Verloren und verdammt

Wer mit ihnen spricht, zieht Unglück auf sich. Wer sie tötet, wird nicht bestraft. In Indien gibt es Millionen Mädchen, deren Leben als völlig wertlos gilt: Die Gesellschaft hält sie für verflucht. Reportage aus einer Welt des tödlichen Aberglaubens.

Kurz war ihr Leben und elend. Und grausam ihr Tod. Sie verreckte diesen Sommer, auf irgendeiner Straße in den Slums beim neuen Busbahnhof. Ein Mädchen von elf Jahren aus einer Stadt in Südindien. Eiswürfel lagen neben ihrer Leiche. Keiner war da, der um sie trauerte; selbst ihre Familie war erleichtert, sie endlich los zu sein. Sie hieß Anjeli; ein Name, da schwingt in unseren Ohren das Wort Engel mit. Die sie kannten aber, wussten, dass in ihr der Teufel steckte.

Anjeli hat Millionen Schwestern. Fast alle leben in Indien, fast alle sind Mädchen, fast keiner kennt sie. Man nennt sie verfluchte Kinder; versteckt sie, weil man sich ihrer schämt und weil sie jedem Unglück bringen, der sich mit ihnen abgibt, davon sind ihre Familien, ihre Nachbarn überzeugt. Und davon, dass die Mädchen selbst schuld sind an ihrem Fluch: Hätten sie in ihrem vorigen Leben nicht großes Unrecht begangen, müssten sie in diesem Leben nicht dafür büßen. Und weil jeder für sein Schicksal, sein Karma, selbst verantwortlich ist, braucht niemand Mitleid mit ihnen zu haben. Schon gar nicht mit einem Kind wie Anjeli. Sie war noch gar nicht geboren, da war sie bereits ohne Chance: Ihr Vater wurde ermordet, als Anjelis Mutter mit ihr schwanger war, eine Familie ohne Mann nennt man im Süden Indiens ein größeres Unglück als den Tod. Als Anjeli sechs Monate alt war, starb ihre Mutter, dann auch noch ein Bruder. Und alle fragten sich: Warum überlebt ausgerechnet dieses Mädchen? Es kam nur eine Antwort in Betracht: weil sie verflucht ist, weil sie allen Unglück bringt. Stirbt ein männliches Mitglied der Familie oder wird der Vater oder ein Bruder krank, läuft ein Mädchen schnell Gefahr, eine Daritaram genannt zu werden, ein verfluchtes Kind. So geschah es mit Anjeli. Kein anderes Kind spielte mehr mit ihr. In der Schule wurde sie gehänselt, die Lehrer schritten nicht ein. Und weit und breit keine Menschenseele, die sagte: mein Gott, das arme Kind.

Anjeli und Patrizia waren verwandt. Patrizia zog vor Jahren mit ihrem Mann von Pondicherry, jener Stadt in Südindien, in der man Anjeli tot fand, in eine Vorstadt von Paris. Sie denkt nicht mehr nur indisch, sondern auch europäisch. Indisch denken heißt: Nach außen den Schein um jeden Preis wahren; nie Gefühle zeigen, nicht mal innerhalb der Familie; nie über Privates sprechen, erst recht nicht über ein verfluchtes Kind in der Verwandtschaft, das bedeutet Schmach und Schande. Indisch denken heißt aber auch, die Familie geht über alles, der Einzelne ist nichts ohne sie. Und darum muss selbst ein verfluchtes Kind ohne Eltern von Verwandten aufgenommen werden. Es Fremden zu geben, in ein Waisenhaus gar, widerspricht zutiefst der indischen Tradition und Art zu denken. Man reicht es also innerhalb der Großfamilie herum. Das Kind bleibt an einem Ort, bis wieder ein Unglück passiert, das ihm in die Schuhe geschoben wird, dann stößt man es zum nächsten Verwandten.

