Auf Droge

Das US-Militär verordnet traumatisierten Soldaten maßlose Tablettenkuren. Die Geschichte eines stolzen Marines, der inzwischen oft vergisst, die Zähne zu putzen.

Ein Montag im Mai 2014. Kurz vor dem Frühstück geht Luis Femat in die Küche, öffnet einen Schrank und holt zwei durchsichtige Plastikdosen heraus. Auf der einen steht in schwarzer Schrift »Adderall«, auf der anderen »Concerta«. Er fummelt aus jeder Dose zwei Pillen, die einen blau, die anderen weiß, und spült sie mit einem Glas Wasser hinunter.

Femat sagt, er brauche die Tabletten gegen seine chronische Müdigkeit. Verschrieben hat sie ihm sein psychiatrischer Krankenpfleger, ein Leutnant. Der hatte über Adderall gelacht: »Guter Stoff, ist wie legales Crack.« Für Femat ist es der Start in den Tag. Um den Irakkrieg aus seinem kahl rasierten Schädel zu bekommen, nimmt Luis Femat seit zehn Jahren ein Dutzend verschiedene Pillen. Aufputschmittel, Antidepressiva, Schlaf- und Schmerztabletten – alle paar Stunden drei bis vier Stück. Er nennt sie spöttisch »Happy pills«, seine Frau Mary sagt: »Sie machen ihn kaputt.«

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Seine Krankheit heißt Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS. Sie ist tückisch, sie überfällt manche Soldaten schon eine Woche nach dem Einsatz, manche erst nach zehn Jahren, sie lässt sich weder ertasten noch im Röntgenbild sehen, aber sie nimmt Femat die Lust am Leben, macht ihn apathisch und gefühllos. Femat ist technischer Unteroffizier bei den Marines, er weiß, dass die US-Armee Problemfälle wie ihn am liebsten nicht hätte.

Femat weiß auch, dass er nicht der Einzige ist, den die Erinnerungen quälen. Von den 2,2 Millionen aus dem Irak und Afghanistan zurückgekehrten US-Soldaten leiden mehr als 650 000 an PTBS: fast jeder Dritte. Mit dem Abzug der letzten Truppen vom Hindukusch, der Ende 2016 abgeschlossen sein soll, werden es jeden Tag mehr.

Luis Femat und seine Frau Mary, Grundschullehrerin für Mathe und Englisch, haben heute frei. An jenem Montag im Mai feiern die USA den Memorial Day – einen Gedenktag zu Ehren der für das Land gefallenen Soldaten. Der Vormittag ist sonnig in Kalifornien, das Licht scheint durch die weißen Fensterläden ihres 250 Quadratmeter großen Hauses, vor der Tür lässt der Wind die Palmenäste wippen, drinnen riecht es nach frischer Wäsche. Femat, 45 Jahre alt, steht in Fellhausschuhen und Spiderman-T-Shirt im Wohnzimmer und starrt auf die riesige Stars-and-Stripes-Flagge, die er vor vielen Jahren in einem wuchtigen Holzrahmen über den Kamin gehängt hat. Seine Schultern sind schlaff, der Blick ist leer, er bemüht sich um Haltung. Er sagt: »Marine für immer!« Er klingt stolz.

An schlechten Tagen wie heute hilft ihm der Stolz ein bisschen. Femat erinnert sich dann an das Glaubensbekenntnis der US-Marines. »The few, the proud, the Marines«, heißt es darin, die Wenigen, die Stolzen, die Marines. Femat sagt, Marines sind Elitesoldaten. Und Elitesoldaten klagen nicht.

