Ein Körnchen Wahrheit

Mit einem weltweit einzigartigen Experiment soll endlich die umstrittene Frage geklärt werden: Macht zu viel Salz im Essen krank?

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, maximal sechs Gramm Salz am Tag zu sich zu nehmen. Die WHO sogar nur fünf. Männliche Jugendliche in Deutschland kommen aber auf bis zu zehn Gramm am Tag - unter anderem durch hohen Fast-Food-Konsum.

Bevor sie die Mars-Fähre bemannen, pinkeln die sechs Astronauten ein letztes Mal nach Plan. Es ist früher Morgen in Moskau, Februar 2011. Die Astronauten sehen sich – ganz der Simulation getreu, die sie seit neun Monaten leben – nicht im Inneren von vier Stahlröhren isoliert, sondern an Bord eines Raumschiffs, das in knapp 400 Kilometer Höhe um den Planeten Mars kreist. Der Höhepunkt ihrer simulierten Mission steht bevor: die Marslandung. Sie müssen nur noch ihren Urin umfüllen.

Sie kommen an diesem Tag auf 9,146 Liter, aufgeteilt auf sechs Sammelflaschen, aus denen nun jeweils vier mal zehn Milliliter abzuzweigen sind, zum Glück nicht in Schwerelosigkeit. Werkzeug der Wahl sind Spritzen, die Harn durch eine Art Rüssel aufziehen. Die Urinsammlung war mit mehr als einer halben Million Euro gefördert worden. Die Wissenschaftler, welche die »Mars500«-Simulation betreuen, hoffen mit Hilfe des Harns eine Antwort auf eine alte Streitfrage zu finden: Wie schädlich ist Salz?

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Um diese simple Frage kämpft die Medizin einen Krieg, der schon mehr als hundert Jahre dauert und Ärzte auf der Suche nach Urin vom Amazonasbecken bis nach Alaska geführt hat. Es ist ein Krieg, der sich um den Kern von Wissenschaft selbst dreht: Was ist Erkenntnis – und wann darf sie als gesichert gelten?

Erlangen, Zentrum für Molekulare Medizin. Am Abend zuvor hat die Grundlagenforschung gefeiert, die leeren Bierkästen stapeln sich. Sogar unter dem Schreibtisch von Jens Titze steht einer. Es stört den Professor nicht. Titze ist ein Nomade der Wissenschaft: Er forscht in Erlangen, lehrt in Nashville, experimentiert in Moskau. Und er leitet die Langzeit-Studie, die den Astronauten der »Mars500«-Mission auferlegte, 251 Tage lang jeden Tropfen ihres Urins aufzufangen. »So eine einzigartige Chance«, sagt er, »lässt man sich als Wissenschaftler nicht entgehen.«

Jens Titze ist ein hagerer Mann von 46 Jahren. Er stammt aus Schwaben, sitzt gern in Strümpfen im Büro. Labormäuse aus Plüsch stecken ihre Köpfe aus den Rücken der Aktenordner, in denen er die Ergebnisse seiner Experimente abheftet. Über Salz spricht Titze wie Peter Scholl-Latour über Afghanistan. »Ich beobachte mit großem Interesse, wie sich Wissenschaftler da die Köpfe einschlagen. Aber ein Salz-Taliban zu sein macht keinen Sinn. Mich fasziniert Salz einfach.«

Salz ist eine außerordentliche Substanz. Von den fünf Geschmacksrichtungen, die der Mensch wahrnehmen kann, richtet sich allein »salzig« auf eine einzelne chemische Verbindung: NaCl – Kochsalz. Es ist ein lebenswichtiger Nährstoff: Die Natrium- und Chlorid-Ionen, aus denen Salz aufgebaut ist, helfen, den Flüssigkeitshaushalt im Körper im Gleichgewicht zu halten. Außerdem ist Natrium eines der geladenen Teilchen, mit denen Nervenzellen jene elektrischen Impulse erzeugen, die uns fühlen, denken und handeln lassen. Trotz seiner Rolle im menschlichen Körper hat Salz einen mörderischen Ruf. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählt Salz zu den größten Gefahren für die Gesundheit weltweit. Nur ein Stoff macht der WHO mehr Sorgen: Tabak. Wie kann Salz zugleich lebenswichtig und lebensgefährdend sein?