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Weil Patrizia auch europäisch denkt, spricht sie offen über Anjeli: »Sie wurde von der Urgroßmutter zur Tante zur Cousine geschickt. Alle hatten Angst vor ihr. Man hat ihr gesagt, du bist als Unglückskind geboren, du hast deine Familie verschluckt.« Patrizia ist sich sicher, dass Anjeli geschlagen wurde, wann immer man sie eines Unglücks in der Familie bezichtigte. Und oft auch zwischendurch. Sie war Freiwild. Gleichzeitig hatte die Familie Angst, das Mädchen könnte in der Schule erzählen, wie schlecht es behandelt wird. Also durfte sie immer seltener zur Schule gehen. Und dann auch noch das: Ein Onkel Anjelis hatte Leberzirrhose und fiel auf offener Straße ohnmächtig um. Der Arzt ermahnte ihn, keinen Alkohol mehr zu trinken. Da winkte der Onkel ab und sagte, nicht wegen des Alkohols sei er zusammengebrochen, sondern weil er die verfluchte Anjeli auf der Straße gesehen habe.

Im Sommer, als Patrizia zu Besuch bei ihrer Familie in Südindien war, rief eine Nachbarin: »Anjeli liegt tot auf der Straße!« Patrizia rennt durch Pondicherry und findet die Leiche auf einer Straße beim neuen Busbahnhof. Eiswürfel neben ihr. Die hat man wohl wegen der Hitze neben sie gelegt. Kein Mensch außer Patrizia bleibt bei dem toten Kind stehen, alle huschen vorbei. Der Fluch! Das hatten sie sich hundertfach hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert. Als Patrizia die Verwandten fragt, woran Anjeli gestorben sei, sagen die einen: »Weiß nicht«, die anderen: »an Hirnfieber«, die dritten: »im Krankenhaus«.

Die Wahrheit könnte lauten: Anjeli hatte hohes Fieber, aber niemand holte einen Arzt. Geld ausgeben für so ein Kind? Und sagt man hier nicht: Wenn man ein Kind den Göttern gibt, dann ist es in guten Händen? Vor allem aber: Was versteht die Wissenschaft schon vom Eigentlichen, vom jahrtausendealten Wissen? Steht nicht bereits in den Veden, den uralten heiligen Schriften des Hinduismus, von den verfluchten Kindern? Niemand entkommt seinem Schicksal, alles ist vorherbestimmt, auch der Tod. Bald wird sich keiner mehr an Anjeli erinnern.

Eine der Millionen Schwestern Anjelis heißt Jayalakshmi. Sie ist 14 und lebt im Dorf Periyamudaliyarchavadi, nahe Pondicherry, wo man Anjeli fand. Zu fünft wohnen sie in einer Hütte: Jayalakshmi, ihre ältere Schwester, deren Mann und die zwei kleinen Söhne. Die Hütte hat kein fließendes Wasser, keine Toilette, besteht aus einem fensterlosen Raum, einem Vorplatz mit Feuerstelle und einem Dach aus Palmblättern. Weil die Familie – wie alle Bewohner des Dorfes – keiner Kaste angehört, steht sie ganz unten in der streng hierarchischen indischen Gesellschaft. Die meisten Dorfbewohner sind Tagelöhner. Vor fast allen Hütten lehnen Mopeds, jeder Mann, außer den ganz alten, besitzt ein Handy; in der Hütte, in der Jayalakshmi wohnt, hängt ein Fernseher mit Flachbildschirm. Die moderne Technik hat selbst bei den Armen Indiens Einzug gehalten. Aber in den Köpfen der meisten geistert noch dunkles Mittelalter.

Jayalakshmi hat ein hübsches, freundliches Gesicht, ihre rechte Hand ist schief angewachsen, beim Gehen hinkt sie. Ihr Unglück begann am Tag ihrer Geburt – da starb ihr Zwillingsbruder. Die Familie fragte sich: Warum er, warum nicht sie? Schon wurde aus Jayalakshmi ein verfluchtes Mädchen.