PTBS ist schwierig zu kurieren. Die Störung verlangt eine aufwendige Diagnostik und regelmäßige Gesprächstherapien mit Psychiatern. Doch dem Militär und der Veteranenbehörde fehlen dafür das Personal und die Zeit. Zu viele Patienten gibt es mittlerweile. Fragt man US-Soldaten, wie Armeeärzte und Veteranenärzte ihre Traumata behandeln, erzählen sie von Untersuchungen im Minutentakt und Rezepten, die ihnen so beliebig verschrieben werden wie Hustendrops. 80 Prozent der PTBS-Patienten erhalten mindestens ein Antidepressivum, mehrere Antipsychotika und dazu Schlaftabletten – manche bis zu 40 Stück pro Tag. Luis Femat hat zuletzt das Antidepressivum Effexor verordnet bekommen, pro Dosis 225 Milligramm. »Keine Ahnung, ob das viel ist«, sagt er. Auf der Verpackung steht in Großbuchstaben: »Nehmen Sie jeden Tag drei Kapseln.« Also nimmt Femat jeden Tag drei Kapseln.

Welche Nebenwirkungen die Tabletten haben, wolle er gar nicht wissen. Effexor listet auf dem Beipackzettel eine Vielzahl auf. Schlaflosigkeit, Vergesslichkeit, Suchtgefahr, Halluzination, Herzrhythmusstörungen, Impotenz, Selbstmordgedanken. Femat sagt: »Ich leide unter fast allen.« Seine Stimme springt, von laut zu leise, von leise zu laut, wie ein kaputter Lautsprecher. Eine Folge der Tabletten.

Seit 2001 stieg der Einsatz von Psychopharmaka unter Militärangehörigen um 76 Prozent – und mit ihm die Selbstmordrate. Im Jahr 2012 nahmen sich etwa 350 US-Soldaten im aktiven Dienst das Leben, täglich bringen sich 22 Veteranen um – alle 65 Minuten einer. Mehr als je zuvor.

Um viertel nach acht ist Femat mit seinen Cornflakes fertig. Er schiebt die Schüssel beiseite und faltet die Hände wie zum Gebet. Jetzt sei er bereit zu erzählen, was passiert ist. Er tippt auf den silbernen Armreif an seinem linken Handgelenk und sagt: »Mit dem Jungen hat alles angefangen.« Der Junge – das ist der Soldat James Houston. Femat hat sich diesen Namen in das Edelmetall eingravieren lassen, dazu den Tag, an dem er starb: 02/07/2004.

Femat war mal als militärischer Personalvermittler tätig, und im Jahr 2001 warb er diesen 20-Jährigen per Telefon für den Irakkrieg an, er sagte ihm, dass sein Land Männer wie ihn jetzt brauche. Als Luis Jahre später von Houstons Tod erfuhr, »begannen die Schuldgefühle durch seinen Kopf zu toben«, sagt Mary.

Im September 2004, Houston war tot, flog Femat zum ersten Mal in den Irak, dann noch einmal 2006 und 2009. Bei seinen ersten beiden Einsätzen wurde er für jeweils sieben Monate auf der US-Basis in Ramadi stationiert, beim letzten Mal für knapp ein halbes Jahr auf dem Luftwaffenstützpunkt Al Asad. Femat war Logistiker. Er organisierte den Wareneinkauf für die größten Supermärkte der US-Lager und bestellte jeden Tag Container voller Lebensmittel. Am meisten gefiel ihm, dass er neben dem Notwendigen auch Dinge ordern konnte, die das Leben bei 44 Grad erträglicher machten: Eiscreme, Energydrinks, Zigaretten.

In Lastwagen musste er mit Kollegen alle paar Wochen Nachschub aus Bagdad holen, das von Ramadi aus 133 Kilometer in südöstlicher Richtung liegt. »Oft wurde unser Konvoi von Sprengfallen erschüttert«, erzählt Femat. Einmal raste ein Selbstmordattentäter mit Auto samt Bombe in einen der Lastwagen. »Mein Truck fuhr zum Glück weiter hinten«, sagt Femat, »aber die Explosion war so laut, dass mir noch Wochen danach die Ohren fiepten.«

Im März 2005 war Femat gerade von seinem ersten Einsatz im Irak zurückgekommen. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter wohnte er zu dieser Zeit in Japan auf dem US-Luftstützpunkt nahe der Stadt Iwakuni. Er hatte im Irak nie auf Menschen geschossen, nie getötet, aber er sah in Gedanken immer wieder diese Bilder: Raketen, die auf seiner Basis in Ramadi einschlagen, Kameraden, denen Beine fehlen, Särge, in denen Freunde liegen.

