Lotta und Pradyumna Kumar. (Foto: privat)
Sie streiten nicht. Nie. Zu Beginn ihrer Ehe vor 38 Jahren nicht und auch jetzt nicht, wo beide Kinder längst aus dem Haus sind und sie allein leben, im Wald, weit weg vom nächsten Dorf. »Manchmal sind wir unterschiedlicher Meinung, und das Ego spielt natürlich immer eine Rolle, aber wir lassen es nicht zu groß werden. Unsere Beziehung ist ja vor allem eine spirituelle«, erklärt Lotta, die Ehefrau von Pradyumna Kumar, kurz PK genannt.
Spirituell heißt in ihrem Fall: Die Liebe zwischen der Frau aus Schweden und dem Mann aus Indien war vorherbestimmt, das ist für beide gewiss. Lotta sah als Teenager in einer Londoner Ausstellung eine hinduistische Steintafel aus einer indischen Pagode, sie stammt aus dem Heimatdorf von PK und rührte Lotta sofort auf seltsame Weise an. Sie verstand die Tafel als ein Zeichen. PK war Dalit, er gehörte der Kaste der Unberührbaren an und wurde auf der Straße mit Steinen beworfen, aber seine Mutter sagte ihm, er solle die Steine nicht zurückwerfen: »Sammle sie und baue ein Haus damit. Alles hat einen Sinn.« Der Dorfastrologe prophezeite, dass PK einmal eine Ausländerin heiraten werde. Auch seine Eltern glaubten daran und versuchten gar nicht erst, eine Ehe für ihren Sohn mit einer Frau aus derselben Kaste zu arrangieren, so wie man das in Indien bis heute oft macht.
Mit 19 Jahren reiste Lotta nach Delhi. Wie alt PK zu dem Zeitpunkt war, weiß er nicht genau, auf dem Land in Indien wurden Geburtstage bis in die Fünfzigerjahre hinein nicht aufgezeichnet. Er wurde lange Zeit zwei Jahre jünger geschätzt, bis man rekonstruierte, dass zu PKs Geburt der Vater, ein Postbote, die Telegramme noch mit dem Elefanten austrug. PK muss im Jahr 1949 geboren und damit fünf Jahre älter als Lotta sein. Mit zwanzig ging PK nach Delhi auf die Kunstakademie. Seinen Unterhalt verdiente er sich mit Porträts von Touristen. Er war so gut im Zeichnen, dass ihn sogar Indira Gandhi zu sich bestellte. Auch Lotta stand eines Tages vor PK auf Delhis Hauptplatz für ein Porträt an. Sobald sie den Namen seines Heimatorts erfahren hatte, wusste sie, dass »dieser Dschungeljunge der Mann meines Lebens sein würde«. Beide spürten, dass sie füreinander bestimmt waren.
Aber Lotta musste zurück nach Schweden. Sie hatte PK versprochen, im Sommer wiederzukommen, doch Lottas Mutter bestand darauf, dass sie erst ihre Ausbildung beendete. PK wollte nicht länger warten. Für ein Flugticket nach Schweden fehlte ihm das Geld, aber ein gebrauchtes Damenfahrrad konnte er sich leisten. Am 22. Januar 1977 machte er sich auf den Weg. Was für ein Liebesbeweis: 7000 Kilometer mit dem Rad.
PK nahm den berühmten Hippie-Trail, auf dem in den Siebzigerjahren Tausende unterwegs waren, auf der Suche nach Gurus oder Haschisch: Delhi, Amritsar, Kabul, Kandahar, Herat, Maschhad, Sari, Teheran, Baku, Ankara, Istanbul, Wien. Mit Porträts konnte sich PK auf dem Weg ein wenig Geld verdienen. »Ich hatte oft Hunger, aber auch oft zu viel zu essen.« Er schlief im Straßengraben, wenn man ihm kein Bett anbot. Er warf das Fahrrad auf die Ladefläche, wenn ihn Lastwagenfahrer mitnahmen. In Pakistan verwies ihn die Polizei des Landes, und er musste warten, bis jemand ihm und seinem Fahrrad ein Flugticket nach Kabul spendierte, in Afghanistan reparierte ein Belgier sein Fahrrad, und PK lernte die Gastfreundschaft von Taliban kennen, in Baku wurde er überfallen, aber man fand sein Geld unter dem Gürtel nicht – »ich zeichnete die Räuber, darüber waren sie auch sehr glücklich«.
Angst hatte er nicht. »Das ganze Leben ist doch eine Reise zwischen einer inneren und äußeren Landschaft.« Am schlimmsten war der Zweifel, ob Lotta auf ihn warten würde. Sie wusste, dass er sich auf den Weg gemacht hatte, und konnte seine Stationen in der Zeitung verfolgen, denn Journalisten hatten von PKs Reise gehört und berichteten davon. Nach viereinhalb Monaten und fünf Fahrrädern, die er gekauft, eingetauscht oder geschenkt bekommen hatte, erreichte PK schließlich Borås in Südschweden, siebzig Kilometer vor Göteborg. Und Lotta hatte gewartet.
PK wurde Kunstlehrer in Schweden. Sie bekamen zwei Kinder, Emelie und Karle. Beide Kinder sind Single und werden allmählich nervös, weil ihre Eltern in ihrem Alter schon verheiratet waren. PK hat ihnen seine Hilfe bei der Partnersuche angeboten, aber seine Kinder haben dankend abgelehnt.
PK fährt immer noch viel Fahrrad. Lotta hat ihm das Autofahren verboten. »Sie sagt, ich sei viel zu verträumt dazu.«