Ihr Vater trank. War er betrunken, schlug er seine Tochter. Er brach ihr Hand und Beine. Wer würde das Unrecht nennen? Niemand erwies ihm mehr die Ehre – alles wegen ihr. Als der Vater auch noch einen Unfall verursachte, musste das Mädchen weg. In ein Hostal, ein Internat der finstersten Art. Zwei Jahre blieb sie dort, »dann schickte mich die Schule fort, weil ich krank war im Kopf«, erzählt Jayalakshmi. Ihre Eltern wollten sie nicht mehr zurück. Darum kam sie zu ihrer Schwester. Dort wird sie nicht geschlagen, sagt sie, und man möchte es ihr gern glauben.

Über das Dorf, in dem Jayalakshmi lebt, am Golf von Bengalen, kam vor drei Jahren der Tsunami – und in gewisser Weise bedeutete das Unglück so vieler ihr Glück. Die deutsche Ethnologin Hilde Link, die seit Jahren in Südindien forscht, baute mit Spendengeldern eine Schule, in der begabte Kinder aus den Dörfern der Umgebung gefördert werden. Und behinderte Kinder wie Jayalakshmi. Die lernt jetzt, mit 14, lesen und schreiben. In Indien schämt man sich nicht nur der verfluchten Kinder in der Familie, sondern auch der behinderten. Weil ihre Behinderung ein schlechtes Licht auf die Familie wirft, schickt man sie oft nicht zur Schule. Jayalakshmi ist beides: behindert und verflucht. Manchmal folgt das eine aus dem anderen. Immerhin – und das ist auch ein kleiner Teil des Glücks im Unglück –, wenn sie hungrig ist, kann sie sich nun in der Schule satt essen, ist sie krank, untersucht sie dort kostenlos ein Arzt. Arme Familien sparen zuerst an den Mädchen, an verfluchten sowieso.

Die tote Anjeli stammte aus einer sehr niedrigen Kaste, Jayalakshmi steht noch weiter unten, weil ihre Familie aus dem Kastensystem ausgeschlossen ist. »Kinder Gottes« nannte Gandhi diese Kastenlosen beschönigend, »Dalit« nennen sie sich selbst, die Niedergetretenen, die Unreinen. Ihre Zahl schätzt man in Indien auf 200 Millionen. »Aber verfluchte Kinder gibt es auch in höheren Kasten«, sagt
Vasantha, eine schöne, gebildete Frau und Leiterin des Prana-Projekts, zu der auch die Förderschule gehört, die Jayalakshmi besucht. Trotzdem haben es verfluchte Kinder aus höheren Kasten einfacher, »weil die Familien in der Regel mehr Geld haben, um sie fortzuschicken auf Internate«, meint Vasantha. Lebt ein verfluchtes Mädchen in der Stadt, geht es ihr ohnehin besser als auf dem Land, »weil die soziale Kontrolle durch die Nachbarn viel kleiner ist, man kann den Fluch eher geheim halten«.

Vasantha erzählt, dass auch Buben verflucht sein können. Aber viel seltener. »Ihnen geht es meist besser als verfluchten Mädchen. Sie finden fast immer Großeltern, die sie unterstützen, ihnen Kleider und Stifte für die Schule kaufen.«

Wer fragt, welche Zukunft Mädchen wie Jayalakshmi haben, der schlägt das vielleicht schwärzeste Kapitel dieser dunklen Geschichte auf: Hat sie Glück, so kann sie in der Familie ihrer Schwester bleiben, wird nicht geschlagen, putzt, räumt auf. Einen Mann wird sie kaum finden. Wer will schon eine Verfluchte zur Frau? Und wer soll bereit sein, Mitgift für sie aufzubringen? »Nur Gott weiß es«, sagt Sangheeta, Jayalakshmis ältere Schwester, und lächelt.

