Schamlos

Eine Mode wird zur Norm: Alle rasieren sich. Und zwar überall. In ein paar Jahren wird uns Intimbehaarung bei Frauen und Männern völlig seltsam vorkommen. Eine neue Körpersprache, die Privates erzählt - und viel über unsere Gesellschaft verrät.

Ich bin mit meinen 37 Jahren alt geworden. Das wird mir schlagartig klar, als sich die Tür zur Sauna öffnet und eine ausgelassene Gruppe Mittzwanzigjähriger hereinkommt: allesamt unten herum nackt. Ich weiß nicht, ob ich sie oder sie mich ungläubiger anschauen. In meiner Jugend gab es diesen Spruch, der mir nun durch den Kopf schießt: »Noch kein Haar am Sackl, aber schon rauchen/knutschen/in die Disco wollen.« Traf einen der, war klar: Man gehörte nicht dazu. Zu den großen Jungs, die mit haarigen Sackln auf ihren frisierten Vespas saßen und all das machten, was man auch gern getan hätte.

Nicht dass Männer ohne Schamhaare etwas Neues für mich wären. Als mein Freund Nils mit Anfang zwanzig aus einer bayerischen Provinzstadt nach Berlin ging, um dort endlich offen ein schwules Leben zu führen, erzählte er mir bald: »So, nun habe ich es auch getan. Die Schamhaare sind ab.« Das sei unter allen Berliner Schwulen Standard. Für mich war das fremd – aber da die ganze Welt der Schwulen eine mir fremde war, passte es wieder. Nun aber, angesichts der nackten Überzahl, bin ich es, der sich fremd fühlt.

Schon bald werden Schamhaare so ungewöhnlich sein wie heute unrasierte Achseln bei einer Frau. Alle Untersuchungen zum Thema Intimenthaarung kommen in einem Punkt überein: je jünger, desto nackter. Etwa neunzig Prozent der Frauen in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen sollen sich, einer Studie der Universität Leipzig zufolge, die Schamhaare ganz oder teilweise entfernen – wobei der Trend, so amerikanische Studien, deutlich zur Komplettenthaarung geht. Und: Männer rasieren, epilieren und waxen zwar noch etwas weniger als Frauen (in der Gruppe unter 25 sind es etwa siebzig Prozent), »es geht aber deutlich in Richtung Angleichung«, so Aglaja Stirn, die in Hamburg Professorin für Psychosomatik ist und über den Enthaarungstrend geforscht hat.

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Die Geschichte des Feldzuges gegen das krause Haar ist schnell erzählt. Schon in antiken Hochkulturen wurden Schamhaare entfernt, aus ästhetischen wie kultischen Gründen. Im Islam wird die Scham- und Achselhaarentfernung von einem Hadith, einer außerkoranischen Lehre Mohammeds empfohlen. Im Mittelalter rasierten sich die Prostituierten ihre Scham. Und in der »ersten sexuellen Revolution« in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts gab es urbane Subkulturen, in denen eine nackte Genitalgegend gängig war – eine Praxis, die von den Nazis, die eine blond wuchernde Schambehaarung propagierten, als »dekadent« gebrandmarkt wurde. Ab den 1980er-Jahren wurden in der Pornografie weibliche Geschlechtsorgane zunehmend nackt gezeigt. Zum einen, weil auf diese Weise tiefere gynäkologische Einblicke möglich waren. Zum anderen, weil Haar bei den intensiven Reibungen in Hardcore-Pornos schlicht unangenehm war.

Der eigentliche Take-off der Intimenthaarung aber fand in Brasilien statt. Wo Frauen schon immer ein besonderes Augenmerk auf die »Bikini-Zone« legten, setzte sich in den 1980er-Jahren das »Brazilian Waxing« durch – die Komplettentfernung des Schamhaars mit heißem Wachs. In den USA kam dieser Trend besonders gut an; Körperbehaarung wurde hier schon lange als Makel betrachtet. Nachdem sich im Jahr 2000 in einer Sex and the City-Episode die Protagonistin Carrie Bradshaw über ihr Brazilian Waxing ausgelassen hatte, eröffneten binnen kurzer Zeit zahlreiche Studios. Prominente von Gwyneth Paltrow bis Victoria Beckham leisteten Schützenhilfe und schwärmten von ihren Waxings. Mit globalen Folgen: Inzwischen gibt es auch in Wunsiedel und Bielefeld Enthaarungsstudios.