In Japan begann sich Femat an kleinen Dingen zu stören. Wenn Flugzeuge starteten, hielt er sich die Ohren zu, weil er das Dröhnen der Turbinen unerträglich fand. Fiel eine Autotür zu, zuckte er zusammen, weil er glaubte, die Splitter einer Sprengfalle würden ihn gleich treffen.

Femat ging zu einem Arzt auf der Basis, doch behandelt wurde er nur von einem psychologischen Betreuer. Der nahm sich 15 Minuten Zeit und fragte: Haben Sie vor, sich umzubringen? Femat sagte Nein. Der Pfleger sagte »gut«, gab ihm eine Flasche Prozac und schickte ihn mit dem Antidepressivum weg. Femat nahm die Pillen mehrmals am Tag.

»Warrior wives don’t ask«, heißt es unter Soldatenfrauen, sagt Mary. »Heute könnte ich mich dafür ohrfeigen.«

Aber sie halfen nicht. Auf seiner Stube zog er oft die Vorhänge zu und hockte sich aufs Bett. Dort saß er dann manchmal drei Stunden im Dunkeln und hasste die Traurigkeit in seinem Kopf. Noch mehr hasste er die Welt vor der Tür. Draußen sterben Kameraden, und niemanden kümmert es, dachte er. Bei Filmen, in denen Menschen umkamen, weinte er nun häufig. Mary begann, sich Sorgen zu machen, aber sie stellte keine Fragen, »Warrior wives don’t ask«, heißt es unter Soldatenfrauen, sagt Mary. »Heute könnte ich mich dafür ohrfeigen.«

Als Femat 2006 von seinem zweiten Einsatz aus dem Irak zurückkam, war er gereizt. Wenn Mary ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, brüllte er sie an: »Hör auf, mich zu analysieren!« Sie brüllte zurück: »Du brauchst Hilfe!« Heute sagt sie: »Da hatte ich das erste Mal Angst, er würde mich schlagen.«

Femat schlug nicht zu. Er ging wieder zum Arzt, diesmal saß er einem Psychiater gegenüber. Der diagnostizierte Angstzustände, PTBS und Depression. Er verschrieb ihm Zoloft, ein weiteres Antidepressivum. Nach einer Bandscheiben-OP bekam Femat noch Percocet verordnet, ein starkes Schmerzmittel, das ihn glauben ließ, er wäre auf einem anderen Planeten, wie er erzählt. Dazu Schlaftabletten, insgesamt 15 Pillen. »Die betäubten seinen Unmut, aber sie machten einen Geist aus ihm«, sagt Mary.

Ende 2008 entschied der Führungsstab, Femat noch einmal in den Irak zu schicken. Zuvor sollte er noch einen Gesundheitstest machen. Bei der Frage nach möglichen Belastungssymptomen aus früheren Einsätzen sagte Femat, er leide an Schlafstörungen, Depressionen und Angstattacken. Im Abschlussbericht zu seiner körperlichen Verfassung hieß es später: Fit to deploy, fit für den Einsatz.

Im Januar 2009 flog Femat auf den Luftwaffenstützpunkt Al Asad. Für die ersten 90 Tage wurde ihm die doppelte Ration seiner Antidepressiva zugeteilt. Sechs Flaschen, 180 Pillen. Femat nahm jede einzelne. Als er zurückkam, hielt er es ohne Tabletten kaum noch aus, er war süchtig geworden.

