Spuren der Gewalt

Im April 2004 gingen die Skandal-Fotos aus dem Gefängnis von Abu Ghraib um die Welt: Amerikanische Soldaten foltern irakische Häftlinge. Was wurde aus den Opfern - und den Tätern? Wir haben sie besucht.

Straßenszene in Bagdad, an der Wand ein Bild vom sogenannten Kapuzenmann: Das Foto, das dieser Zeichnung zugrunde liegt, ist eines der bekanntesten Bilder aus Abu Ghraib - und es ist zum Symbol geworden für die Demütigungen, die die irakischen Gefangenen ertragen mussten. (Foto: Yuri Kosyrev/ Noor)

Aus dem Nichts heraus wird er neuerdings aggressiv. Er explodiert dann förmlich, vor zwei Wochen zum Beispiel, als ein guter Freund ihm die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche geklaut hat. Es sollte ein Scherz sein. Taha hat das nicht verstanden und seinen Freund angeschrien: »Wenn du das noch einmal versuchst, trete ich dir den Kopf kaputt!« Er war in diesem Moment nicht mehr er selbst, sagt er. Die Gewalt und die Demütigungen im Gefängnis haben ihn verändert, haben ihn reizbar gemacht, als ob ein Stück der Dunkelheit, die er durchlebt hat, in ihn hineingesickert wäre. Ein irres Mitbringsel aus der Hölle.

Taha Yaseen Arraq Rashid saß drei Monate im berüchtigten Verhörtrakt von Abu Ghraib. Wobei »sitzen« in diesem Fall ein Euphemismus ist: Die meiste Zeit lag Taha auf dem Betonboden seiner Zelle, sagt er: nackt und blutend und eingeschissen.

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Die Wut, die er jetzt manchmal in sich spürt, nennen Psychologen einen »Übererregungszustand«. Es ist eine Reaktion auf den Kontrollverlust, den Menschen erleiden, die über längere Zeit gefoltert worden sind. Jeden Moment kann der Peiniger erneut vor der Zellentür stehen. Die Opfer befinden sich innerlich in ständiger Alarmbereitschaft.

Taha ist jetzt 32 und lebt noch immer auf dem Stück Land, auf dem er geboren wurde, in einem Vorort südlich von Bagdad. Es ist eine ländliche Gegend, Taha baut Kartoffeln und Gurken an und verdient sich manchmal als Straßenarbeiter ein wenig Geld dazu. Mit einem Psychologen hat er noch nie gesprochen. Therapeuten sind so fremd in seiner Welt wie Fitnessstudios oder Techno-Partys.

Jeden Tag knallen irgendwo Schüsse, jede Woche explodieren Bomben, nicht direkt vor seinem Haus, aber in der Nachbarschaft. In den Großraum Bagdad ist in den vergangenen Monaten wieder der Krieg eingezogen. Taha ist deshalb für das Gespräch mit uns bis nach Erbil gereist, im Norden des Landes im autonomen Kurdengebiet. Es ist das Wirtschaftszentrum des Irak und einer der wenigen sicheren Orte.

Nun sitzt er in einem fensterlosen Hotelzimmer in einem Sessel und schaut einen mit ausdruckslosen Augen an. Seine Haut ist stark gebräunt von der Feldarbeit, sein Bart schimmert blond. Er wirkt gleichzeitig schüchtern und konzentriert, angespannt, wie vor einer wichtigen Prüfung.

Zehn Jahre ist es nun her, dass Fotos aus dem Gefängnis von Abu Ghraib die Welt schockierten. Am 28. April 2004 zeigte der amerikanische TV-Sender CBS die Bilder zum ersten Mal, manche schienen wie aus einem Sado-Maso-Porno herausgeschnitten: nackte Iraker mit Säcken über den Köpfen, die anscheinend masturbierten. Daneben: grinsende US-Soldaten. Die Fotos wirkten wie eine Rache für den 11. September 2001 – und wie die einstürzenden Türme des World Trade Center haben auch sie den Lauf der Geschichte verändert. Denn die grenzenlose Solidarität mit den USA war von diesem Moment an vorüber: Die Folterfotos markierten den Anfang vom Niedergang des amerikanischen Ansehens in der Welt.

Tahas dunkle Zeit begann am 22. September 2003, eigentlich ein schöner Tag, erinnert er sich, sein Cousin wollte Hochzeit feiern, und Taha, damals 21, war kurz nach Sonnenaufgang mit dem Bus zum Markt gefahren, um einen Fotoapparat auszuleihen. Seine Familie besaß weder eine Kamera noch ein Auto.

