Die Gewissensfrage

Wenn man für eine Fahrt im öffentlichen Nahverkehr aus Versehen zu viele Streifen abstempelt, darf man dann bei der nächsten Fahrt auf das Stempeln verzichten?

»Wenn man auf den Streifenfahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr bei Fahrtantritt versehentlich nicht den nächsten, sondern gleich den übernächsten freien Streifen abstempelt, hat man gewissermaßen eine Fahrt zu viel bezahlt. Ist es dann moralisch gerechtfertigt, auf der nächsten Fahrt keinen Streifen abzustempeln?« Angela S., Dachau

Ich sehe jetzt schon manche diese Seite aus dem Magazin reißen und zusammengefaltet bei sich tragen, um sie im Falle des Falles einem Kontrolleur vorzulegen. Denn ich komme nicht umhin, Ihnen zuzustimmen: Im Grunde haben Sie natürlich recht. Der Verkehrsbetrieb hat, wenn Sie einmal fahren, Anspruch auf die Bezahlung für eine Beförderung, und wenn Sie aus Versehen eine Fahrt zu viel abgestempelt haben, haben Sie einmal Fahren gut. So gesehen wäre es moralisch gerechtfertigt, auf der nächsten Fahrt keinen Streifen abzustempeln.

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Allerdings müssten Sie die Seite an dieser Stelle umfalten oder den nun folgenden Teil abtrennen, bevor Sie sie dem Kontrolleur zeigen, denn damit hat es nicht sein Bewenden. Neben dem Grundsatz »Einmal zahlen pro einmal fahren«, hinter dem das berechtigte Interesse des Verkehrsbetriebs an einer Bezahlung von erbrachten Leistungen steht, gibt es auch ein Interesse an einem nachvollziehbaren und praktikablen System, diese Ansprüche des Verkehrsbetriebes umzusetzen, zu kontrollieren und am Ende auch durchzusetzen.

Dieses Interesse ist ein dienendes, das heißt, es hat seine Daseinsberechtigung nur, um das Interesse an der Bezahlung zu ermög­lichen, man sollte es deshalb aber nicht gering schätzen. Prozessuale Vorschriften zum Beispiel verfolgen keinen Selbstzweck, sind aber wichtig, ohne sie wäre kein faires Verfahren garantiert. Und ohne nachvollziehbare Kartenentwertung kann es keine sinnvolle Kontrolle der Fahrkarten geben.

Für Sie bedeutet das, dass Ihre moralische Rechtfertigung eingeschränkt wird durch die moralische Rechtfertigung der Verkehrsbetriebe, jemanden, der nicht richtig abgestempelt hat, als Schwarzfahrer zu bestrafen. Sie wären also moralisch nur teilweise gerechtfertigt und müssten ein Bußgeld akzeptieren – vielleicht nicht völlig klaglos, aber doch höchstens mit leisem Klagen.

Illustration: Serge Bloch