Bewertet wurde dieses Phänomen bisher vor allem von Feministinnen, am eloquentesten von der britischen Komikerin Caitlin Moran, die sich darüber ärgerte, dass der Trend Frauen alle vier Wochen zu einer teuren und sehr schmerzhaften Prozedur verdamme: »Zeit und Geld, die wir da investieren, sind doch eine Art Steuer auf unsere Vagina.«

Andererseits scheinen nicht wenige Frauen mit ihrem enthaarten Geschlecht ganz zufrieden zu sein. In einem Interview mit The Atlantic äußerte sich eine Amerikanerin ganz unmissverständlich: Sie möge es nun mal, wenn Männer an ihr Oralsex praktizierten. Das passiere aber vor allem, wenn sie enthaart sei. Dazu passt auch die Erkenntnis einer US-Studie, dass vor allem sexuell aktive Frauen waxen. Und eben – und das ist der noch wichtigere Einwand gegen die feministische Kritik – auch Männer.

Etwa mein Freund Leon. Er ist 28, Schauspieler und lebt in Köln. Darauf gekommen sei er, als er mit einer gewaxten Frau Sex hatte. »Ich fand das eigentlich erst gar nicht schön. Aber als es zum Oralsex kam, war es einfach toll. Cunnilingus ist sowieso super – aber noch viel besser, wenn man keine Haare im Mund hat.« So sei er auf die Idee gekommen, es auch selbst zu probieren. Rasieren kam für ihn nicht in Frage, allein bei dem Gedanken an Bartstoppeln im Schritt schüttelt er sich. Die Methode mit Kaltwachsstreifen erschien ihm wie eine besonders effektive Foltermethode, also ging er in ein »Sugaring«-Studio, in dem die Haare mit einer Art Karamellpaste entfernt werden. Die Prozedur selbst sei zwar auch »nicht gerade lustig« gewesen (vor allem die Tatsache, dass die Enthaarerin nebenbei noch eine Kollegin anlernte), aber mit dem Ergebnis war Leon höchst zufrieden. »Wenn die Stellen enthaart sind, sind sie unglaublich sensibel. Wenn ich dann da angefasst werde, ist es viel intensiver. Oft muss ich beim Sex kichern, so kitzlig bin ich.« Die Paste koche er sich inzwischen selber: vier Tassen Zucker mit je einer halben Tasse Zitronensaft und Wasser.

Für Leon ist die Sache klar: »Ich mache es, weil der Sex so besser ist.«

Wenn es bei allen so wäre, wäre die Sache damit erledigt. Intimhaarentfernung wäre ein weiterer Fortschritt der Menschheit, ähnlich, sagen wir, dem Zähneputzen. Aber so einfach ist es nicht. Denn dass der Trend sich so schnell durchgesetzt hat, liegt an seinem imperativen Charakter. Das Wort Schamhaar ist in den letzten Jahren umdefiniert worden. Heute bedeutet es nicht mehr »Haar, das die Scham bedeckt«, sondern »Haar, für das man sich schämt«. Die Psychosomatikerin Aglaja Stirn: »Ein Großteil der 20-Jährigen sagt heute: Es ist mir unangenehm, behaart in die Sauna zu gehen. Viele Frauen und Männer machen das nicht aus freien Stücken.«

»Mit Haaren assoziiert man Tierisches: Schmutz, Geruch, Unreinheit.«

Meine Bekannte Clara, 32, Fotografin aus Hamburg, berichtet von einem One-Night-Stand, den sie vor ein paar Jahren mit einem Mann von Anfang zwanzig hatte. Alles sei bestens gelaufen, sie fanden sich nett, attraktiv, wollten miteinander ins Bett. Dort blieben sie aber nicht lange: »Als er mich anfasste, fragte er, offensichtlich verdutzt: Wieso hast du denn da Haare? Es war nicht böse gemeint – trotzdem war ich so empört, dass ich ging.«

Die geplatzte Affäre erinnert an eine unglückliche Episode aus dem Leben John Ruskins, einer der wichtigsten Künstler und Kunsthistoriker des Viktorianismus. Der war vernarrt in die glatten Statuen des klassischen Griechenlands. Als er dann in der Hochzeitsnacht entdeckte, dass seine Braut nicht aus Marmor, sondern Fleisch und noch dazu behaart war, erschrak er so, dass er die Ehe nicht vollziehen konnte. Über John Ruskins Impotenz lachte die gebildete Herrenwelt des 19. Jahrhunderts. Vielleicht war er aber einfach nur seiner Zeit voraus. In Internetforen finden sich heute Sätze wie dieser: »Schamhaare sind einfach eklig. Schaut euch mal einen alten Porno an, dann wisst ihr, was ich meine.« Was bedeutet das Begehren nach der neuen, nackten Scham?

