»Viele Beine machen die Sache kompliziert«

Keiner faltet die Welt so gekonnt wie der Amerikaner Robert Lang. Im Interview erklärt der Origami-Künstler die Komplexität von gefalteten Käfern - und warum ihn die Autobranche als Berater engagiert.

SZ-Magazin: Herr Lang, Origami ist die japanische Kunst, Modelle aus einem Blatt Papier zu falten, ohne dabei eine Schere zu benutzen. Sie sind profes-sioneller Origami-Künstler. Wie kann man davon leben, Käfer oder Vögel aus Papier zu falten?
Robert Lang:
Origami bietet da viele Möglichkeiten. Und ich habe sicherlich an die zwei Dutzend Kollegen in den USA, Kanada, England, Israel, denen es auch gelingt, davon ganz gut zu leben.

Welche Möglichkeiten sind das?
Ich verkaufe meine Papiermodelle an private Sammler, arbeite auf Bestellung, viele Aufträge bekomme ich aus der Werbewirtschaft, die Werbespots mit Origami-Figuren drehen. Ich halte Vorträge, gebe Workshops, schreibe Bücher, berate Unternehmen, die Produkte entwickeln, die irgendwie gefaltet werden müssen. Seit vergangenem Jahr arbeite ich auch verstärkt mit verschiedenen Universitätsfakultäten in Kalifornien zusammen, die sich mit industriellen oder militärischen Anwendungsmöglichkeiten von Origami beschäftigen.

Warum interessieren sich amerikanische Universitäten für japanische Papierfaltkunst?
An einer Uni habe ich zum Beispiel gemeinsam mit Studenten eine zusammenfaltbare Tasche für Medizinzubehör entwickelt. Sie lässt sich öffnen, ohne dass die sterilen Instrumente berührt werden oder mit nicht sterilen Objekten in Kontakt kommen. Für das Militär habe ich mit Kollegen ein auffaltbares Weltraumteleskop entwickelt. Ein anderes Uni-Team versucht, künstliche Organe zu entwickeln, die zusammengeklappt in den Körper eingeführt werden und sich dort aufklappen und einsetzen lassen. Bei Versuchen mit Schweinenieren hat das offenbar schon ganz gut funktioniert. Ein Kollege in Oxford arbeitet an zusammenfaltbaren Stents, die aufklappen, sobald sie an der richtigen Stelle in den Herzgefäßen sitzen. Ein anderer Kollege vom MIT erforscht, ob Proteine, wenn sie falsch gefaltet sind, Alzheimer oder BSE verursachen können. Origami bietet etliche Anwendungsmöglichkeiten. Wir fangen gerade erst an, sie zu entdecken. Aber einige Erfindungen haben es schon in unseren Alltag geschafft.

Meistgelesen diese Woche:

Wo im Alltag begegnet man Origami-Produkten?
Beim Airbag. Vor zwölf Jahren habe ich für ein deutsches Unternehmen berechnet, wie es seine Airbags am besten falten sollte.

Sie sind gelernter Physiker und haben in der Forschung gearbeitet, bevor Sie sich vor zwölf Jahren als Origami-Spezialist selbstständig machten. Haben die Universitäten und die Industrie Sie damals ernst genommen?
Den Respekt mussten meine Kollegen und ich uns erst verdienen. Ich hätte mir damals in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass es heute allein in den USA 13 staatlich subventionierte Forschungssprogramme geben würde, in denen industrielle Anwendungen von Origami erforscht werden. Alles in allem gibt es inzwischen dreißig bis vierzig Origami-Lehrstühle mit unzähligen Studenten, die sich darauf spezialisieren.

Hatten Sie keine Bedenken, dass Sie zu wenig Geld verdienen könnten?
Eigentlich nicht. Ich hatte ja auch zuvor schon einzelne Modelle verkauft. Auch meine Frau hat mich voll und ganz bei dem Schritt in die Selbstständigkeit unterstützt.

Was kostet ein echter Robert Lang im Schnitt?
Durchschnitt ist ein schlechtes Wort, Spannbreite ist aussagekräftiger: Die reicht von ein paar Hundert Dollar bis zu mehreren Tausend.

Für einen kleinen Papierfrosch?
Für große Elefanten oder Schildkröten aus Bronze oder einem anderen Metall. Vor ein paar Jahren habe ich auch damit begonnen, einige Origami-Modelle in Bronze nachzugießen. Papier-Origami kann ewig halten, aber es ist sehr empfindlich und lässt sich nicht gut transportieren. Bronze ist robust, man kann sie auch draußen aufstellen. Im letzten Jahr habe ich schon weit mehr Bronze-Figuren verkauft als welche aus Papier.