Auf dem Rückweg kamen ihm mehrere schwere Geländewagen der US-Armee entgegen. Taha war zu Fuß unterwegs und ging unbeirrt weiter. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nie Probleme mit den amerikanischen Besatzern gehabt. Dann, mit einem Mal, explodierte einer der Geländewagen. Die Druckwelle war so stark, dass sie Tahas Körper auf den sandigen Boden schleuderte. Als er wieder zu sich kam und aufstehen wollte, schrien ihn die Amerikaner an: »Sit down!« Erst später hat er gelernt, was die Worte bedeuten. Sie rannten auf ihn zu, schlugen ihn mit den Gewehrkolben und durchsuchten seine Tasche, ein Dolmetscher stand dabei. »Warum hast du die Bombe gelegt?«, fragte er Taha. »Und warum wolltest du den Anschlag fotografieren?«

Seit fünf Jahren streitet Taha nun schon dafür, diese Geschichte zu erzählen, nicht nur einem Journalisten, sondern vor Gericht. Er und drei andere ehemalige Gefangene aus Abu Ghraib haben in den USA eine private Militärfirma verklagt, die damals einen Teil der Vernehmungsbeamten gestellt hat. Die Firma heißt CACI, ein Unternehmen, das im vergangenen Jahr einem Umsatz von 3,7 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet hat.

Das Verfahren ist mittlerweile das letzte, in dem über das Recht der Opfer von Abu Ghraib verhandelt wird. Es geht um Schadensersatz, das auch, aber für Taha vor allem um das Recht, sprechen zu dürfen.

Die Klage war ursprünglich natürlich nicht seine Idee. Die einzigen englischen Wörter, die er fehlerfrei sprechen kann, sind: »One Five Zero Eight Zero Three« – 150803, seine Gefangenennummer, die in Abu Ghraib seinen Namen ersetzt hat. Vom amerikanischen Rechtssystem hat er keine Ahnung. Aber er hat nach seiner Haft Anwälte kennengelernt, die Opfern wie ihm helfen. Er wird jetzt vom Center for Constitutional Rights vertreten, einer amerikanischen Menschenrechtsorganisation, die auch schon Guantanamo-Häftlinge unterstützt hat.

Damals, auf dem sandigen Boden, haben ihm die Soldaten die Hände auf dem Rücken gefesselt und einen Sack über den Kopf gezogen. Einer griff ihm zwischen die Beine, fasste Tahas Hoden und drückte kräftig zu. Dann brachten sie ihn zu einer Militärbasis und ein paar Tage später nach Abu Ghraib.

»Sie brauchten einen Sündenbock«


New York, Penn Station, im Herzen von Manhattan. Janis Karpinski ist mit dem Zug von zu Hause aus New Jersey gekommen und hat als Treffpunkt ein Restaurant im Bahnhof vorgeschlagen. Sie will keine Zeit verlieren, dazu gibt es zu viel zu besprechen.

Als die Folterfotos das erste Mal im Fernsehen gezeigt wurden, hörten die Zuschauer auch ihren Namen: Brigadegeneral Janis Karpinski, die Kommandierende von Abu Ghraib und damit verantwortlich für den Skandal. So stand es auch im offiziellen Bericht des Militärs, in dem ihr »schwacher Führungsstil« vorgeworfen wird: Karpinski habe sich nicht dafür interessiert, ob sich ihre Soldaten an die Regeln und Prinzipien der Armee halten. Auch ein Porträtfoto von ihr wurde im Fernsehen eingeblendet. Die Menschen sahen eine Soldatin mit streng zurückgebundenen Haaren und ebenso strengem Blick. Am nächsten Tag belagerten Kamerateams ihr Haus.

»Sie brauchten einen Sündenbock«, sagt Karpinski im Bahnhofsrestaurant. Sie trägt einen flauschigen weißen Wollpullover, Lippenstift, die Haare hat sie noch immer fest zu einem Pferdeschwanz gebunden, ansonsten wirkt die 60-Jährige gar nicht mehr streng, eher aufgebracht. Sie spricht so laut, dass die Gäste an den Nachbartischen sich umdrehen. Bis zum Skandal von Abu Ghraib habe ihr Leben darin bestanden, Verantwortung zu übernehmen, sagt sie. Nur in diesem Fall will sie das nicht. Sie erzählt von der Stimmung im Militär vor dem Angriff auf den Irak 2003, dass Donald Rumsfeld, der damalige Verteidigungsminister, diesen Krieg unbedingt wollte, obwohl die Armee damals gar nicht richtig vorbereitet gewesen sei. Trotzdem hätte kein General »Stopp!« gerufen, weil alle Angst vor Rumsfeld und um ihre Karrieren gehabt hätten.