Eine Deutung ist offensichtlich – aber so anstößig, dass sie nur selten ausgesprochen wird. Eine komplett enthaarte weibliche Scham ist dem Augenschein nach ein Kindergenital. Sind also all die jungen John Ruskins verkappte Kinderschänder? Natürlich ist das Quatsch. Aglaja Stirn aber gibt zu bedenken: »Frauen, die sich enthaaren, entfernen gewissermaßen ihre sekundären Geschlechtsmerkmale. Sie verwandeln sich rein optisch in präpubertäre Körper. Damit signalisieren sie vor allem eines: Reinheit und Ungefährlichkeit. Das hat heute eine große Anziehungskraft.«

So paradox es scheint: Zum einen verweist der Trend auf so »schmutzige« Dinge wie Pornografie, auf Oralsex und ein aktives Sexualleben. Und doch kann er, so Stirn, als »Sexualabwehr« interpretiert werden: »Die Sexualität soll vom Triebhaften gereinigt werden. Mit Haaren assoziiert man Tierisches: Schmutz, Geruch, Unreinheit.«

Es geht um die Frage der Bilder – und auf dieser Ebene findet gerade ein Wandel statt: Das alte Bild der triebhaften, schmuddeligen und tendenziell exzessiven Sexualität, die aus diesem Grund aus der öffentlichen Sphäre verbannt war, weicht einem neuen Bild des sauberen Sexes, der sich am Ideal des Sports orientiert – fitte, glatte Körper, die allenfalls von einer leichten Schweißschicht überzogen sind. »Zum einen wird Sport immer stärker sexualisiert«, sagt Aglaja Stirn, »die Outfits werden immer knapper, es gibt so etwas wie Table-Dance-Work-outs. Auf der anderen Seite wird Sexualität versportlicht.« Und damit entsexualisiert, könnte man sagen. Dieses Bild der sauberen, sportlichen Sexualität ist nicht mehr verbannt ins Boudoir, sondern darf in der Gesellschaft offen gezeigt werden. Auf diese Weise löst sich auch
der vermeintliche Widerspruch: Das Ideal des reinen Körpers ist kein Gegensatz zur allgegenwärtigen Sichtbarkeit der neuen Mainstream-Pornografie (dass es daneben unzählige kleine Porno-Genres gibt, in denen die Rückkehr des Verdrängten – Haare, Falten, Schmutz – gefeiert wird, versteht sich von selbst). Es gehört nicht viel Fantasie dazu, Pornos als Work-out-Anleitungen zu betrachten. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch hat für diesen Kulturwandel der Sexualität eine sehr griffige Formel gefunden: »Wohllust statt Wollust«.

Das passt sehr gut zu den Thesen des österreichischen Kulturphilosophen Robert Pfaller. Der wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass unsere Kultur gerade einem drastischen Reinigungsprozess unterzogen wird, dass alte Genusstechniken wie Rauchen und Alkoholtrinken unter Generalverdacht gestellt werden und einem neuen Puritanismus weichen, dessen Ideale Fitness, Sport und Gesundheit sind. Als Symbol dieses neuen Regimes sieht Pfaller entgiftete Lebensmittel wie Butter ohne Fett, Bier ohne Alkohol und Kaffee ohne Koffein. Sie suggerieren, dass so etwas wie Genuss ohne Reue möglich wäre. In dieses Paradigma fügt sich auch der neue »Sex ohne Körper« – oder genauer: der Sex, dessen Ideal der unschuldige Körper ist. Was abhanden komme, so Pfaller, sei die Fähigkeit zur »Sublimierung«: Darunter versteht er, dass Objekte oder Handlungen, die normalerweise ekelerregend sind – etwa der Rausch mit seiner Tendenz zur Entgrenzung, das Tabakrauchen, von dem wir alle wissen, wie schädlich es ist, oder aber das tierische, unter ständigem Geruchsverdacht stehende Schamhaar – in gewissen Situationen nicht nur ihren Schrecken verlieren, sondern selbst Quelle der Lust werden können.

