Wo sollen sie denn sonst hin? 110 verurteilte Sexualstraftäter, zusammen bringen sie es auf rund 500 Jahre Gefängnis, rund 800 Jahre Bewährung. Das Gesetz in Florida sagt: Wer als sogenannter Sex Offender im Gefängnis war, darf danach – in der Regel für den Rest seines Lebens – nicht näher als 300 Meter an einer Schule, einer Kindertagesstätte, einem Park oder einem Spielplatz wohnen. Viele Gemeinden erhöhen die Distanz auf 750 Meter und nehmen Schwimmbäder, Bushaltestellen und Büchereien in die Liste der zu meidenden Orte auf. In einer dicht besiedelten Gegend einen Punkt zu finden, der diesen Vorgaben entspricht, ist fast unmöglich. Anders gesagt: Wer in den USA als Sex Offender verurteilt ist, kann eigentlich in kaum einer Stadt mehr wohnen. Deshalb kamen Pat Powers und seine Männer vor fünf Jahren nach Pelican Lake.
Sie waren verurteilt wegen Sex mit Minderjährigen, wegen Besitz von kinderpornografischem Material, wegen sexueller Belästigung. Sie fanden ein Dorf im Nichts. Hier draußen, eine Stunde Autofahrt von Palm Beach entfernt, im Hinterland von Florida, in das nie ein Tourist kommt, gibt es kilometerweit nichts als Zuckerrohrfelder. Dazwischen Wasserkanäle, Alligatoren, rissige Landstraßen voll verbrannter Reifenreste, in der Luft Geier mit anderthalb Metern Spannweite. Drückend feuchte Hitze, das ganze Jahr über. In der Gegend leben fast ausschließlich Schwarze. Die, die Arbeit haben, dürfen sich den Rücken auf den Zuckerrohrfeldern ruinieren, für einen Hungerlohn. Viele andere verbringen ihre Tage im Crack-Rausch vor ihren Holzhütten.
Pelican Lake, das sie heute Miracle Village nennen, weil die entlassenen Sexualstraftäter da den Neuanfang geschafft haben, ein kleines Wunder: 52 Hütten, eine Kapelle, aufgestellt 1964 als Arbeitersiedlung, etliche Kilometer entfernt vom nächsten Ort. Bis vor ein paar Jahren war das Dorf wie viele hier – die Hälfte der Hütten verfallen und unbewohnt, überall Müll. Die Häuser sind einfach auf den Boden gestellt, der Boden ist zu bröselig für Fundamente. Pelican Lake liegt so weit weg von jedem Ort, jeder Kreuzung, jedem Leben, dass die Verurteilten sich hier niederlassen können, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen.
PAT POWERS, 66, EHEMALIGER TRAINER
Powers ist der Chef im Dorf. »Bossman« nannten ihn die jamaikanischen Dorfbewohner, als er kam und alles auf den Kopf stellte. Er ist 66, ein kleiner kugelrunder Mann mit weißen Haaren und Baseballkappe. Er hat Miracle Village vor fünf Jahren gegründet, zusammen mit Dick Witherow, einem mittlerweile verstorbenen Laienprediger. Sie hatten selber Dreck am Stecken, Powers war mal ein erfolgreicher Trainer, Racquetball, eine Tennis-Variante, er coachte die Jugendnationalmannschaft. Dann vergriff er sich an mehreren seiner Jungs in der Umkleidekabine und landete im Gefängnis.
Jahrelang halfen Powers und sein Kumpel Dick Männern, die in der gleichen Situation waren, Männern, die einen Ort suchten, an dem sie leben konnten. »Eines Tages hörte ich eine Stimme in meinem Kopf«, sagt Powers und hebt einen dicken Zeigefinger, »es war Gott, der mir sagte, geh nach Pahokee!« Pahokee ist der größte Ort in der Gegend, ein Kaff mit drei Fast-Food-Buden, einer Post und neun Baracken-Kirchen. Powers war entsetzt, sie fuhren ein bisschen weiter, entdeckten Pelican Lake, auch nicht gerade schön, aber kleiner, überschaubar, mehr Grün, »da wussten wir: Eigentlich hat Gott diesen Ort gemeint.« Manchmal muss man Gott eben ein bisschen nachhelfen.
Sie sammelten Spenden, Dick, der Laienprediger, konnte das gut, er hatte eine christliche Gemeinschaft namens Matthew 25 Ministries gegründet, die Miracle Village bis heute betreibt. Sie mieteten ein paar der leer stehenden Hütten, renovierten sie – und vermieteten sie an Männer weiter, die aus dem Gefängnis kamen oder seit Jahren auf Bewährung schmorten.