Im Juli 2009 zog die Familie von Japan wieder in die USA. Der Krieg war für Femat vorbei, doch die riskanten Lkw-Transporte und die vielen Pillen hatten ihn gebrochen. Er verstand jetzt den Spruch George Santayanas, den jemand auf der Basis in Ramadi mit Edding an die Toilettenwand geschmiert hatte: »Only the dead have seen the end of war«, nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.

Es ist inzwischen elf Uhr am Mittag, Femat hat jetzt drei Stunden über den Irak geredet, er sagt, er brauche jetzt mal frische Luft. »Die Hunde müssen sowieso mal.« Luis kümmert sich viel um die zwei Huskys, »sie sind die einzige Freude, die ihm geblieben ist«, sagt Mary. Sie steht vom Tisch auf und läuft durch die Waschküche zu einer Tür, sie will etwas zeigen. Hinter der Tür ist die Garage, ein Raum, doppelt so groß wie das Wohnzimmer. Drinnen steht ein Laufband, ein Fahrradergometer, daneben liegen Gewichte und Hanteln. Es sieht aus wie in einem kleinen Fitnessstudio. »Luis fasst kein einziges Gerät mehr an«, sagt sie. In Japan hatte er beim Bankdrücken noch 140 Kilo gestemmt. Von seinen Kameraden wurde er »The Body« genannt. »Dagegen ist er heute ein Hänfling«, sagt Mary.

Sie sehe nie, wie Luis Antidepressiva nimmt, erzählt Mary. Er mache das heimlich. »Er versteckt die Tabletten vor mir, aus Scham, aber ich habe herausgefunden, wo sie sind«, flüstert sie und zeigt auf eine kleine Kammer neben der Küche. »Dort lagert er sie in seinem Militärrucksack.«

Es fällt ihr schwer, darüber zu sprechen, wie ihr Mann einmal war und was er heute ist. Wie er bedrückt durchs Haus schleicht, wie er nachmittags nach der Arbeit meistens nur noch auf der großen weißen Matratze vor dem Fernseher liegt und mit starrem Blick die Hunde krault. »Das ist nicht er«, sagt sie, »das haben die Pillen aus ihm gemacht.« Mary wischt sich Tränen von der Wange. »Er lässt immer mehr nach, auch geistig.« 2012 habe Luis zum ersten Mal ihren Hochzeitstag vergessen. Heute seien es schon die alltäglichen Dinge. Er vergesse, sich die Zähne zu putzen. Er vergesse, seine Wäsche zu wechseln. Er vergesse, die Kühlschranktür zu schließen. »Irgendwann vergisst er womöglich noch uns«, sagt sie und greift nach einem gerahmten Bild, das sie mit Luis und ihrer Tochter Cary zeigt. Cary studiert Englisch an der University of Connecticut, an der Ostküste der USA, vor ein paar Monaten schickte sie ihrem Vater einen Brief. Sie schrieb: »Dad, ich habe Angst, dass ich irgendwann nach Hause komme, und du bist nicht mehr da.«

Das Leid der Soldaten ist für die Pharmaunternehmen ein lukratives Geschäft. Bis zu 1,5 Millionen US-Dollar verdienen sie an einem Patienten, der für den Rest seines Lebens Tabletten gegen PTBS nimmt. Der Pharmariese Pfizer, Hersteller des beim US-Militär beliebten Antidepressivums Zoloft, verkaufte an das Verteidigungsministerium zwischen 2002 und 2011 Medikamente im Wert von acht Milliarden Dollar. Zusammen mit anderen Pharmaunternehmen wie Eli Lilly, Wyeth und Forest Labs steckte Pfizer mehrere Millionen Dollar in militärische Untersuchungsprogramme für PTBS. Erforscht werden sollte vor allem, wie sich die Symptome der Krankheit unterdrücken lassen – weniger, wie man sie heilt. Auch die Entwicklung eines umstrittenen Fragebogens für PTBS finanzierte Pfizer mit. Der Test ist nun Teil jeder Nachuntersuchung von US-Kriegsrückkehrern. Joseph Glenmullen, Psychologiedozent an der Harvard Medical School und Experte für Nebenwirkungen von Antidepressiva, bezeichnet den Test jedoch als »so subjektiv«, dass fast jeder Patient für eine Diagnose in Frage komme – und damit für eine mehrjährige Tablettenkur. Allein 2012 gab das Verteidigungsministerium 958 Millionen Dollar für Psychopharmaka aus – fast doppelt so viel wie 2007.