Sie lieben offenbar Insekten, Ihre Bücher sind voll von verschiedensten Käfer-Modellen.
Von meinen letzten 15 Origami-Modellen waren nur zwei Insekten, alles andere waren Vögel, Blumen, Dinosaurier, auch etwas Abstraktes, Wollähnliches. Ich habe viele Insekten entworfen, bin aber abwechslungsreicher geworden.

Sind Insekten die Objekte, die sich am schwierigsten nachfalten lassen?
Es gab zumindest mal eine Zeit, in der das so war. Anfang der Neunzigerjahre, zur Zeit der sogenannten Käfer-Kriege, haben japanische Kollegen und ich uns ein paar Jahre lang regelrechte inoffizielle Wettkämpfe um die Nachbildung der schwierigsten Käfer geliefert. Viele Beine machen die Sache kompliziert. Inzwischen hat man aber weit komplexere Figuren entworfen: Außerirdische aus Fantasyspielen etwa oder einen Drachen, den ein Japaner vor Kurzem gefaltet hat.

Sie haben sogar eine Kuckucksuhr mit Kuckuck und Pendel gefaltet – ohne auch nur einmal eine Schere zu benutzen. Lässt sich ein Schwierigkeitsgrad bei Origami mit der Zahl der Faltschritte messen?

Keinesfalls. Ein einziger Schritt in der Faltanleitung beinhaltet mitunter hundert Knicke zur gleichen Zeit, die natürlich viel schwieriger auszuführen sind als hundert Faltschritte nacheinander. Komplexität lässt sich nicht exakt messen. Dennoch kann ich Ihnen versichern, dass der Drache meines japanischen Kollegen weit komplexer ist als meine Kuckucksuhr.

Was war Ihr schwierigstes Modell?
Ich habe so ein Projekt, das ich alle paar Monate aus der Schublade hole, um ein wenig daran zu arbeiten, aber bald wieder weglegen muss. Ich bin abergläubisch, deshalb verrate ich Ihnen jetzt nicht, um was es sich dabei handelt. Nur so viel: Es wird eine Art Pflanze.

Sie können aus einer Dollarnote einen Surfer auf seinem Board falten. Was noch alles?
Wenn man von der begrenzten Größe absieht, ist das Falten von Geldscheinen nicht besonders schwierig. Viele Werbekunden verlangen von mir eine Palme, ein Flugzeug oder Flipflops. Mit neun Dollar falte ich Ihnen einen Hummer.

»Ich habe mein Hobby nie zum Thema gemacht. Beim ersten Date habe ich meiner Frau nichts davon erzählt.«


Was ist Ihr Lieblingsstück?

Normalerweise mein letztes Modell: also ein Vogel.

Wissen Sie genau, wie viele verschiedene Modelle Sie schon erfunden haben?

Seit gestern: 649. Ich nehme nur Modelle in meine offizielle Zählung auf, deren Faltanleitung ich dokumentiert habe. Die muss nicht ganz ausformuliert sein, aber die Notizen sollten detailliert genug sein, um das Modell auch nach Jahren erneut falten zu können. Ich komponiere ja weitaus mehr Modelle, nur habe ich noch nicht alles dokumentiert, was auf meinem Schreibtisch so rumliegt.

Komponieren? Was hat Origami mit Musik zu tun?
Es gibt durchaus Ähnlichkeiten: Wie in der Musik lassen sich Komposition und Aufführung unterscheiden. Die Aufführung folgt der schriftlichen Anleitung in der Komposition. Deswegen nenne ich meine Modelle auch Opus: Mit der Opusnummer kann ich zwei Drachen, die sich ähneln, aber auf ganz unterschiedlichem Weg gefaltet wurden, eindeutig unterscheiden.

Fasziniert Sie Origami wegen dieser Ähnlichkeit zur Musik?
Auch. Bei Origami gibt es endlose Möglichkeiten, aber sehr strenge, begrenzte Regeln: Man darf nur falten, keine Kanten schneiden, und ich benutze meist auch nur ein gewöhnliches Rechteck als Grundform. Man denkt, da kann man nicht viel draus machen, und doch erfinden die Leute seit Generationen immer neue Formen, die man zuvor für unmöglich gehalten hätte. Und das Ende ist noch lange nicht absehbar.

Träumen Sie von neuen Formen, rechnen Sie neue Faltmuster aus oder falten Sie einfach drauflos, bis ein neues Modell zufällig entsteht?