»Unsere einzige Regel war: keine klinisch diagnostizierten Pädophilen. Die brauchen ärztliche Hilfe, die können wir nicht leisten.« Heute leben 200 Menschen in Miracle Village, 110 davon verurteilte Sexualstraftäter, darunter eine Frau.
Einmal schuldig, immer schuldig.
CHRIS DAWSON, 22, EHEMALIGER SCHÜLER
Sie hatte ihm gesagt, sie sei 17. Das kann man ihm glauben oder nicht. »Ich war 19, sie war meine Freundin, ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie jünger sein könnte.« Als Chris mit ihr Sex im Auto hatte, kam die Polizei vorbei, Personenkontrolle. Sie war 14. Das Urteil: zwei Jahre Hausarrest, acht Jahre Bewährung. Im Gefängnis gelten Kinderschänder als das Allerletzte, am zweiten Tag seiner Untersuchungshaft wurde der blasse Brillenträger Chris blutig geprügelt. Nach dem Urteil zog er nach Miracle Village. Seine Eltern kommen ab und zu vorbei, keiner seiner Freunde hat ihn je besucht. Der Makel ist zu groß. »Ich habe einen Antrag gestellt, ich wollte mal ans Meer. Der Bewährungshelfer hat es verboten, er meinte, am Strand könnten Kinder sein.«
In den anderen Dörfern der Gegend hatten die Menschen anfangs Angst vor den Männern von Miracle Village. Aber die Selbstkontrolle der 110 Sex Offender funktioniert verblüffend gut: Weil sie nichts mehr fürchten als Ärger mit der Polizei, sorgen sie dafür, dass keiner von ihnen unangenehm auffällt. »Kein Streit, keine Drogen«, sagt Powers, »wenn was anliegt, klären wir das sofort mit den Beteiligten, sonst geht hier irgendwann alles in Flammen auf. Einer hat von ein paar Jahren versucht, Crack zu verkaufen – wir haben ihn auf der Stelle rausgeschmissen.«
In Miracle Village geht es friedlicher zu als in den benachbarten Dörfern, ein paar Kilometer weit weg. Trotzdem sagt der stellvertretende Bürgermeister von Pahokee, dem größten Ort der Gegend: »Ich verstehe, dass ehemalige Sexualverbrecher irgendwo leben müssen. Ich hatte nur gehofft, dass es nicht ausgerechnet hier sein muss.«
Das Problem nennen sie in den USA das »Nimby«-Problem, Nimby ist die Abkürzung für »not in my back yard«, nicht in meinem Hinterhof: Jeder ist tolerant – solange die Probleme nicht direkt vor seiner Nase auftauchen. In Deutschland gibt es das auch oft, ob es um Windkrafträder geht oder um Asylbewerberheime. Und auch bei Sexualstraftaten wird Deutschland zum Nimby-Land. Alle paar Monate gibt es Berichte über Menschen, die ihre Strafe abgesessen haben und ein neues Leben beginnen wollen – und nach zwei Tagen stehen die Nachbarn mit Transparenten vor der Tür: »Wir wollen hier keine Kinderficker«.
Das Problem in Miracle Village sind nicht die Nachbarn, sondern die Bewährungshelfer. Sie müssen darauf achten, dass die Verurteilten ihre Auflagen einhalten. Aber es ist nicht ganz klar, ob man sie wirklich »Helfer« nennen soll. Pat Powers, der Dorfchef, sagt: »Da bewirbt sich einer von uns bei einem Laden in Pahokee, und einen Tag später heißt es plötzlich, nein, wir sind doch nicht interessiert. Dann weißt du, der Bewährungshelfer hat denen gesteckt, was du angestellt hast.«
Nach amerikanischem Recht müssen die Verurteilten die Bewährungshelfer bezahlen. Und jedes Formular. Und die GPS-Sender am Fuß, mit denen die Polizei sie jederzeit orten kann, die kosten um die 300 Dollar im Monat. Das ist viel, wenn man sein Geld mit Hilfsjobs in der Gegend verdient.
Fünf der Männer arbeiten in der Dorfverwaltung, sie bezahlen sich selbst als Angestellte der Gemeinde. Powers zum Beispiel kriegt 200 Dollar in der Woche. Große Sprünge können sie damit nicht machen. Aber wohin sollen sie auch springen? Andere arbeiten als Anstreicher, als Koch, als Zuckerrohrarbeiter. Was so geht in diesem gottverlassenen Landstrich.