All das muss denen, die sich ihre Schamhaare entfernen, gar nicht bewusst sein. Und trotzdem – oder besser: genau deswegen – wirkt die neue Doktrin. Clara etwa erzählt, dass sie nach jener gescheiterten Nacht mit dem jungen Mann nun auch gelegentlich zum Waxing gehe. Nicht wegen des Blödmanns. Sondern weil sie sich dann »irgendwie sauberer« vorkommt. Während unseres Gesprächs kommt sie jedoch ins Zweifeln: »Aber eigentlich duscht man sich ja sowieso täglich …« Auch erinnert sie sich an eine unerfreuliche Episode, die sie mit ihrem nunmehr zeitgemäßen Genital einmal hatte: Sie war im gemeinsamen Ski-Urlaub mit ihrem Vater in der Hotelsauna. »Auf einmal war es mir total unangenehm, dass er mich da enthaart sieht. Es war so, als ob ich ein Ausrufezeichen zwischen den Beinen hätte.«

Genau das aber, dieses Ausrufezeichen, das die Modifikation der eigenen Intimgegend immer bedeutet, kann auch positiv gesehen werden. Paula Villa ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte: Körpermodifikationen. Auf der einen Seite interpretiert auch sie den Trend zur Intimenthaarung als »Leibvergessenheit«: »Der Körper muss heute von allen biografischen Spuren gereinigt sein. Alles, was andeuten könnte, man hätte den Körper nicht im Griff, löst Ekel aus.« Im Hintergrund stehe das für die Gegenwart wichtige Modell des »unternehmerischen Selbst«: »Man muss ständig an sich arbeiten, sich optimieren. Man ist ganz allein für sich verantwortlich.« In diesem Sinne werde der Körper als »Rohstoff des eigenen Selbst« betrachtet, der sauber und leistungsbereit zu sein habe.

Doch nun kommt das große Aber: »Man darf nicht vergessen, dass damit auch eine neue Freiheit einhergeht: Der Körper ist eben nicht mehr Schicksal. Man kann Modifikationen auch als Ausgang aus der Natur hin zu einem selbstbestimmten Körper interpretieren.« Als Beleg für diese These führt sie an, dass Moden wie Piercing und Enthaarung zunächst in lesbischen und schwulen Kreisen praktiziert wurden: als ästhetische Rebellion gegen ein »natürliches« Verständnis von Sexualität, das immer mit Fortpflanzung zu tun hatte – und in dem jede Form anderer Sexualität nur als pervers gelten konnte.

Als mein schwuler Freund Nils mir damals erzählte, dass alle Berliner Schwulen rasiert seien, fragte ich ihn nicht, wieso. Das mache ich nun. Er denkt lange nach. Geht es um den kindlichen Körper? Ja, vielleicht. Natürlich finde er auch die Idee eines jungen, glatten Körpers gut. »Aber eigentlich ist es etwas anderes: Ein rasiertes Geschlecht ist ein Fetisch«, sagt er.

Hier stößt man an eine Geschlechterdifferenz, die nicht wegzudiskutieren ist – weil sie eine anatomische ist. Enthaaren sich Frauen, verwandeln sie sich in Kinder. Das wird durch die als nächstes anstehende Intimmodifikation, die Schamlippenkorrektur, nur noch deutlicher. Paula Villa erzählt, dass Schönheitschirurgen, die diese durchführen, unverhohlen mit einem präpubertären Ideal werben, im Fachjargon wird vom »Brötchen-Look« gesprochen (geschlossene Form mit Schlitz in der Mitte). Enthaaren sich Männer, geht es um das genaue Gegenteil. Es ist klar, dass sie nicht einen Kinderkörper nachahmen wollen: Kleine Jungs haben einen winzigen Pimmel. Als Grund für die Rasur wird oft ganz offen angegeben, dass ein Penis, der sich dann nicht in Schamhaaren versteckt, länger wirkt. Vor allem aber, so meint Nils: Ein haarloser Penis wirkt präsenter, offensiver. In seiner künstlichen Glätte ist er gewissermaßen ein vom Körper abgelöstes Objekt – eben ein Fetisch. Ein und dieselbe Praxis kann auf symbolischer Ebene ganz konträre Bedeutung haben – je nachdem, ob es Männer oder Frauen machen.

Zwei Tage nach unserem Gespräch mailt mir Clara noch einmal. Betreff: Haare. »Ich habe noch mal lange über die Schamhaare nachgedacht. Ich glaube, ich lasse das mit dem Waxing ab jetzt bleiben.« Vielleicht gehen wir in Zukunft gemeinsam in die Sauna. Dann fühlt man sich nicht so allein, unter all den Nackten.

Illustration: Emiliano Ponzi