Rumsfeld war es auch, der Ende August 2003 General Miller mit in den Irak brachte, den Verantwortlichen für das Gefangenenlager in der Guantanamo-Bucht. Damit, so Karpinski, habe die Katastrophe in Abu Ghraib begonnen.

Miller verordnete einen Politikwechsel: Das Ziel in der Haftanstalt war es von jetzt an nicht mehr, Kriegsgefangene oder Straftäter wegzusperren, sondern Informationen zu beschaffen. Damit stellte der General aus Guantanamo praktisch den militärischen Nachrichtendienst an die Spitze der Hierarchie im Gefängnis. Die Militärpolizisten, die Aufseher also, die Janis Karpinskis Kommando unterstanden, waren entmachtet. »Und sie waren überfordert von der neuen Aufgabe und der Masse an Irakern, die der Nachrichtendienst nun jeden Tag nach Abu Ghraib brachte«, sagt Karpinski.

Ende September saßen 3000 Gefangene in Abu Ghraib, Ende Oktober 6000 – und nur rund 360 Militärpolizisten sollten auf die Häftlinge aufpassen. »Da stimmt doch was nicht! Das kann doch nicht sein!«, sagt Karpinski. Selbst die Leute vom Nachrichtendienst hätten ihr damals erzählt, dass 75 Prozent der Gefangenen unschuldig sind und keine wichtigen Informationen verraten können. Später kam sogar heraus, dass dies für 90 Prozent der Insassen galt. Sie waren einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

An seinem ersten Tag in Abu Ghraib versteckte sich Taha im hinteren Teil seiner Zelle. Er war nackt und schämte sich dafür.

Am zweiten Tag kamen drei Soldaten zu ihm, eine Frau und zwei Männer. Die Frau sagte, dass sie Sex mit ihm haben wolle. Taha antwortete: Das könne er nicht, dass sei gegen seinen Glauben. Die Frau lachte ihn aus: »Du bist wohl ein Wahabit, was?« Dann fesselten die beiden Männer Taha ans Stockbett, seine Arme ausgebreitet, er stand da wie Jesus am Kreuz. Die Frau küsste ihn am Hals. Taha spukte ihr ins Gesicht. Das reichte ihr wohl, sie und die Männer verschwanden.

Ein paar Minuten später tauchten sechs andere Soldaten auf, sie hatten Holzstöcke dabei und prügelten Taha, bis er bewusstlos war. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn wieder besuchten.

Diesmal nahmen sie ihn in einen Verhörraum mit. Sie fesselten ihm die Hände auf dem Rücken, zogen einen Strick um seine Brust, sodass das Seil unter seinen Achseln feststeckte, und hängten ihn an der Decke auf. Dann fragte ihn ein Mann auf Arabisch: »Warum hast du die Amerikaner angegriffen?«
»Das habe ich nicht, warum sollte ich das tun?«, antwortete Taha.
»Du solltest es einfach zugeben. Die Amerikaner haben dich gesehen. Und auch die anderen Iraker, die wir verhaftet haben, sagen, dass du es warst.«
»Nein, das stimmt nicht, sie lügen!«
Dann sei der Mann laut geworden, erinnert sich Taha. »Ich werde dich töten!«, schrie er ihn an. Taha konnte nichts sehen, er trug einen Sack über dem Kopf. Plötzlich knallte es im Raum, ein Schuss, die Kugel traf ihn am rechten Schienbein.

Im Hotelzimmer in Erbil krempelt Taha sein Hosenbein hoch und deutet mit dem Finger auf eine weiße, runde Narbe, etwa so groß wie ein Zwanzig-Cent-Stück. Er zeigt darauf wie ein Staatsanwalt auf einen Zeugen. Die Narbe ist sein einziger sichtbarer Beweis, lächerlich klein für das, was ihm angetan worden ist.

Aus den wenigen US-Regierungsunterlagen, die bisher zu seinem Fall veröffentlicht wurden, geht zumindest hervor, dass er wegen der Explosion verhaftet wurde. Ansonsten kann er keine Belege für seine Leidensgeschichte bieten. Deshalb waren die Folterfotos aus Abu Ghraib auch so bedeutend: weil sie das Unfassbare sichtbar gemacht haben. Wer hätte ein paar irakischen Ex-Häftlingen schon geglaubt?

Taha weiß nicht, ob er auch auf den Fotos zu sehen ist. Die meisten abgebildeten Gefangenen tragen Säcke oder Frauenunterwäsche auf dem Kopf. Die Soldaten haben ihnen ihre Gesichter genommen und damit ihre Identität. Für Taha fühlt es sich so an, als würden sie die Opfer bis heute auslachen.