Auf dem Speiseplan unserer Ahnen war Salz selten. Jäger und Sammler aßen den Mineralstoff in den Mengen, die von Natur aus in ihrer Nahrung enthalten waren, weniger als ein halbes Gramm am Tag. Deswegen entwickelte der Mensch im Lauf der Evolution einen feinen Geschmack dafür – und dazu eine Schleuse, um es im Körper zu halten: die Niere. Sie steuert, wie viel Salz über den Urin ausgeschieden wird. Deshalb können Ärzte am Harn ablesen, wie viel Salz jemand aß. Die Niere lässt den Menschen selbst mit sehr wenig Salz problemlos überleben.

Pures Salz ist erst seit rund 5000 Jahren Bestandteil unseres Essens. Damals erkannte man, dass Salzkörner Speisen konservieren können. Diese Entdeckung machte NaCl zu einem Treibstoff der Geschichte: Salz half dem Menschen, sesshaft zu werden, regte Handel an, löste Kriege aus – und wandelte sich von »weißem Gold« zu einem Massengut, das die Ernährung der Moderne bestimmt. Besonders in industriell produzierten Lebensmitteln steckt viel Salz. Es macht sie länger haltbar und lässt billige Zutaten besser schmecken. In westlichen Gesellschaften isst ein Mensch im Schnitt acht Gramm Salz am Tag, in manchen Teilen Asiens zwölf Gramm und mehr. Solchen Überfluss an Salz sind unsere Körper aus der Evolution nicht gewöhnt. Sie reagieren mit einem Verhalten, das sich jeder Kneipenwirt zunutze macht, der zum Bier Brezen spendiert: Der Körper kontert Salz mit Flüssigkeit – er speichert mehr Wasser. Als Folge dieser zusätzlichen Flüssigkeit steigt der Blutdruck. Bei manchen Menschen stärker. Bei manchen schwächer. Aber er steigt. Es ist ein Rätsel.

Moskau, Juni 2010. Der simulierte Flug zum Mars startet mit Schweinebraten, streng nach Plan. Dieser Speiseplan, 251 Seiten lang, umfasst 63 verschiedene Gerichte, die bislang vor allem Bewohnern deutscher Altersheime bekannt waren: Frikassee nach Frühlings-Art oder Seelachs in Senfsauce. Nun soll das Essen die Astronauten auf ihrem simulierten Flug durchs All ernähren. Die Regeln sind streng: Jede Mahlzeit ist vollständig zu verzehren, die Speisefolge steht unabänderlich fest – für neun Monate. Der Speiseplan ist so gestaffelt, dass der Salzkonsum in drei Stufen sinkt, von zwölf auf neun, schließlich sechs Gramm am Tag. Jede Stufe dauert 60 Tage, aber das wissen die Astronauten nicht. So soll verhindert werden, dass sie Ergebnisse unbewusst verfälschen. Allerdings wissen die Astronauten, was sie vor der Ankunft auf dem Mars zum Abendessen aufessen müssen: Waldpilze in Cremesauce.

Das Rätsel, warum der Blutdruck von Mensch zu Mensch verschieden auf Salz reagiert, hängt mit seiner vielschichtigen Struktur zusammen. Das System des Blutdrucks ist so komplex, dass Forscher es mit einem russischen Roman verglichen: Hunderte von Haupt- und Nebenfiguren bestimmen die Handlung – Nährstoffe wie Salz, biochemische Botenstoffe wie Hormone, dazu Blutgefäße, Nervensystem, Gene, der Lebenswandel. Das alles in Wechselwirkung. Und zwar je nach Geschlecht und Alter unterschiedlich. Die Rolle des Salzes in diesem Roman scheidet die Wissenschaftler in Freund und Feind: Wie stark ist sein Einfluss auf den Blutdruck? Eine Seite sagt: stark genug, um eine Reduzierung des Salzkonsums zu rechtfertigen. Die andere: zu gering, um Salz für Krankheiten die Schuld zu geben, die aus hohem Blutdruck entstehen.