Die Beziehung zwischen Pharmaunternehmen und dem Militär sei »ein Spiel der Interessen«, meint Bart Billings, Psychologe und ehemaliger US-Oberst, ein Mann mit runder Brille und 34 Dienstjahren beim Militär. Seit zwei Jahrzehnten hält er landesweit Vorträge zu Kriegs-traumata. Billings sagt, er habe in seiner Laufbahn ein Dutzend Mal erlebt, wie Pharmakonzerne versuchen, ihre Produkte auf die Arzneimittelliste der US-Streitkräfte zu setzen. Sie gewähren Mengenrabatte, locken Militärärzte mit Boni oder werben sie als bezahlte Redner für Vorträge an. »Das alles hat System«, sagt Billings. Zulieferer des Militärs zu sein, »schafft Glaubwürdigkeit«: So könnten Pharmaunternehmen ihre Produkte hinterher auch ans Volk verkaufen. »Pfizer hat es vorgemacht«, sagt Billings.

Der Pharmakonzern Pfizer hatte sich 1999 von der US-Arzneimittelbehörde zunächst die Zulassung geholt, PTBS offiziell mit dem Antidepressivum Zoloft behandeln zu dürfen. Anschließend subventionierte Pfizer die Gründung der »Post Traumatic Stress Disorder Alliance«, einer Organisation, die Amerikanern fortan medienwirksam erklärte, dass PTBS nicht nur Soldaten, sondern jeden Bürger treffen könne, »der Zeuge eines erschütternden Ereignisses geworden ist«. Damit war Amerika für die Krankheit sensibilisiert. Und nach dem Einsturz des World Trade Centers bewarb Pfizer Zoloft mit einer 5,6 Millionen Dollar teuren Werbekampagne. Das Antidepressivum, suggerierte der Pharmakonzern, könne Opfern von 9/11 helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

Eine Studie der Stanford University School of Medicine und der University of Chicago von 2011 zeigt aber, dass bei vielen populären Psychopharmaka nicht nachgewiesen wurde, ob sie überhaupt wirken. Trotzdem verschreiben Militär- und Veteranenärzte zum Beispiel gern atypische Neuroleptika – oft gegen Beschwerden, für die die Tabletten von der amerikanischen Lebens- und Arzneimittelbehörde FDA nicht zugelassen sind. Der Arzneistoff Quetiapin etwa wurde gegen Schizophrenie, bipolare Erkrankungen und Depression entwickelt. Das US-Militär aber verordnete Quetiapin unter dem Namen Seroquel allein 2012 über 54 000 Mal gegen jegliche Form von »Störungen«, darunter PTBS, Schlaflosigkeit und Angstzustände. Eine der vielen Nebenwirkungen des Medikaments: verstärkte Suizidgedanken.

Luis Femat wuchs als Sohn mexikanischer Eltern mit zwei Brüdern und zwei Schwestern in El Monte auf, einem Vorort von Los Angeles. Seinen leiblichen Vater lernte er nie kennen, der Stiefvater arbeitete als Paketzusteller und spielte nachts in einer Band, seine Mutter kümmerte sich um die Kinder, die Familie hatte wenig Geld. Femat schloss die Highschool ab, aber er war eher der Praktiker. Schon als Jugendlicher bewunderte er die Marines. Ihre Disziplin, ihre Prinzipien, ihre Ideale. In seinen Augen vertraten sie das Gute in der Welt. Mit 18 dann das erste Marine-Camp, er robbte durch Schlamm, schoss mit einem M16-Maschinengewehr. Das Kämpfen gefiel ihm. Er blieb.