Ein Gerichtsprozess könnte ihm und seiner Geschichte recht geben. Aber ob es dazu kommt, ist fraglich. Im vergangenen Juni wurde seine Klage nach vier Jahren rechtlichen Streitereien um die Zuständigkeit des Gerichts erst einmal abgelehnt. Die vorgeworfenen Taten hätten nicht auf amerikanischem Boden stattgefunden, argumentierte der Richter. Tahas Anwälte sehen das anders und haben Berufung eingelegt: Sie sagen, der Irak sei damals keineswegs ein autonomer Staat gewesen, sondern hätte ganz eindeutig unter der Kontrolle der USA gestanden. Paul Bremer, von Präsident Bush eingesetzt, war der Zivilverwalter des Landes.

Ihre Klage gegen die Militärfirma CACI stützt sich vor allem auf Zeugenaussagen. Etliche Soldaten, die an den Misshandlungen beteiligt waren, behaupten, dass CACI-Mitarbeiter sie dazu angeleitet hätten. »Soften them up!« – kocht sie weich für die Befragung, sei ein gängiger Befehl der CACI-Verhörspezialisten gewesen. Ein verurteilter Militärpolizist hat sogar unter Eid ausgesagt, dass der CACI-Mitarbeiter Steven Stephanowicz ihn damals ganz konkret beauftragt hätte, die Gefangenen auszuziehen, sie mit lauter Musik wach zu halten oder die Hunde auf sie zu hetzen, »doggie dance« habe Stephanowicz das genannt. Auch im offiziellen Militärbericht steht, dass Stephanowicz allem Anschein nach einer der Hauptverantwortlichen für die Misshandlungen ist. Trotzdem stand kein CACI-Mann bisher vor Gericht.

Kritiker erklären das auch mit den engen Verflechtungen, die es zwischen dem Unternehmen und der US-Regierung gibt. CACI gehört zu den großen Profiteuren der Privatisierung des Krieges, seit 2001 konnte die Firma ihren Umsatz um 675 Prozent steigern, mehr als 90 Prozent der Milliardenaufträge kommen derzeit von der US-Re-gierung. Der Firmenname CACI wird spöttisch auch mit »Captains and Commanders, Inc.« übersetzt, weil so viele Mitarbeiter zuvor im US-Militär gedient haben, Stephanowicz beispielsweise war bei der Marine. Welche Aufgaben genau die 15 000 CACI-Leute weltweit für das US-Militär und den Geheimdienst übernehmen, ist nicht klar. Es geht wohl vor allem um das Sammeln und Auswerten von Daten und IT-Dienstleistungen, auch in Deutschland ist CACI in diesem Bereich aktiv und beschäftigt Mitarbeiter auf den verbliebenen US-Stützpunkten. Auf Interviewanfragen reagiert weder das Unternehmen noch Stephanowicz’ Anwalt. Der CACI-Gründer Jack London hat allerdings ein Buch geschrieben, in dem er seine Sicht der Dinge erklärt. Es ist eine Verteidigungsschrift auf 780 Seiten und sieht aus wie die Bibel, roter Umschlag, goldene Schrift, der Titel: Our Good Name.

»Sie brauchten einen Sündenbock«

Janis Karpinski fährt im Taxi zum Ground Zero, dem Ort, wo der Irakkrieg quasi begann. Bis zur US-Invasion 2003 war ihr Leben eine Aufstiegsgeschichte: Offiziersschule, Beförderungen, Auslandseinsätze. Auch ihr Mann war beim Militär. Sie lebten ein paar Jahre auf einem US-Stützpunkt in Deutschland und in Abu Dhabi. Zeit für die Ehe blieb wenig, Zeit für Kinder gar nicht, sagt sie. Als Karpinski im Juni 2003 in den Irak kam, war sie Brigadegeneral, der vierthöchste Rang, den man in der US-Armee erreichen kann. Sie war nicht nur für Abu Ghraib verantwortlich, sondern für 17 Haftanstalten und 3400 Militärpolizisten. Und das sollte 2004 dann plötzlich vorbei sein? Karpinski kann es immer noch nicht fassen.

Erst wurde ihr das Kommando entzogen, dann wurde sie öffentlich vorgeführt, dann degradiert. Nicht etwa wegen Abu Ghraib, nein: Sie soll im Supermarkt einer Militärbasis in Florida eine Flasche Parfüm geklaut haben, so die offizielle Begründung.