Bluthochdruck ist eine der rätselhaftesten Beschwerden, die Ärzte kennen – anfangs noch keine Krankheit an sich, aber schon ein Signal für kommende, schwere Krankheiten: Hoher Blutdruck ist ein entscheidender Risikofaktor für Schlaganfall oder Herzinfarkt. An seinen Folgen starben 2010 weltweit 9,4 Millionen Menschen, das macht ihn in der Statistik zur größten Gesundheitsgefahr. In Deutschland haben rund die Hälfte aller Menschen Bluthochdruck. »Auf Schlau sagt man: essentielle Hypertonie«, sagt Jens Titze. »Ein massiv beforschtes Feld in der Medizin. Da haben sich nicht die Blödsten damit beschäftigt, da hat man alles Geld und alle Technik aufgefahren. Aber im Endeffekt wissen wir nicht viel mehr als vorher. Da kommt die Wissenschaft ans Limit, und dann geht es um die ganz großen Fragen: Wie gewinnen wir Wissen? Was ist denn Erkenntnis?«

Moskau, November 2010. Wie Maschinen-Menschen wirken die Astronauten auf ihrer simulierten Reise durchs All: Sensorennetze auf dem Kopf, Elektroden an Brust und Arm, Datenkabel um die Hüfte. Sie sind die Objekte von mehr als 100 verschiedenen Versuchsreihen. Sie leben streckenweise unter Blaulicht. Sie schlafen mit Blutdruck-Manschetten. Sie blasen ihren Atem in Analysegeräte, sammeln ihren Urin, geben Blut.

»Die Wahrscheinlichkeit, dass es besser ist, weniger Salz zu essen, ist riesengroß.«

Wissenschaftler lieben derart streng kontrollierte Studienbedingungen. Sie können ihre Studienobjekte unter so scharfe Beobachtung stellen, dass sich das Wunder des Lebens in seine Einzelteile aufschlüsseln lässt. Wer dann einzelne Faktoren verändert, kann ihren Einfluss auf das Ganze abschätzen. Dieser extreme Grad an Kontrolle ist bei Stoffen der Ernährung wie Salz gewöhnlich schwer möglich, wie ein kleiner Selbstversuch zeigt: Wie viel Salz haben Sie gestern gegessen? Schon falsch. Das Salz aus dem Streuer trägt nur einen Bruchteil zum Tageskonsum bei, und den größten Anteil hat nicht schmeckbar Salziges wie Schinken, sondern bei Deutschen das Brot. Salz lässt Teig besser aufgehen, zwei Scheiben Brot enthalten zwischen 1,0 und 1,4 Gramm.

Eine Analyse der Auswirkungen von Salz ist noch schwerer: In der Ernährung spielen so viele Einflüsse eine Rolle, dass die Auswirkungen eines einzelnen Faktors nur durch ein extremes Experiment statistisch sicher zu bestimmen wären. Jens Titze entwirft so ein Experiment: 30 000 Menschen, eine Hälfte müsste jeden Tag eine hohe Dosis, die andere eine niedrige Dosis Salz essen – mindestens fünf Jahre lang. »Wo könnte so eine Studie stattfinden?«, fragt Titze. »Im Knast. Ist das ethisch okay? Nein, das ist Wahnsinn.« Er lacht. »Eigentlich war Mars500 auch Wahnsinn.« Titze war fasziniert, als er hörte, dass die russische Raumfahrt einen simulierten Flug zum Mars plante: sechs Männer, 250 Tage allein der Hinflug, vollkommene Isolation – ein Traum. »Im Prinzip war das ein Tierexperiment mit Menschen: eine freiwillige Käfighaltung«, sagt Titze. »Wir haben einen einmaligen Datensatz gewonnen.«

In der Welt der Wissenschaft sind Daten eine wertvolle Währung. Sie ziehen die Grenze zwischen Wissen und Glauben. In der Medizin begann ihr Siegeszug mit einem Mann, dessen Bücher im Büro von Jens Titze sofort ins Auge stechen: In der Front der Aktenordner stehen eine Handvoll alte, in abgegriffenes Leder gebundene Fibeln. Es sind die Werke von Claude Bernard. Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich geboren, stellte sich Bernard als junger Apothekerlehrling eine Frage, die die Medizin revolutionierte: Wirkten die Arzneien überhaupt, die er da mischte?