Als junger Soldat, erzählt Femat, konnte er überall schlafen. In einer Transportbox aus Holz, auf dem Flugplatz neben dem Rollfeld, im knatternden Humvee auf seinem Stahlhelm. Heute brauche er mindestens zwei Schlaftabletten, damit er nicht alle 30 Minuten aufwacht.

Mary sagt, seit Luis regelmäßig Medikamente nehme, hätten sie kaum noch Sex. Sie hockt im Schneidersitz auf der Couch im Wohnzimmer, gestreiftes Top, Leggins, rote Fußnägel, die schwarzen Haare offen. »Die Pillen nehmen ihm die Lust«, sagt sie. Aber er verzichte lieber auf ein paar intime Momente als auf Tabletten.

Mary schlägt ein Fotoalbum auf und blättert durch die Familienfotos. Die Bilder zeigen sie Arm in Arm beim Schneefestival in Sapporo, lachend vor dem Kolosseum in Rom, beim Stadtbummel in Monaco. Auf einer Seite bleibt ihr Finger hängen. »Hier«, sagt sie, »das ist in Las Vegas, dort haben wir 1988 geheiratet.« Später seien sie dort fast jeden Sommer hingefahren. »Heute fährt Luis mit mir an guten Tagen zum Einkaufen.«

Seit Mitte 2013 muss Femat auf der Militärbasis allein in einem fensterlosen Büro sitzen, sein Kommando hat ihn dorthin verbannt. Sie haben ihn von seiner Aufgabe als Wareneinkäufer für die Supermärkte auf dem Stützpunkt entbunden, er spricht nicht gern darüber, im Herbst scheide er ohnehin aus dem Dienst. Nun liest er den ganzen Tag Sportergebnisse im Internet. Mary sagt, sie hätten ihn ins Abseits geschoben, weil sie ihn nicht mehr gebrauchen können.

Wahr ist wohl auch, dass Femat erfahren musste, was Generationen von Soldaten vor ihm erfahren mussten, aber kein Sergeant öffentlich zugäbe: dass PTBS-Patienten oder »Kriegszitterer«, wie man sie nach dem Ersten Weltkrieg nannte, in der US-Armee nach wie vor als Lügner oder Weicheier gelten – als Leute, mit denen niemand mehr arbeiten will. Für Femat, der die Marines immer über sich und seine Familie gestellt hat, ist das »die Höchststrafe«, sagt Mary.

Der US-Militärapparat ist das Abbild einer pharmagläubigen Gesellschaft.

Im Januar dieses Jahres war Femat mit den Nerven so am Ende, dass er sich selbst ins Militärkrankenhaus einlieferte. Auf der psychiatrischen Station legte man ihn in ein Zimmer mit 20 anderen, nach drei Tagen sollte er wieder nach Hause gehen. Mary sprach mit dem Oberarzt, sie flehte ihn an, sie weinte, sie wollte, dass man Luis länger dabehielt, sie wollte eine Gesprächstherapie, keine Pillen mehr. Der Arzt sagte nur: »Es geht ihm doch gut.«

»Scheinheilig« findet sie es, »dieses ganze Gerede, man solle die Veteranen ehren.« 27 Jahre hat Luis gedient, sagt sie, er war drei Mal im Irak, er wäre für sein Land gestorben. »Und was ist der Dank? Sie machen aus einem Mann, der nie geraucht, nie getrunken, nicht einmal Aspirin genommen hat, einen Drogenabhängigen. Es ist eine Schande.«

Das US-Militär weiß um die Verschreibungswut seiner Ärzte. Jonathan Woodson, stellvertretender Gesundheitsminister im Verteidigungsministerium, sprach 2012 in einem öffentlichen Memo von einer »großen Sorge über den Verdacht der Übermedikamentierung von PTBS-Patienten mit Antipsychotika«. Bereits drei Jahre zuvor hatte die Veteranenbehörde ihre Mediziner in neuen Statuten dazu aufgefordert, weniger Opiate und mehr alternative Behandlungen wie Akupunktur oder Yoga zu verordnen.