Haben die verfluchten Kinder Pech, beginnen sie schon als Vier- oder Fünfjährige als Devadasi, als Tempeltänzerinnen. Man weiht sie einer Göttin, ein uraltes Ritual aus hinduistischer Tradition. In Wahrheit aber müssen sie jedem Mann des Dorfes sexuell zur Verfügung stehen. Die Devadasis werden in ihren Dörfern verachtet und ausgegrenzt. Sie können nicht heiraten, sie arbeiten für ein paar Rupien als Prostituierte. Aber auch die verfluchten Mädchen, die in der Großfamilie bleiben, sind sexuelles Freiwild, jedermann darf sich ihrer bedienen. Schuldgefühle? Unrechtsbewusstsein? Wieso? Es ist ohnehin das Recht eines jeden höherkastigen Mannes, eine niederkastigere Frau zu missbrauchen, ohne dass er sich verunreinigt. Und dann sollen ausgerechnet bei Verfluchten andere Regeln gelten? Sind diese Mädchen erwachsen, enden auch sie häufig als Prostituierte.

125 Kinder zwischen sechs und zehn Jahren besuchen die Förderschule für Begabte, die nach dem Tsunami in dem Dorf gebaut wurde, in dem Jayalakshmi lebt. Die Kinder werden nachmittags in vier Klassen unterrichtet. Um herauszufinden, wie viele der Kinder verflucht sind, müssen die Lehrerinnen nur zwei Fragen stellen: Wer wohnt nicht mehr bei seinen Eltern? Und: Ist jemand aus eurer Familie gestorben oder gab es sonst ein großes Unglück? Acht Kinder melden sich, fünf Mädchen darunter. Vasantha, die Leiterin, schreibt alle Namen auf ein liniertes Blatt: S. Nanthini, Vater tot; I. Mahalakshmi, Mutter tot; R. Ramy, Vater tot; R. Subashri, Vater tot; I. Rajwari, Vater und Mutter geschieden; S. Naveen Kumar, Vater tot; M. Abdul Lathef, Vater tot; E. Ravi Kumar, Vater tot. Das Mädchen Jayalakshmi ist hier nicht aufgezählt, weil sie die Klasse für Behinderte besucht. Sie alle aber schreiben die Geschichte der verfluchten Kinder fort.

Manchmal glimmt ausgerechnet da, wo man es am wenigsten erwartet, Licht und Hoffnung: in der Leprakolonie. Dort wohnt und arbeitet Panjali, eine zierliche Frau von 36 Jahren, sie ist ihrem scheinbar vorherbestimmten Schicksal entflohen. »Lepra ist eine Krankheit, keine Sünde«, steht auf dem Spruchband über dem Eingang zur Leprakolonie in Pondicherry. Aber was weiß schon die Regierung? Panjalis Großvater hatte Lepra, ihr Vater trank, und weil ihre Familie überzeugt war, dass Lepra natürlich eine Sünde sei, war Panjali ein verfluchtes Kind. Panjali jedoch entzog sich diesem Irrsinn, dieser unentrinnbaren Spirale von angeborenem Glück und Unglück. In der Leprakolonie gab es damals keine Schule, aber eine Behörde schickte eines Tages Lehrer: »Meine erste Schule war unter einem Baum.« Sie beendete sie als Beste. »Ich wollte in allem die Beste sein und ich war in allem immer die Beste. Ich wusste, das ist der einzige Ausweg, den ich habe.«

Mit 17 wurde sie gegen ihren Willen verheiratet, bekam zwei Söhne, machte als einzige Frau unter zwanzig Männern eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, schloss – natürlich – als Beste ab; trennte sich von ihrem Mann, obwohl die Nachbarn in der Leprakolonie bis heute flüstern, kaum redet sie mit einem fremden Mann: »Sie ist sicher Prostituierte?« Was soll eine alleinstehende Frau denn sonst sein? Und Panjali redet mit vielen Männern, denn sie berät Tuberkulosekranke und HIV-Infizierte für die Organisation World Care Council. »Ich werde in der Leprakolonie bleiben«, sagt sie und ballt beide Hände zu Fäusten: »Es ist einfach, zu gehen und sich zu verstecken. Bleiben muss man aushalten.«

Und so hat diese dunkle Geschichte doch noch ein ermutigendes Ende.