Über Jahrhunderte hatte Medizin auf dem Glauben an überlieferte Weisheiten gegründet: Was zu wirken schien, gab man als gesicherte Erfahrung weiter, so entstand, auch auf Irrwegen wie Aderlass, ein Kanon an Erkenntnis. Die Medizin war eine Kunst, Heilung ihr Wunderwerk. Bernard verachtete diese Vorgehensweise. Sein Vorbild waren die neuartigen Experimente, mit denen Chemie und Physik damals Erfolge feierten: exakte Versuchsanordnungen, deren Ergebnisse erst nach empirischer Überprüfung in Erkenntnis mündeten. Als Arzt begann er, die Prozesse im menschlichen Körper zu vermessen, abzuwiegen, zu berechnen. Er glaubte nicht an Weisheit. Er wollte wissen, auf die Kommastelle genau. Er brachte der Heilkunst Mathematik bei.

Die moderne Medizin beruht zum Teil auf den Methoden Bernards. Sie sammelt Daten, um daraus Schlüsse zu ziehen – und zweifelt diese so lange an, bis sie statistisch sicher belegt sind. Die Methoden, Daten zu sammeln, lassen sich grob in zwei Arten einteilen: Studien auf der Ebene des einzelnen Menschen und Studien auf der Ebene ganzer Gesellschaften. Im Streit um Salz sind diese beiden Pole mit zwei Namen verbunden: Walter Kempner und Lewis Dahl.

Der Arzt Walter Kempner, ein deutscher Auswanderer in Amerika, sucht 1942 nach einer Heilmethode für Patienten, die an krankhaft hohem Blutdruck leiden – damals ein Todesurteil: Medikamente, die den Blutdruck senken, gibt es nicht. Kempner, der am Hospital der Duke University in North Carolina arbeitet, ist überzeugt, dass Salz eine entscheidende Rolle spielt. Er setzt seine Patienten auf eine salzarme Diät: eine Schale Reis pro Mahlzeit, sonst nur Obst – eine Kurzzeitbehandlung, ein paar Tage, eine Woche. Manchen Patienten geht es besser. Manchen nicht. Da wird eine schwer kranke Witwe eingeliefert. Sie hat Nierenschmerzen, ihr Blutdruck ist extrem hoch: 190 zu 120. Kempner setzt sie auf Diät. Als sich ihr Zustand bessert, entlässt er sie. Sie soll die Diät strikt beachten und in zwei Wochen wiederkommen. Sie kommt nicht. Kempner macht sich Vorwürfe. Er ist sicher: Die Frau ist tot. Zwei Monate später steht sie in seiner Sprechstunde – sie hatte Kempner falsch verstanden, es geht ihr blendend. Ihr Blutdruck: 124 zu 84. Kempner testet seine Reis-Diät ab sofort als Langzeit-Behandlung: so wenig Salz wie möglich, wochenlang. Der Blutdruck seiner Patienten sinkt.

Ärzte nennen Untersuchungen dieser Art klinische Studien. An Gruppen einzelner Patienten wird getestet, ob ein Stoff oder eine Behandlung gesund macht – oder, wie im Fall von Salz, womöglich krank. Walter Kempner war im Streit um Salz der Erste, der diese Methode in großem Maßstab anwandte. Beweisen seine Ergebnisse, dass Salz schädlich ist? Seine Reis-Diät senkt in der Tat den Blutdruck, und sie enthält kaum Salz – aber auch kaum Kalorien, kaum Fett, kaum Cholesterin. Sank der Blutdruck, weil Kempners Patienten wenig Salz aßen? Wenig Fett? Weil sie überhaupt wenig aßen? Die Kritiker Kempners vermissten, was die Medizin eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung nennt. Bis heute ist das die Schwierigkeit klinischer Studien über Salz: Der Stoff ist in der Ernährung ein Faktor unter so vielen, dass es sehr schwierig ist, Ergebnisse allein auf ihn zurückzuführen.