Das Taxi hält vor der Baustelle, wo früher die Türme des World Trade Center standen: ein dunkler Fleck, wie ein riesiger stiller Teich, um den herum sich die Straßenlichter in den verglasten Hochhausfassaden spiegeln. Es ist bereits Abend. Karpinski geht zum Bauzaun und krallt sich mit ihren Händen fest, schiebt ihr Gesicht ganz nah an das Metallgitter. »Es gab nie einen Prozess«, sagt sie. »Die wollten nicht, dass ich unter Eid aussage.« Mit »die« meint sie die Regierung, vor allem Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney, die ihrer Ansicht nach damals die Kontrolle übernommen hatten. Dann bricht es plötzlich aus ihr heraus: »Ich glaube, dass Rumsfeld und Cheney diesen bizarren Plan hatten, Länder wie den Irak einfach einzunehmen. Sie haben dann Leuten Geld geboten, damit irgendwas Großes und Überraschendes passiert, um ihnen einen Grund für den Angriff zu liefern. Vielleicht hat die Wucht des 11. September sie dann selbst überrascht.«

Janis Karpinski, die für das Militär gelebt hat, glaubt mittlerweile, dass die Anschläge auf die World Trade Center von der eigenen Regierung gewollt gewesen sind.

»Und es tut mir noch immer im Herzen weh«, sagt sie dann, »wenn ich an meine Soldaten denke, die auf den Fotos zu sehen sind. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat sie als ›faule Äpfel‹ gebrandmarkt, das werden sie nie wieder los.«

Lynndie England hat sich bei Renovierungsarbeiten neulich einen Finger abgeschnitten. Sie ist dann ins Auto gestiegen und selbst zum Arzt gefahren. Als der sie fragte, wo denn das abgetrennte Körperteil sei, hat sie den Finger aus der Jackentasche gezogen und gesagt: »Na, hier.«

Rusty Fout, der diese kleine Episode gerade erzählt hat, kann sich köstlich darüber amüsieren: »Hähähä – na hier!« Er will damit sagen, dass die Menschen in West Virginia nicht gerade zimperlich sind. Auch er war nicht zimperlich, als es darum ging, Lynndie England eine zweite Chance zu geben. »Sie war total verzweifelt«, sagt er. Niemand wollte die Frau einstellen, die das mitleidloseste Wesen auf dem Planeten zu sein schien, die Fotos von ihr haben sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt: Lynndie England mit einer Hundeleine in der Hand, an deren Ende ein nackter Mann über dem Boden kriecht. Sie war der böse Superstar aus Abu Ghraib. Jetzt arbeitet sie bei Rusty Fout, einem Steuerberater.

Das Büro von Rusty Fout ist eine weiße Baracke mit dünnen Holzwänden und einem matschigen Parkplatz davor, in den grauen Wäldern ringsherum liegt Mitte Februar noch Schnee. Bis zum nächsten Haus sind es 300 Meter, bis zum nächsten Ort, Keyser, West Virginia, fünf Kilometer. Drinnen im Wartezimmer steht ein ausgestopfter Biber auf einem Regal, auf dem Tisch liegt ein Waffenkatalog und an der Wand hängt der Kopf eines geschossenen Rehs. Es ist leicht, diese Gegend hier schrecklich zu finden. Die Männer sind zu dick, die Frauen sind zu dick, die Kinder sind zu dick, es gibt mehr evangelikale Kirchen als Supermärkte, Obama ist ein Schimpfwort, und die Lokalzeitung berichtet, dass die Polizei 2013 insgesamt 533 Crystal-Meth-Labore im Bundesstaat entdeckt hat.

Aber in der Zeitung steht auch, dass am Wochenende ein Spaghettiessen veranstaltet wird, um mit den Einnahmen einer Familie zu helfen, die ihre Arztrechnungen nicht bezahlen kann. »Die Menschen hier beschützen sich gegenseitig«, sagt Rusty Fout. Er kennt England, seit sie ein Teenager war, weil er damals die Steuererklärung für ihren Vater gemacht hat. Er nennt sie »Tomboy« – ein Mädchen, das wild wie ein Junge ist.

Seitdem England 2007 nach eineinhalb Jahren Haft frei gelassen wurde, lebt sie wieder hier, bei ihren Eltern im Wohnwagenpark. Sie ist jetzt 31 und hat einige verstörende Interviews gegeben, in denen sie partout keine Reue zeigen wollte: »Die Iraker haben versucht uns zu töten, und ihr wollt, dass ich mich bei ihnen entschuldige?«

Nun hat sie sich entschlossen, nicht mehr mit Journalisten zu reden, was vermutlich eine ihrer klügeren Entscheidungen ist. Dafür spricht Rusty Fout und versucht das Bild von ihr zurechtzurücken. »Lynndie ist eigentlich ein sehr schüchterner Mensch«, sagt er. »Es fällt ihr schwer, Männer kennenzulernen, und sie hat ständig Angst um ihren Sohn, dass irgendein Verrückter ihm wehtut, um sich an ihr zu rächen.«

In Fouts Büro hilft England im Sekretariat. Manchmal begleitet sie ihn auch zum Einkaufen oder fährt ihn nach Hause. Fout, 50, sitzt im Rollstuhl. Mit 14 hat er sich beim Baden in einem Fluss das Genick gebrochen und kann seitdem nur noch seinen Kopf und die Arme bewegen. Er hat sich als Verlierer gefühlt damals, als Außenseiter. Auch in England sah er eine Verliererin. »Sie hat doch nur Befehle befolgt, und dann hat die Regierung sie reingelegt«, sagt er.