Und es ist schwer, einen Job zu kriegen, wenn einen das ganze Land im Internet findet. Laut Gesetz steht jeder verurteilte Sexualstraftäter in einem Online-Verzeichnis, der »Sex Offender Registry«. In dieser Liste bleibt er sein Leben lang. Man muss Pat Powers und die anderen nur googeln, dann stößt man auf die Steckbriefe. Verbrecherfotos. Mit genauen Angaben und Adresse. Oft werden die Einträge nicht einmal gelöscht, wenn die Täter sterben. Zum Vergleich: In manchen deutschen Bundesländern gibt es solche Dateien auch, aber nur für besonders harte Fälle mit Rückfallgefahr – und keine dieser Dateien ist öffentlich zugänglich.
CHAD STOFFEL 37, EHEMAILGER MUSIKLEHRER
Stoffel ist die gute Seele des Dorfes, er hilft in der Verwaltung, er gibt anderen Gesangsunterricht. Der zarte Mann mit der hohen Stimme war mal Musiklehrer, er hat in einem Sommer-Camp einen Jungen unsittlich berührt. Zur Verhandlung kam es nur, weil er sich selbst anzeigte. Der Junge wollte nie aussagen. Erzählt hat Chad davon zum ersten Mal bei einem bizarren Gruppentreffen: »Ich bin damals zu etwas gegangen, was man Gay Rehab nennt. Ich wollte meine Homosexualität loswerden wie eine Sucht. Ich habe tatsächlich daran geglaubt.« Er lacht. Heute trägt er blonde Strähnchen und macht den Eindruck eines Menschen, der mit sich im Reinen ist. Er hat die ordentlichste Hütte von allen, sein Wohnzimmer dient dem Organisationsteam als Konferenzraum. Ein sonniger Mittag. Pat Powers und ein paar andere sitzen bei zugezogenen Jalousien und frostig aufgedrehter Klimaanlage in Chads Wohnzimmer, um einen Anruf beim Staatsanwalt zu machen. Ein Mann aus der Gegend hat um Hilfe gebeten, er hatte nie Ärger mit dem Gesetz, aber jetzt hat er Kinderpornografie aus dem Internet runtergeladen, er wurde erwischt. Powers sagt: »Er hat falsch gehandelt, keine Frage. Aber seine Schwierigkeiten sind größer, als er es verdient hat. Der Staat Florida wertet jedes Einzelbild eines Films als verboten. Das heißt, er hat mit jeder Sekunde Film 24 Straftaten verübt.«
Powers und seine Helfer vereinbaren einen Termin mit dem Staatsanwalt in Miami Beach, vielleicht können sie ein gutes Wort einlegen. »Das Wichtigste, was wir hier den Leuten mitgeben können, ist die Warnung: Sagt den Behörden kein Wort ohne Anwalt.« Powers schiebt die verwaschene Baseballkappe auf seinem Kopf zurecht und erklärt: »Denn bei diesem Thema kannst du immer nur verlieren, egal, was du sagst.«
In Deutschland war das zu verfolgen bei der Pädophilie-Diskussion vor der Bundestagswahl. Daniel Cohn-Bendit und andere Grüne hatten vor Jahrzehnten haarsträubendes Zeug über die freie Liebe mit Kindern geredet. Und auch wenn Cohn-Bendit oder Volker Beck versuchten, sich aus heutiger Sicht differenziert dazu zu äußern – in der öffentlichen Meinung, an den Stammtischen, war längst kein Platz mehr für präzise Unterscheidungen. Einmal schuldig, immer schuldig.
