden sich erinnern, sogar mal so. Das Genre gibt das her – wenn sich Leute neugierig aufeinander einlassen und das Unerwartete passieren kann. Tatsächlich ist es eines der erwartbarsten Fernsehgenres überhaupt: vom Casting der Gäste über ihre Platzierung auf den Stühlen bis hin zum Ablauf der Sendung.

Fernsehen versucht heute, möglichst berechenbar zu sein. Talkshows sind eine einfache und günstige Form, beliebige Inhalte in der immer gleichen Dramaturgie zu behandeln. Das macht sie so zuverlässig erfolgreich. Und so ermüdend.

Die leider viel zu kurzlebige Talkshow Roche & Böhmermann auf ZDF. kultur war so erfrischend, weil sie all die Rituale kannte – und lustvoll brach, ignorierte und ironisierte. Schon ein Bruchteil der Anarchie, die in diesem Format steckte, würde den vielen Standard-Talkshows frisches Leben einhauchen.

3. Weniger Talkgäste

Sandra Maischberger und Anne Will sind Journalistinnen, die erwiesenermaßen ein konzentriertes Gespräch mit einem Gast führen können: informiert, wach und flink, in der Lage, mit allen Tricks ihr Gegenüber in die Enge zu treiben oder aus sich herauszulocken. Doch in ihren Standard-Sitzgruppenlandschaft-Talkshows mit vielen Gästen und verteilten Rollen ist dieses schnelle Strategie- und Rhetorikspiel kaum möglich. Das Hin und Her eines Schlagabtausches hat die Möglichkeit weitgehend verdrängt, einen Gedanken argumentativ zu Ende zu verfolgen. Die Moderatorinnen und Moderatoren sind eher Dompteure, die das Wort erteilen und entziehen und grobe Themenrichtungen vorgeben.

Das ist ein Verlust. An großen Kindergeburtstagsrunden besteht kein Mangel im deutschen Fernsehen, wohl aber am gepflegten Gespräch und am konzentrierten harten Interview. Ein erster Schritt wäre die Reduktion der Talkgäste pro Sendung, eine Konzentration auf die, die etwas zu sagen haben und nicht nur ein Bestandteil in einem Mobile sind, in dem sich Befürworter und Gegner, Experten und Betroffene, Verrückte und Vernünftige austarieren.

Und selbst Markus Lanz ist sehenswert, wenn er – wie zum Beispiel mit Karl Lagerfeld – sich mehr als eine Stunde Zeit für einen einzigen Gast nimmt.

4. Weniger Sicherheit

Talk muss live sein! Damit etwas passieren kann. Damit etwas eskalieren kann. Damit das, was passiert und eskaliert ist, nicht hinterher rausgeschnitten werden kann. Damit der Ausgang der Sendung wirklich offen ist.

5. Weniger Inszenierung

Als die Talkshow vor vierzig Jahren aus den USA nach Deutschland kam, brachte sie in die klassische Unterhaltung Unterhaltung: Es durfte und sollte mehr passieren als nur ein konzentriertes, statisches Gespräch. Es war etwas los, aus einem Gespräch wurde eine Show.

Inzwischen scheint die Sorge groß, dass auch das nicht mehr reicht, um den Zuschauer mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom vom Umschalten abzuhalten. Und so wird der Talk wie ein Actionfilm inszeniert: Kameras umkreisen in schwungvollen Fahrten die Gesprächsrunde. Das Publikum sitzt mit im Bild und sorgt für Bewegung. Selbst der Hintergrund bleibt bei Illner und Plasberg nicht mehr statisch, sondern wechselt dauernd, damit die Leute nicht nur in die Gesichter der Sprechenden starren müssen.

Es ist an der Zeit für einen Gegentrend: die Reduktion auf das Wesentliche. Menschen, die miteinander reden. Was könnte fesselnder sein, als sich darauf zu konzentrieren: die Gesprächspartner, ihre Mimik und Gestik, ihre Reaktionen in Großaufnahme.

In den Gesprächen von Günter Gaus, noch vor der Talkshow-Ära, wurde ausschließlich der Gesprächspartner gezeigt. Mehr war im deutschen Fernsehen selten zu sehen.

Weniger Selbstüberschätzung

6. Weniger Selbstüberschätzung

Eine Talkshow ist ein gutes Format, Menschen und ihre Positionen kennenzulernen. Ein gutes Format, um über Themen, die prinzipiell bekannt sind, zu streiten und Argumente auszutauschen. Es ist eines der schlechtesten Formate, um komplexe Zusammenhänge zu erklären.

Es scheitert oft schon daran, Einigkeit über schlichte Grundlagentatsachen herzustellen, weshalb die seit einiger Zeit teilweise in einer Art »Faktencheck« später nachgereicht werden, was aber ja auch nur eine Form der Kapitulation ist.

Die Sendeplätze, die durch eine Reduzierung der Talkshows (Punkt 1) frei werden, könnten für Magazine, Dokumentationen oder andere Erklärbär-Formate genutzt werden, die einfach besser da-rin sind, uns etwas Neues, Komplexes zu erläutern.