Fout vertraut der Politik schon lange nicht mehr – und in seinem Misstrauen ist er deutlich radikaler als Janis Karpinski. Für ihn sind alle Politiker korrupt, die Republikaner, und die Demokraten erst recht. Er liebt sein Land, aber er hasst die Eliten, die Lobbyisten und Wirtschaftsbosse. Ob der 11. September von der Regierung inszeniert war? Dumme Frage, natürlich!

Er will keine gesetzliche Krankenversicherung und keine einschränkenden Waffengesetzte. Der Staat soll ihn in Ruhe lassen, er kann gut alleine leben. In seinem Keller stapeln sich dicke Konservendosen, für den Fall, dass eine Katastrophe passiert. Und Steuerberater ist er auch geworden, um den Menschen zu helfen, so wenig Geld wie möglich an das System abzugeben.

Die US-Regierung, das macht Rusty Fout klar, hat nicht nur ein massives Problem mit der Außenwahrnehmung.

Ob Lynndie England die Zeit in Abu Ghraib irgendwann hinter sich lassen kann? Fout hofft es für sie. Er spricht sie nie darauf an, sie redet nie darüber. Ihre Taktik ist das Schweigen; ganz anders Taha, der Iraker, der sprechen muss.

So geht es auch den anderen ehemaligen Soldaten, die auf den Folterfotos zu sehen sind. Alle haben ihre Haftstrafen mittlerweile verbüßt, niemand will mehr ein Interview geben. Der Einzige, der nicht sofort eine Absage schickt, ist Roman Krol, der damals keine prominente Rolle gespielt hat. Er lebt mittlerweile in Russland und arbeitet für ein Softwareunternehmen. Es gehe ihm gut, sagt er, man könne sich in Österreich treffen, da sei er ohnehin auf Geschäftsreise unterwegs. Er ist dort im »Stanglwirt« untergekommen, einem berühmten Wellnesshotel, in dem auch die Klitschkos gerne entspannen. Das Problem ist nur, dass er grundsätzlich Geld für Interviews haben will, in unserem Fall 2000 Euro. Eine Bedingung, die wir nicht bereit sind zu erfüllen.

Nach dem Verhör haben sie Taha in seine Zelle zurückgebracht und ihn auf dem Boden liegen gelassen, wie achtlos weggeworfenen Müll. Die Schusswunde an seinem Bein blutete. Er konnte die nächsten Tage nicht einmal mehr zur Toilette robben und pinkelte und kotete sich ein. Dann sperrten sie Hana zu ihm.

Hana war eine junge Irakerin, etwa zwanzig Jahre alt, schlank, sie trug einen Rock und Kopftuch. Zuerst war Taha misstrauisch. Er dachte, die Amerikaner hätten sie geschickt, um ihn auszuhorchen, aber dann begriff er langsam, dass sie auch eine Gefangene war.

Neben der Hocktoilette in seiner Zelle gab es einen Wasserhahn an der Wand. Hana zog Taha dorthin und wusch seinen schmutzigen nackten Körper. Endlich konnte er wieder mit jemandem sprechen.

Ein paar Tage später kamen drei Soldaten zu ihnen, sie packten Hana und nahmen sie mit auf den Flur. Einer hielt sie von hinten fest, einer drückte ihre Beine auseinander und der dritte vergewaltigte sie. Taha und die anderen Gefangenen schrieen: »Allahu Akbar! Bitte hört auf!«

Als die Soldaten fertig waren und Hana wieder bei Taha in der Zelle saß, versprach er ihr, dass er sie heiraten würde, sollten sie hier jemals rauskommen. »Du musst dich nicht schämen, du konntest nichts dafür.«

Nach diesem Tag verloren die Soldaten anscheinend das Interesse an den beiden. Hana wurde tatsächlich bald entlassen, und Taha ließen sie die meiste Zeit in Ruhe.
Nach mehr als drei Monaten im Verhörtrakt kam eines Morgens ein Aufseher zu ihm. Er sagte nur: »Happy Pass«, und Taha verstand sofort, was das bedeutet. »Happy Pass« war das Synonym für: Du kommst aus dem Verhörtrakt raus. Von da an lebte Taha im Außenlager des Gefängnisses in Zelten.