JAMAL MANNS 40, EHEMALIGER JUGENDPASTOR
Jamal liebte seinen Job, und er liebte die Jugendlichen, mit denen er arbeitete. Mit einem 17-Jährigen flirtete er per SMS, der Junge schrieb zurück, seine Eltern zeigten Jamal an. Er saß drei Jahre im Gefängnis, seit Januar lebt er in Miracle Village. »Ich war dumm«, sagt Jamal, »ich habe nicht wahrhaben wollen, dass die SMS-Nachrichten falsch sind. Wir haben uns nie auch nur berührt. Aber wir mochten uns, wir mochten uns wirklich.« Seinen Glauben an Gott hat er nicht verloren, aber sonst so ziemlich alles. Jamal sagt: »An den drastischen Strafen wird sich erst was ändern, wenn der Sohn eines ranghohen Politikers in so eine Situation wie wir gerät. Dann werden die Gesetze sofort gelockert, wetten?«
Die Gegend ist arm. Und brutal. Erst vor ein paar Tagen sind zwei Männer in einem anderen Dorf mit einem Hammer totgeschlagen worden. Üble Ecke – beängstigend vor allem auch für die Familien in Miracle Village. Das Gesetz verbietet Sexualstraftätern, neben Schulen oder Parks zu wohnen, es ist ihnen aber nicht prinzipiell verboten, in der Nähe von Kindern zu leben. Also haben manche von ihnen Frau und Kind mitgebracht. Und die alten Zuckerrohrarbeiter, die hier immer noch leben, im friedlichen Nebeneinander mit den Neuankömmlingen, haben längst Enkel. Gabby ist Ende siebzig, sie läuft mit ihren zwei jüngsten die Hauptstraße runter, faltige Haut, zahnloser Mund, meckerndes Lachen, manche sagen, sie sei ein bisschen verrückt. »Sind ja irgendwie auch alle meine Enkel«, sagt sie. Irgendwelche Probleme mit dem, was die Männer so angestellt haben? Gabby lacht. »Ach was, wir machen alle Fehler. Ich find es schlimmer, dass die Kids drüben in Pahokee Crack verkaufen.«
Bevor ein Sex Offender im Dorf aufgenommen wird, muss er sich einer genauen Prüfung unterziehen. Rund hundert Anträge kriegen sie im Monat, »auf jeden, den wir nehmen, kommen mindestens zwanzig, die wir ablehnen«, sagt Powers. Und nicht alle bleiben. In den letzten fünf Jahren sind rund 300 Männer hierher gekommen und später weitergezogen, um woanders ihr Glück zu suchen. »Einer von unseren Ehemaligen studiert jetzt oben in New York«, sagt Powers, »darauf sind wir ein bisschen stolz.«
Weiterleben, ja. Vergessen, nie.
DOUGLAS RYAN, 23, EHEMALS OBDACHLOS
Doug ist einer der Jüngsten in Miracle Village, scheuer Blick, Igelfrisur, viele Zigaretten. Er hatte vor drei Jahren Sex mit einer Minderjährigen, damals lebte er auf der Straße, in den Wäldern, nahm jede erdenkliche Art von Drogen. »Meine Adresse für den Briefträger war: Nachmittags um drei am großen Baum«, sagt er. Er ist einer der ersten Fälle, in denen ein Gericht Miracle Village von selbst als Alternative zum Gefängnis vorgeschlagen hat. Jetzt erledigt er hier die Jobs, die sonst keiner machen will, er sammelt Müll ein, verjagt Ratten, repariert anderen das Klo.
Dienstagnachmittag, kurz nach zwei. Im kleinen Gemeindesaal sind ein paar Stühle im Kreis aufgestellt, die Vorhänge zugezogen, gemeines Neonlicht. Die wöchentliche Sitzung mit Ben Taylor, dem Psychologen. Ein knurriger Mann mit weißem Scheitel, Mitte sechzig, aus dessen randloser Brille ein paar Scherben gebrochen sind. Er kommt extra aus Palm Beach rüber. Zwanzig Männer sitzen im Kreis, die Hitze drückt in den Raum, alle tragen kurze Hosen, an vielen Fußknöcheln blinkt der GPS-Sender.
Jeder stellt sich knapp vor, Name, Vergehen. Die Männer nennen ihre Taten mit kühler Routine. »Ich bin Steve, ich habe ein Mädchen im vaginalen Bereich berührt«, sagt ein Mann mit Waldschrat-Bart. Die formelhafte Benennung schafft etwas Distanz, ein kleines bisschen nur, mehr ist für keinen der Männer hier drin, nie mehr. Als John, der mal Polizist war und junge Mädchen angegrapscht hat, sagt: »Ich glaube, für mein Leben hat es schon eine Rolle gespielt, dass mein älterer Bruder mich als Kind missbraucht hat«, knurrt der Psychologe nur: »Da glauben Sie richtig.« Mehr Erklärungen gibt es an diesem Nachmittag nicht.
Zwei Stunden später treffen sich die zwei Jüngsten, Douglas und Chris, beide sind hier, weil sie minderjährige Freundinnen hatten. Zu zweit hocken sie in Chris enger Wohnküche auf alten Stühlen, sie rauchen und reißen Witze. Irgendwann fangen sie an, das Kirchenlied He Touched Me zu grölen, sie grinsen anzüglich und freuen sich über die Missverständlichkeit des Texts. Zwei Jungs, ein Spaß, aber für Douglas und Chris wird ein unanständiger Witz nie mehr einfach nur ein unanständiger Witz sein, da wird immer ihre Lebensgeschichte mitschwingen. Sie singen, so laut sie können, zwei Jungs, die einfach nur so tun wollen, als sei alles in Ordnung. Als könnten sie Witze machen, die nichts zu bedeuten haben.