Unterschiedliche Modelle entstehen auf unterschiedliche Art, aber meistens sehe ich ein Objekt und möchte dessen Form nachbilden, wenn mich etwas Bestimmtes an ihr reizt. Ich habe zum Beispiel schon einige Bären gefaltet, aber in Alaska habe ich jetzt von meinem Boot aus einen Grizzly gesehen, der sicher 200 Kilo schwer war und auf der Suche nach etwas zu essen einen Felsbrocken am Ufer herumwuchtete. Das war in diesem Fall der Auslöser für mich: Ich wollte einen sehr geschmeidigen, zugleich aber kräftigen Bären in Bewegung modellieren. Dann habe ich mir überlegt, wie er aussehen müsste. Ich wollte unbedingt, dass er einen Kopf mit Ohren bekommt. Daraufhin musste ich mir überlegen, wie ich Ohren aus der Mitte einer Papierfläche heraushole. An diesem Punkt kam die Mathematik dazu. Dann startete ich kleine Testfaltungen, wie die Ohren zum ganzen Kopf führen, bis ich mich schließlich am ganzen Bären versuchte.

Das Papier kommt so spät ins Spiel?
Ich skizziere zuerst das Design, dann die ersten Faltmuster, die nie alle Knicke beinhalten, aber die entscheidenden.

Sie haben als einer der Ersten konsequent Mathematik bei Origami eingesetzt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Mathematik beschreibt geometrische Muster und Beziehungen in logischer Weise. Ohne mathematisches Verständnis hätte man niemals die Komplexität der neuesten Modelle erreichen können. Die ersten Versuche einer Mathematik des Faltens wurden aber schon 1930 unternommen, einige Japaner haben sie 1980 aufgegriffen, ich habe das nur weiter vorangetrieben. Algorithmen haben das Origami dann drastisch verändert.

Welche Leidenschaft kam bei Ihnen zuerst: die für Origami oder die für Mathematik?
Origami liebe ich seit meinem sechsten Lebensjahr. Die Leidenschaft für Mathematik entdeckte ich erst als Teenager auf der Highschool.

Nie ein normales Hobby ausprobiert?
Doch. Als Kind habe ich Münzen, Briefmarken und Pflanzen gesammelt, Klavier gespielt, viele Jahre bin ich auch zum Klettern gegangen, aber nichts hat mich so gefesselt wie Origami.

Stimmt es, dass Sie Ihr Hobby noch als Student geheim gehalten haben, sogar Ihrer Frau gegenüber?
Ich würde es nicht Geheimnis nennen, aber ich habe mein Hobby nie zum Thema gemacht. Ich habe es betrieben, weil es mir half, mich zu entspannen. Beim ersten Date habe ich meiner Frau nichts erzählt. Aber als sie mich das erste Mal besuchte, hat sie da natürlich meine Papiermodelle herumliegen sehen.

Haben Sie Ihren Sohn und Ihre Frau angesteckt?
Nein. Beide haben es ausprobiert und mögen es, aber das Fieber hat sie nicht gepackt. Viele Menschen probieren Origami irgendwann mal aus, die wenigsten bleiben dabei.

Woher stammt das Sprichwort von den tausend Kranichen, die man falten müsse, wenn man gesund werden will?

Das ist ein altes japanisches Sprichwort, nach dem man nach tausend Kranichen einen Wunsch erfüllt bekommt. Bekannt wurde es mit einem Roman, der das
reale Schicksal eines Mädchen erzählte, das in den Fünfzigerjahren nach Hiroshima an Leukämie erkrankt war. Sie faltete die Kraniche und starb dennoch.

Nehmen Ihre japanischen Kollegen einen Amerikaner beim Origami ernst?
Ich denke ja. Ich habe nie gefragt, ich will meine japanischen Freunde nicht in Verlegenheit bringen. Aber ich habe schon oft in Japan ausgestellt und werde zu allen Kongressen eingeladen.

Wo in Japan findet der größte Origami-Kongress statt?
Der größte Kongress weltweit ist mit mehreren Hundert Teilnehmern der in New York jeden Juni. Manchmal laufen dort dreißig Workshops zur gleichen Zeit.

Wie wichtig ist die Wahl des richtigen Papiers beim Origami?

Sehr wichtig. Für Insekten braucht man sehr dünnes, feines Papier für die vielen zarten Beine. Für den Bär mit seinen weit ausladenden Kurven benutze ich eher kräftiges Papier. Meistens kaufe ich Papier, das gar nicht für Origami produziert wurde. Mein Insektenpapier ist eigentlich für die Restaurierung antiker Bücher gedacht. Eines meiner Lieblingspapiere stammt aus Deutschland, es heißt Elefantenhaut.

Sie sind Anfang fünfzig, haben Sie spezielle gymnastische Übungen, um Ihre Finger für das Falten in Form zu halten?
Origami ist das beste erdenkliche Training für die Finger.

(Porträtfoto: Jeffrey Cross)