Es dauerte noch fast anderthalb Jahre, bis sie ihn im Mai 2005 dann endgültig aus der Haft entließen. Aber zumindest folterten sie ihn nicht mehr. Als er schließlich gehen durfte, rannte er die ersten Meter.

Im fensterlosen Hotelzimmer knetet Taha jetzt nervös die Hände. Er will rauchen, sich bewegen, und geht vor die Tür. Die Abendsonne liegt gemächlich über Erbil. Auf dem zentralen Platz der Stadt sitzen Hunderte Menschen und trinken Tee, essen Kebab. Der Platz ist gesprenkelt mit kleinen künstlichen Wasserbecken, aus denen meterhohe Fontänen in die Luft schießen. Familien lassen sich vor diesen Springbrunnen fotografieren, Erbil genießt den Feierabend. Taha staunt. »Ist das hier tatsächlich der Irak?«, fragt er. Dann wird er immer stiller.

Als er damals nach Hause kam, hat seine Familie ein Fest für ihn gefeiert. Ein paar Tage später stand er wieder auf dem Feld und hat sich um die Kartoffeln und Gurken gekümmert, wie früher auch. Er hatte keine Zeit, das Erlebte aufzuarbeiten, sein Leben ging einfach weiter.

Seine Familie hat ihm eine Braut gesucht, er hat zwei Töchter bekommen. Von Hana hat er nur noch einmal etwas gehört: Sie hat ihm einen Brief ins Gefängnis geschrieben, dass sie einen Mann gefunden hat und jetzt verheiratet ist.

Hasst er die Amerikaner? »Nein«, sagt Taha. »Es waren nicht die Amerikaner, sondern nur einige schlechte Menschen.«

Im Sommer 2013, nachdem seine Klage vom Gericht erst einmal abgewiesen wurde, hat CACI, die Militärfirma, etwas Überraschendes gemacht. Ihre Anwälte schickten eine Rechnung über die Prozesskosten: 3454,08 Dollar für Dolmetscherleistungen, 1149,36 Dollar für Beglaubigungen und Kopien, insgesamt 15 580 Dollar und 1 Cent. Dieses Geld will CACI von Taha und seinen drei Mitklägern nun zurückbekommen. Tahas Anwälte haben auch dagegen Widerspruch eingelegt. Ende: offen.

»Sie brauchten einen Sündenbock«



Ali Al-Qaissi hat 3300 Kilometer zwischen sich und Abu Ghraib gebracht, auch um Autobomben muss er sich in Berlin-Marienfelde keine Sorgen machen, und trotzdem holt ihn das Grauen alle paar Tage, manchmal alle paar Stunden ein, wie neulich im »Voll-Treffer«, seiner Stammkneipe, da lief dieses Lied, Rivers of Babylon, ein Allerweltshit, doch für Al-Qaissi ist die Melodie eine Qual, er hält sich auch jetzt, wo er nur davon erzählt, die Ohren zu, zieht den Kopf ein, kneift die Augen zusammen, ein 51-jähriger Mann.

Al-Qaissi ist wohl der einzige ehemalige Gefangene aus Abu Ghraib, der in Deutschland lebt. Und er gehört zu den wenigen, die therapiert worden sind.

Seine Ärztin Mechthild Wenk-Ansohn hat bei ihm eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, verbunden mit einer tiefen Depression. Die Folgen sind Flashbacks, das heißt, bei bestimmten Reizen erlebt Al-Qaissi den Horror seiner Folter wieder. Wenn er zum Beispiel Rivers of Babylon hört, versetzt ihn das zurück in seine Zelle, wo sie ihn auf dem Boden festgebunden hatten, einen Lautsprecher neben seinem Kopf, und stundenlang dieses Lied spielten, um ihn wach zu halten.

Al-Qaissi war Imam und in seinem Viertel in Bagdad so eine Art Bürgermeister, erzählt er. Deshalb sei er wohl verhaftet worden. Auch er kam in den Verhörtrakt, dort hätten sie ihn wie einen Hund behandelt, sagt er. Wenn sie ihn aus seiner Zelle holten, musste er auf allen Vieren krabbeln. Sie haben ihn in Badewannen voller Eiswasser gesetzt und später an den Füßen aufgehängt. Er bekam Elektroschocks und musste dabei zusehen, wie ein Junge, den sie verhaftet hatten, dazu gezwungen wurde, auf seinen eigenen Vater zu pinkeln. Dass Schlimmste aber sei der sexuelle Missbrauch gewesen. Mit einem abgebrochenen Besenstiel haben sie ihn anal vergewaltigt, sagt Al-Qaissi und vergräbt sein Gesicht in seinen Armen.

