Der Geheimpräsident

Jeder hat so seine Geheimnisse. Wladimir Putin hat derartig viele, dass er selbst schon fast dahinter verschwindet - und das Land, das er regiert, gleich mit. Unser Kolumnist über die Frage, wie aus einem einigermaßen normalen Land in kurzer Zeit ein Reich der Lüge werden konnte.

Seit seiner Jugend hat Wladimir Putin eine Vorliebe fürs Geheime. Schon in der neunten Klasse soll er sich beim KGB beworben haben, indes riet man ihm, er solle erst was Ordentliches studieren. Kaum war er Jurist geworden, fand er doch Aufnahme beim Комитет государственной безопасности при Совете Министров СССР, das ist der Name der Komitees für Staatssicherheit (in Geheimschrift). Er arbeitete dann zunächst nicht-öffentlich in Leningrad, Moskau und Dresden. Verschiedene Zufälle verschlugen ihn jedoch ins Amt des russischen Präsidenten.
Nun ist die Leitung dieser Behörde mit einem gewissen allgemeinen Interesse verbunden. Beispielsweise ist man – rein beruflich – gezwungen, das eine oder andere Nachbarland zu überfallen oder mal eine Halbinsel zu annektieren, die einem nicht gehört. So was verursacht immer Aufsehen. Das war Wladimir Wladimirowitsch nicht recht. Er besann sich auf seine Lehrjahre beim Geheimkomitee.

Wurden seine Soldaten bei der Verwüstung des Nachbarstaates erwischt, ließ er erklären, sie hätten sich an der Grenze verirrt. (Musste man also annehmen, sie hätten das eigene Land verwüsten sollen und seien dabei ein paar Meter zu weit rechts gelandet?) Außerdem seien sie auf Urlaub gewesen und nicht im Dienst. Und drittens handele es sich bei ihnen gar nicht um russische Soldaten, diese Uniformen könne man doch in jedem »Dorfladen« kaufen.

Wurde ein Passagierflugzeug mit einer Rakete seiner Armee abgeschossen, ließen seine Leute (die natürlich nicht »seine Leute« sind) gleichzeitig Beweismittel vernichten und nach Aufklärung der Untat rufen. So war es möglich, die Lüge auf die gleiche Etage wie die Wahrheit zu hieven.

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Ja, Wladimir Wladimirowitsch gelang es nicht nur, pro-russische Uniformierte zu schaffen, sondern auch pro-russische Uninformierte. Denn es ist so: Lügt man dreist genug, gilt plötzlich die Wahrheit als umstritten. Nennt man eine demokratisch gewählte Regierung (wie die in der Ukraine) nur oft genug »faschistisch«, werden irgendwann viele Leute sie zumindest für dubios halten. Eine neue Art der Wirklichkeit entsteht.

So liebt es unser Mann. So hat er es gelernt. Die Dinge sollen geschehen, aber niemand soll wissen, warum. Wie ein Kind im Spiel Figuren versetzt, ohne dass die Figuren verstehen, wie ihnen geschieht, so zieht er an den Fäden des Schicksals. Das gibt ein Gefühl von Stärke. Das reicht manchen Menschen, sich selbst zu gefallen.

Der Oppositionsführer Alexej Nawalny bekommt eine Bewährungsstrafe, dafür geht sein unbeteiligter Bruder ins Straflager. Eine Tochter Putins spielt eine führende Rolle an der Moskauer Universität, aber dass es seine Tochter ist – darüber offiziell kein Wort. Die französische Rechtsextreme Marine Le Pen finanziert ihre Partei auch mit dem Kredit einer Moskauer Bank, deren Chef ein Vertrauter Putins ist – warum soll man darüber groß reden?

Plötzlich ist ein ganzes Land ein Reich der Lüge, und das Bild eines Mannes verschwindet im Nebel: ein Geheimpräsident, der geheim regiert.

Wohin wird das führen? Was will er noch? Als Ikonenhändler getarnt aus einem Hinterbüro in Hannover die Weltgeschicke lenken? Nach dem Schlucken geheimer Verschwindemittel unsichtbar von einer sinnlosen Tat zur nächsten eilen?

Manchmal wünscht man sich, es gäbe wirklich eine Geheimwelt neben der richtigen, einen versteckten Kosmos für verirrte Typen wie unseren Mann. Es ginge eine Tapetentür im Kreml auf, eine sanfte Stimme sagte: »Jetzt komm mal rüber, mein kleiner Starker, schau, hier kannst du richtig eklig sein, alles hört auf dein Kommando, böser Junge, Zeit für Judo ist auch, wenn du möchtest, das ist eine neue dicke Armbanduhr, dies ein Riesen-Motorrad, auch kannst du da hinten im See nach Amphoren tauchen, ganz wie du willst. Und das ist Napoleon, dein neuer Freund, der spielt mit dir, pssst, das ist irre geheim. Aber die Menschen – die lassen wir jetzt mal in Ruhe, ja?!«

Ja, ja, schön wär’s.

Illustration: Dirk Schmidt