Die zweite Methode – Daten auf der Ebene ganzer Gesellschaften zu sammeln – setzt im Streit um Salz 1954 erstmals ein Schüler Kempners ein: Lewis Dahl, Forscher am Brookhaven National Laboratory in New York. Der Arzt meint, dass Kempner Salz zu Recht ächtet, aber die falsche Art wählt, es zu beweisen. Er glaubt, es brauche einen Vergleich der Ernährungsweisen, an Urin und Blutdruck gemessen: Menschen von heute gegen Menschen von gestern. Die Daten der Moderne findet er vor der Haustür. Jetzt braucht er Jäger und Sammler oder wenigstens so urwüchsige Völker wie möglich. Dahl wählt Eskimos. Als ein Kollege aus Japan weitere Befunde liefert, stellt Dahl seine Daten in Beziehung: Von den Eskimos, die im Schnitt vier Gramm Salz am Tag aßen und keinen einzigen Fall an Bluthochdruck aufwiesen, steigt eine Gerade steil zu den Bauern der japanischen Präfektur Akita auf, die im Schnitt 26 Gramm Salz aßen – und in 39 Prozent der Fälle Bluthochdruck hatten. Eine fast perfekte Korrelation.

Untersuchungen dieser Art heißen Populationsstudien. Vergleiche zwischen ganzen Gesellschaften sollen zeigen, ob Krankheiten auf einen bestimmten Grund zurückzuführen sind – eine Lebensart, eine Verhaltensweise oder auch einen Stoff wie Salz. Aber beweist eine steile Kurve, dass Salz schädlich ist? Nachfolgestudien umfassten auch die Yanomami, ein indigenes Volk aus dem Amazonasbecken, deren Urinproben den gerings-ten gemessenen Salzkonsum der Welt erbrachten: 0,01 Gramm am Tag. Yanomami bewegen sich mehr, essen mehr Obst, trinken weniger Alkohol – kann man ihren Blutdruck mit dem der Bewohner New Yorks vergleichen? Bis heute ist das ein Problem von Populationsstudien über Salz: Wie stellt man sicher, dass die Daten, die man vergleicht, auch aussagekräftig genug sind, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen?

Inzwischen gibt es zu jeder Spielart Dutzende von Untersuchungen über Salz. Schon 1998 spottete ein Artikel in der Fachzeitschrift Science, es gebe Studien in solcher widersprüchlichen Menge, dass Freunde wie Feinde von Salz ihren Standpunkt massenweise belegen könnten. In Fällen wie diesen wendet die Medizin ein Mittel an, das Meta-Analyse genannt wird – gewissermaßen die Studie aller Studien zu einer Streitfrage.

Sie werden dazu nach ihrer wissenschaftlichen Güte gestaffelt, bis eine Pyramide der Beweiskraft entsteht: Am unteren Ende finden sich simple Versuchsreihen. Ganz oben stehen »randomisierte kontrollierte Vergleichsstudien« – da auch Ärzte das nicht aussprechen können, sagen sie: der Goldstandard. Es ist die höchste Stufe medizinischer Studien. Im Fall von Salz fand eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2010 in der Masse aller Studien sieben Stück von dieser Güte. Die Analyse ergab: Menschen, die weniger Salz essen, haben einen leicht geringeren Blutdruck und eine geringere Gefahr, an Schlaganfall oder Herzinfarkt zu sterben – doch der Zusammenhang zwischen Salz und Sterben war um einen Hauch nicht stark genug, um statistisch relevant zu sein. Was heißt das? Wer viel Salz isst, hat häufiger einen hohen Blutdruck. Wer hohen Blutdruck hat, erleidet häufiger einen Schlaganfall oder Herzinfarkt. Wer einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erleidet, kann daran sterben. Jeder dieser drei Sätze ist erwiesen. Aber das muss nicht bedeuten, dass jeder, der viel Salz isst, damit eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, früher zu sterben. Die Freunde von Salz, darunter viele von der Salz-Industrie unterstützte Forscher, feierten das Ergebnis als Freispruch. Die Gegner rechneten das knappe Ergebnis nach – und fanden einen statistisch relevanten Zusammenhang. »Der Streit wirkt für den Laien vielleicht wie eine Spiegelfechterei«, sagt Jens Titze. Aber genau so, durch ständiges Hinterfragen sicher geglaubter Erkenntnis, entstehe Wissen erst. »Das ist Wissenschaft.«