In seiner Küche duftet es nach Zimt und Kardamom. Er hat arabisch gekocht, und als er wieder ruhiger wird, will er aus seinem Sessel aufstehen, um den Topf vom Herd zu nehmen. Sein Freund Mohamed geht zu ihm und greift ihm unter die Arme, hebt ihn ein Stück nach oben, Al-Qaissi verzieht sein Gesicht vor Schmerz. Dann steht er endlich, seine Beine sind dick, er schwankt auf ihnen wie ein Dampfer in schwerem Seegang. Die Folter hat seine Knie kaputt gemacht, er ist gehbehindert und kann nur an Krücken laufen. Und weil er sich so wenig bewegt, wiegt er mittlerweile 120 Kilo.

Man sieht ihm an, wie sehr ihn sein unförmiger Körper stört, weil alles andere an ihm so akkurat ist: seine weißen, zurückgeföhnten Haare, sein glatt rasiertes Gesicht, sein gebügeltes Oberhemd.

Die ersten Wochen in Berlin hatte er eine gewisse Lebensmüdigkeit, sagt seine Ärztin Wenk-Ansohn: »Es war wichtig, ihm seine Fähigkeiten aufzuzeigen, damit er wieder Selbstwirksamkeit spüren kann.« Al-Qaissi hat dann angefangen, Bilder zu malen, die Motive ähneln sich: Auf der linken Seit der Leinwand trägt ein Mann einen Stein durch eine graue Welt, auf der rechten Seite steht dieser Mann in einer Blumenwiese. Die Blumenwiese ist Deutschland.

Natürlich sind es kleine Schritte, aber Al-Qaissi hat sich seinem Trauma gestellt. »Menschen, die nach so einem erlebten Grauen einfach weitermachen, funktionieren zwar oberflächlich, aber emotional bleiben sie verschlossen«, sagt die Ärztin Wenk-Ansohn. Das könne man bei vielen Weltkriegsveteranen beobachten, die im letzten Lebensjahrzehnt emotional zusammenbrechen.

Seit dreieinhalb Jahren ist Al-Qaissi bei ihr in Therapie am Behandlungszentrum für Folteropfer. Kurz zuvor war er über das UN-Flüchtlingshilfswerk nach Deutschland gekommen. Er lebt nun von Hartz IV in einer kleinen Wohnung in einem Sechzigerjahre-Betonbau am südlichen Stadtrand.

Nach dem Essen will er noch in seine Stammkneipe, den »Voll-Treffer«. Als Moslem trinkt er zwar keinen Alkohol, aber die Menschen dort sind seine Familie, sagt er. Die Bar ist mit dunklem Holz vertäfelt, Fußballpokale stehen neben Schnapsflaschen im Regal, Holger, der Chef in Lederweste, zapft gerade ein Kindl. Ein Mann am Tresen schaut zu Al-Qaissi rüber und ruft: »Mensch, Ali, du alter Vogel!«

Al-Qaissi grinst. Dann setzt er sich an einen der Holztische, Marion kommt zu ihm rüber, Holgers Frau. Sie schaut ihn an wie einen Sohn. »Ali hat noch nie Geburtstag gefeiert«, sagt sie, »und als er dann fünfzig wurde, haben wir eine Party für ihn geschmissen. Eine befreundete Rock-Band hat gespielt, Loco Joe and the Fireworks.« Al-Qaissi grinst noch immer. Er nennt Marion »meine Majestät«. Ihre Kneipe ist nur hundert Meter von seiner Wohnung entfernt, er geht fast täglich rüber. Es sei ihm wichtig, nicht nur mit Arabern Kontakt zu haben, sondern auch mit Deutschen, sagt er. Auch wenn es mit der Verständigung manchmal schwierig ist. Für einen Deutschkurs fehlt ihm auch zehn Jahre nach Abu Ghraib noch die Konzentration.

Ein Wunsch für die Zukunft?
Janis Karpinski hat auf diese Frage geantwortet: dass Rumsfeld und Cheney endlich zur Verantwortung gezwungen werden. Taha wünscht sich, vor einem Gericht zu sprechen und ein wenig Schadensersatz; Lynndie England, dass sie endlich vergessen wird. Al-Qaissi sagt nun: ein Fahrrad mit drei Rädern, behindertengerecht, damit er ein wenig trainieren kann. Es ist ein sehr deutscher Wunsch, denn es ist wohl der einzige, der realistisch ist.

(Fotos: Ali Arkady, Jörg Brüggemann/ Ostkreuz,Corbis, Christoph Cadenbach, dpa, afp (2))