Im Juni 2013 stellte die Veteranenorganisation 1600 zusätzliche psychologische Betreuer ein. Doch geändert hat sich seitdem kaum etwas. Warum, kann man auch beim Blick in amerikanische Supermärkte erahnen: Dort kaufen viele Menschen lieber ein paar Vitamintabletten als einen Apfel. Der US-Militärapparat ist das Abbild einer pharmagläubigen Gesellschaft.

Öffentliche Vertreter der Streitkräfte und der Veteranenbehörde sprechen ungern über die maßlosen Pillenkuren. Nach den Skandalen um überforderte Militärkrankenhäuser Ende Mai dieses Jahres und dem Rücktritt von Eric Shinseki, bis dahin Chef der Veteranenbehörde, seien Ärzte von oberster Stelle zum Stillschweigen verpflichtet worden, sagt eine PTBS-Therapeutin: »Viele haben Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie reden.«

Das Verteidigungsministerium schreibt auf Nachfrage des SZ-Magazins: »Die Forschung hat ausreichende Beweise erbracht, dass Psychopharmaka bei der Behandlung von PTBS helfen können.« Allerdings dürften diese »nur ausgewählt und erst nach klinischer Untersuchung des Patienten auf Verträglichkeit verabreicht werden«. Die Ärzte der US-Armee seien sich bewusst, »dass die Einnahme mehrerer Medikamente zu einem Gesundheitsrisiko führen kann«. Deshalb empfehle man, »Nebenwirkungen von Tabletten und Behandlungsalternativen mit dem Patienten zu besprechen«. Für PTBS-Patienten wie Luis Femat klingt das wie Hohn.

Klar sei, dass das US-Militär »nicht ohne Medikamente kann«, erklärt ein Sachverständiger, der eng mit der Veteranenbehörde zusammenarbeitet. Die Pillen seien ein »quick fix«, eine schnelle Lösung, die fehlende Psychiater ersetzt und Zeit spart. Das System dahinter sei vor allem in Veteranenkrankenhäusern von Prämien getrieben. »Je schneller Ärzte einen Patienten von der Liste bekommen, desto mehr Geld kassieren sie am Jahresende«, sagt er.

Am späten Nachmittag des Memorial Day im Mai 2014, um Punkt 17 Uhr, füttert Femat die Hunde. Seine Tage laufen seit einem Jahr immer gleich ab. Früh zur Basis, dort die Zeit absitzen, zurück nach Hause, schlafen, Abendessen, Sofa und Fernsehserien, Bett. Zwischendurch Tabletten. Alle drei Monate holt er sich auf dem Stützpunkt eine 90-Tages-Ration Pillen ab. Er fährt dazu einfach durch den Drive-through der Apotheke und bittet um Nachschub, »das läuft wie bei McDonald’s«, sagt er. Einmal in der Woche spricht er mit einem Sozialarbeiter, einmal im Monat mit einem psychiatrischen Betreuer. »Einen Arzt habe ich zuletzt vor sieben Jahren gesehen«, sagt Femat. Seine linke Wange zuckt, die Nerven.

Die Krankenakte von Luis Femat ist mittlerweile mehr als 500 Seiten dick, »sie liegt irgendwo in einem Schrank, ich gucke da nicht mehr rein, ist zu deprimierend«, sagt Femat. Er merkt, dass die Pillen sein Leiden nicht heilen, sondern nur betäuben. Dass sie die Symptome unterdrücken, aber niemals die Ursache bekämpfen. »Was soll ich machen?«, fragt er und schaut verschämt zu Boden. »Wenn ich sie weglasse, kommen die schlimmen Bilder wieder hoch, die Schmerzen, die Erinnerungen«, sagt Femat, »aber ich will nicht mehr traurig sein.«

Dann horcht er auf. Er geht zum Fernseher und dreht den Ton lauter. Gerade läuft ein Bericht über den Irak. Der Sprecher sagt, die US-Regierung fürchte, dass die Terrorgruppe »Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien« auch die USA angreifen könnte.