Moskau, Februar 2011. Der Mars. Die Astronauten essen zum Abendbrot Waldpilze in Cremesauce. Auf die letzte Seite seines Speiseplans kritzelt einer die Worte: »OMG! The End!« – Oh mein Gott, endlich Schluss. Als am Morgen der letzte Urin umgefüllt ist, ist es vorbei.

Im Labor von Jens Titze steht ein gewaltiger Kühlschrank. Darin stapeln sich, bei minus 27 Grad, in Gefriertüten geschlagene Pappkartons, in denen Hunderte Urinproben der Astronauten stehen. Die Analyse ist abgeschlossen, der erste Aufsatz mit Ergebnissen 2013 erschienen. Was hat er herausgefunden? »Im Schnitt sank der Blutdruck, je weniger Salz sie gegessen haben«, sagt Titze. Erstmals war es in einer kontrollierten Langzeitstudie gelungen, ein Zusammenhang zwischen Salz und Bluthochdruck nachzuweisen. »Die Überraschung war der Urin.« Der Salzgehalt der Proben schwankte stark: Nur am Urin abgelesen, müssten die Astronauten an manchen Tagen Salz in Massen und an manchen fast gar keines gegessen haben – dabei war der Konsum über Wochen konstant. »Wir haben eine Rhythmik gefunden, ähnlich wie die Regel«, sagt Titze. »Sie menstruieren ihr Salz raus.« Sollte sich dieses Ergebnis bestätigen, müssten viele Studien, die Sammelurin als Maßstab für Salzkonsum nahmen, neu analysiert werden – der Streit um Salz ginge in eine neue Runde. Also weiter keine Antwort auf die Frage, wie schädlich der Stoff ist? Titze lacht. Er selbst achtet auf wenig Salz im Essen. Er achtet überhaupt sehr auf sein Essen. »Die Wahrscheinlichkeit, dass es besser ist, weniger Salz zu essen, ist riesengroß«, sagt er. »Man kann eigentlich nichts falsch machen, wenn man sagt: Leute, reduziert eure Salzzufuhr um
50 Prozent – indem ihr um die Hälfte weniger esst. Dann geht es allen besser. Ob das dann das Salz war, der Zucker, das Fett – da bin ich vielleicht zu wenig Wissenschaftler: Aber das ist mir dann egal.«

Expertise

Überschüssiges Salz scheidet der Mensch aus, lautet die gängige Lehrmeinung. Doch nun haben Wissenschaftler um Jens Titze Hinweise gefunden, dass der Körper erhebliche Mengen Kochsalz in der Haut und in den Muskeln lagert: Messungen mit speziell auf Natrium-Ionen ausgerichteten Kernspintomographen zeigten, dass der Salzgehalt unter der Haut mit den Lebensjahren ansteigt – und zwar im Gleichschritt mit dem Blutdruck. Wie die Versalzung von Gewebe den Blutdruck in die Höhe treibt, konnten die Forscher noch nicht nachweisen.

Folge dem Herz, lautet in Finnland der Ratschlag für salzarme Ernährung: Dort dürfen sich seit den Neunzigerjahren salzarme Lebensmittel mit einem speziellen Siegel schmücken, einem Herz mit dem Schriftzug »parempi valinta« (bessere Wahl). Die von Informationskampagnen begleitete Kennzeichnung sorgte dafür, dass der Salzkonsum in Finnland um ein Drittel zurückging.

Foto: Markus Burke