7. Weniger Einfalt

Irgendein Anlass findet sich immer, über Supermärkte zu talken, und wenn über Supermärkte getalkt wird, dann selten ohne Stefan Genth. Genth ist Hauptgeschäftsführer des deutschen Handelsverbandes und einer von augenscheinlich nicht mehr als zwei Namen, die in den Adressbüchern der Talkshow-Redaktionen unter »Supermarkt-Themen, Händler-Position« stehen. »Wir müssen aufhören, uns so zu treffen«, könnte er zu Verbraucherministerin Ilse Aigner sagen, die schon bei Jauch, Will und zweimal bei Plasberg mit ihm saß. Wenn es irgendwie um gesundes Essen geht, kommt sicher auch die Köchin Sarah Wiener.

Allein in den vergangenen eineinviertel Jahren fragten die ARD-Talkshows: »Die Supermarkt-Lüge – wie gut und fair kann günstig sein?« (Plasberg), »Das Aldi-Prinzip – Billig um jeden Preis?« (Jauch), »Zu süß, zu billig, zu ungesund – werden wir im Supermarkt getäuscht?« (Will), »Lidl, Aldi, All Inclusive: Deutschland im Billigfieber?« (Maischberger), »Das Aldi-Prinzip – wird Deutschland zur Billig-Republik?« (wieder Plasberg).

An der Quote gemessen funktioniert das Thema – die »Supermarktlügen«-Ausgabe war in der letzten Zeit sogar die Hart aber fair-Sendung mit dem höchsten Marktanteil. Aber an den Umsätzen gemessen funktioniert ja auch Aldi – und trotzdem bleibt die Frage, ob dabei nicht etwas auf der Strecke bleibt. Beim bil-ligen Einkaufen und beim billigen Talk.

8. Weniger Fixierung

Abgesehen vom Sonntagskrimi wird kein Genre so systematisch durchbesprochen wie das der politischen Talkshow. Keine andere Sendung mit Ausnahme von Wetten, dass . .? bekommt eine solche umfassende Aufmerksamkeit von den professionellen Fernsehbeobachtern. Obsessiv wird am nächsten Morgen auf den Online-Seiten der großen Medien nacherzählt, wer was gesagt hat, und bewertet, welcher Moderator dabei eine gute Figur gemacht hat.

Das scheint zu funktionieren, weil sich dann auch diejenigen Leser, die die Sendung nicht gesehen haben, über das jeweilige Thema aufregen können, und die Zuschauer noch einmal. Aber die Fixierung auf die schnelle, flüchtige, billige Nacherzählung tut weder der Fernsehkritik gut noch den Talkshows. Und die Aufmerksamkeit, die die Talks zu viel bekommen, fehlen anderen Sendungen, die sie – im Guten wie im Schlechten – verdient hätten.

Als Günther Jauch noch Stern TV moderierte, konnte er den größten Unsinn erzählen oder preiswürdige Beiträge präsentieren – beides fast ohne Resonanz auf den Medienseiten. Journalisten regen sich darüber auf, dass es scheinbar nur noch Talkshows im Fernsehen gibt, und nehmen selbst kaum etwas anderes wahr.

9. Weniger Schizophrenie

Wenn wir wollen, dass die Talkshows nicht nur als Ritual funktionieren, müssen wir aufhören, sie ritualisiert zu konsumieren.

Noch ermüdender und ritualisierter als die Talkshows ist nur das Gejammer darüber. Die Sendungen müssen weniger und origineller werden, aber die Klagen über sie auch.

10. Weniger Anspruch

Auf dem Höhepunkt der Empörung über die umfassende Abhörung der Welt durch verschiedene Geheimdienste redete Günther Jauch mit seinen Gästen – über Schlaglöcher auf deutschen Straßen. Gab das einen Aufschrei, Spott und Hohn! Wie kann die wichtigste Talksendung im deutschen Fernsehen nur ihre behauptete Relevanz opfern und den eigenen Anspruch, begründet durch den traditionsreichen Sendeplatz, die Kuppelarchitektur, die Inszenierung, den teuren Moderator, so verraten!

Das ist nicht ganz falsch, aber liegt das eigentliche Problem nicht womöglich in genau diesem Anspruch an die Sendung? Im konkreten Fall war auch die Schlagloch-Sendung keine gute Sendung, aber wäre es besser gewesen, wenn Günther Jauch an dem großen Thema gescheitert wäre statt an dem eher läppischen? Was hätte ernsthaft dafür gesprochen, dass sich das komplexe, unübersichtliche Thema von Prism und Co. im Rahmen einer Talkshow – und dann auch noch dieser Talkshow – fruchtbar behandeln ließe (vgl. Punkt 6)?

Kritiker und Zuschauer müssen sich von diesem übersteigerten Anspruch an Talkshows als Ersatzparlament lösen und sie wieder als das sehen, was sie realistisch leisten können: eine Stunde gute Unterhaltung, im besten Fall mit ein bisschen Erkenntnisgewinn.

In den USA, wo der Talk mit Prominenten vor allem in den Late-Night-Shows stattfindet, gibt es einen klaren Anspruch: Es muss unterhaltsam sein. Das ist schwer genug.

Illustrationen: Peter Oumanski