Femat sagt, sollte sein Land wieder Truppen in den Irak entsenden, würde er sofort mitgehen. Er glaubt, dann wäre alles besser, seine Augen blitzen kurz. Ja, sicher, diese selbst gebauten Sprengfallen der Iraker damals, »das waren Drecksdinger, weil die oft im Müll versteckt waren und wie aus dem Nichts explodierten«. Doch in Ramadi »waren wir die Chefs im Viertel. Dort hatten wir eine Mission, wir hatten Verantwortung.« In den USA seien er und die meisten seiner Kameraden nichts mehr. »Das macht mich fertig.«

Vor wenigen Wochen stand er an der Kasse im Supermarkt, er wollte Futter für die Huskys kaufen. Aber die Schlange wurde immer länger, die Leute um ihn wurden immer mehr. Sein Herz begann zu rasen, er bekam Panik, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er wollte raus. Als Mary wenig später davon hörte, rief sie einen pensionierten Marine an, der immer noch gute Kontakte zu Mitarbeitern auf der Basis pflegt. Die sperrten Femat den Zugang zum Waffenlager.

Normalerweise hat Femat noch drei Dienstjahre vor sich – so sieht es die reguläre Marine-Laufbahn in seinem Fall vor. Sein Kommando habe ihm aber empfohlen, schon in diesem Sommer die Entlassungspapiere einzureichen. Der Führungsstab habe ihm vorgeworfen, die Ergebnisse eines Fitnesstests geschönt zu haben. »Aber die Handschrift an der bemängelten Stelle stimmte überhaupt nicht mit meiner überein«, sagt Femat. Eine Verurteilung gab es nie. »Die wollten mich einfach früher loswerden.«

Femat sagt, er wisse nicht, was nach dem Militär kommen soll. Er kann sich vorstellen, arbeiten zu gehen, »aber welchen Job soll ich machen?« Er schaut aus dem Fenster. Nach einer Weile sagt er: »Am liebsten würde ich mir einen schwarzen Porsche 911 Turbo kaufen und damit über die Highways jagen, weg von all den Albträumen, weg von all dem Schmerz.« Ob seine Veteranenrente von monatlich 3000 Dollar dafür reichen würde? »Könnte eng werden«, sagt Femat.

Ende Juli 2014. Femat ist unehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen worden. Keiner seiner Vorgesetzten hat ihn an seinem letzten Arbeitstag verabschiedet. Statt einer Abschlussparade bekommt er seine Austrittsbestätigung per Post, die er bis heute nicht geöffnet hat. »Never leave a brother behind«, lass niemals einen Kameraden zurück, heißt es bei den Marines. »Genau das Gegenteil haben sie getan«, sagt Femat.

Luis Femat hat inzwischen zehn Bewerbungen geschrieben, er hat sich bei Supermärkten beworben, als Logistik-Manager und Wareneinkäufer. Angestellt hat ihn niemand. Zumindest seine Pillen bekomme er über die medizinische Versorgung des Militärs weiter kostenlos, auch außerhalb der Basis, sagt er.

Mary verdreht die Augen, wenn sie ihren Mann so sprechen hört. Sie sagt, seitdem er nicht mehr dient und ohne Aufsicht zu Hause ist, habe sie Angst, er könnte sich etwas antun. Sie wolle sich in den nächsten Monaten um ein stationäres Entzugsprogramm kümmern. Sie wisse, dass sie nie mehr den Luis von früher zurückbekommt. »Aber ich werde nicht warten, bis er sich das Leben nimmt.«

Fotos: Dave Lauridsen