Denn das ist natürlich die Schattenseite von Miracle Village: Sie alle helfen sich hier gegenseitig – aber sie stoßen sich auch ununterbrochen gegenseitig mit der Nase drauf, warum sie hier sind. Du gehst morgens aus dem Haus und siehst Sexualverbrecher, du schaust nachmittags vor zur Dorfstraße und triffst Sexualverbrecher, du gehst abends in den Gemeindesaal und triffst Sexualverbrecher. Weiterleben, ja. Vergessen, nie.
Rose und Ted wurden hier zum Paar. Ted darf ein Staff-Shirt tragen, weil er sich um die Dorffinanzen kümmert.
TED RODARM, 44, EHEMALIGER BANKANGESTELLTER; ROSE RODARM, 46, EHEMALIGE »BURGER KING«-MITARBEITERIN
Die Love Story von Miracle Village. Die beiden haben sich hier kennengelernt. Seit September sind sie verheiratet. Erst kam Rose ins Dorf, verurteilt auf Bewährung wegen sexueller Belästigung ihrer Kinder. Rose sagt, ihr Ex-Mann habe sie bei der Polizei angeschwärzt, um das Sorgerecht zu kriegen. Dann kam er selbst ins Gefängnis, die drei Kinder wurden vom Gericht zur Adoption freigegeben. Kein Kontakt seitdem. Ted ist 44, er kämmt sich das schüttere Haar akkurat nach hinten, trägt eine Brille und Tennissocken, er kümmert sich um die Finanzen des Dorfes. Ted saß zehn Jahre im Gefängnis, als 28-Jähriger hatte er Sex mit einer 15-Jährigen. »Danach wollte niemand mehr was mit mir zu tun haben. Dann starb auch noch meine Mutter. So bin ich hierhergekommen.« Die beiden wurden ein Paar, jetzt planen sie eine kleine Hochzeitsreise. Drei Tage North Carolina, drei Tage South Carolina, Besuch bei Verwandten. Für Rose wird es das erste Mal in ihrem Leben sein, dass sie Florida verlässt. Ted erzählt: »Als ich aus dem Gefängnis kam, hatte ich null Komma null Aussichten. Jetzt habe ich eine wundervolle Frau.« Rose schüttelt ein wenig den Kopf, dann lächelt sie an ihm vorbei und schnaubt kurz. Rose und Ted, zwei Menschen, die sich so viel vom großen Glück nehmen, wie sie eben kriegen können.
In ein paar Wochen findet die große Weihnachtsfeier statt, so etwas haben sie bis jetzt noch nie probiert, das Ereignis des Jahres, alle freuen sich auf den Abend, den sie »Christmas In The Village« nennen, als sei er schon eine Tradition. Es wird zugleich die Jubiläumsfeier, sie sind jetzt fast fünf Jahre hier. Pat Powers hat ein paar Spenden aufgetrieben, mit dem Geld kann sich die Gemeinde die Dekoration für die karge Kirche leisten, sie proben jeden zweiten Abend für die Weihnachtsshow. Fünf Musiker, sieben Sänger. Chad, der ehemalige Musiklehrer, sitzt am Klavier und dirigiert. Der junge Chris, der mal in einer Band spielte und auf eine Karriere als Musiker hoffte, strahlt selbstvergessen hinter seinem Schlagzeug. Jamal, der ehemalige Jugendpastor, singt am lautesten, er hat eine geschulte Stimme und singt voll Inbrunst, »God, I will love you… all of my days!«
Rose singt auch mit. Als alle rhythmisch klatschen sollen, verhaut sie sich ständig, aber darüber lachen sie sich gemeinsam kaputt auf der engen Bühne. Rose hat Nudelauflauf für alle gemacht, die Pappteller gehen rum, ein paar Nachbarn sind gekommen, um bei der Probe zuzuhören. Dienstagabend, irgendwo in Florida, für einen Moment wirkt alles, als wäre Miracle Village eine ganz normale Provinzgemeinde. Es sind solche Momente, für die sie hier leben. Chad ist wieder Musiklehrer, Jamal ist noch mal Pastor, Rose ist die Mama. Als wäre nie etwas geschehen.
Am nächsten Tag, beim Spaziergang zwischen den Hütten, zeigen Pat und Chad eine kleine asphaltierte Fläche. Sie erzählen, dass sie da gern einen Basketballplatz anlegen würden. Aber die Behörden sagen: Das wäre ja so etwas wie ein Kinderspielplatz. Und dann dürfte keiner von ihnen mehr in Miracle Village wohnen.
Fotos: Noah Rabinowitz