Teile und herrsche

Wer sich im Internet mit anderen verbindet und seine Wohnung oder sein Auto teilt, gilt als Vorreiter einer selbstlosen Gesellschaft. Aber wird die Welt durch all das Sharen und Connecten wirklich menschlicher und gerechter?

Auch die globalen Konzerne wollen an der neuen »Sharing«-Ökonomie mitverdienen: Goldman Sachs und Google haben mehr als eine Milliarde Dollar in den kalifornischen Taxi-Konkurrenten Uber investiert.

Auf der Website von Airbnb finden sich mehr als eine Million Inserate von Menschen, die ihr Zuhause vermieten. Was treibt sie an: Lust am Teilen oder Lust am Geldverdienen?

Seitdem in der westlichen Welt die Krise zum Normalzustand geworden ist, seitdem der moderne, urbane Mensch sein Leben vor allem bewältigt, kriegt er nicht genug davon, angefasst zu werden, am liebsten von Menschen, die er kaum kennt und denen er Geld dafür zahlt: Scheue Frauen aus Thailand massieren seinen Rücken, Friseure seine Kopfhaut, Kosmetikerinnen cremen sein müdes Gesicht, feilen seine Nägel. Längst ist er süchtig nach diesem Stündchen Nähe, diesem Stückchen Trost.

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45 Zentimeter, haben Wissenschaftler herausgefunden, so nahe dürfen uns fremde Menschen in der U-Bahn oder der Supermarktschlange kommen, damit wir uns gerade noch nicht belästigt fühlen. Weil wir uns aber trotzdem nach Nähe sehnen, erscheint die Hot-Stone-Massage für 72 Euro wie eine Erlösung: nichts geben, nur nehmen, Augen zu und genießen. Man muss schon in die ärmsten Regionen unserer Welt, also nach Afrika oder Asien reisen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie eng und angstfrei auch wir noch vor ein paar Jahrzehnten zusammengelebt haben: Zwei, drei oder vier Geschwister schlafen in einem Bett; fünf-, sechs-, siebenköpfige Familien hausen in einem Zimmer; die Mutter bürstet das Haar der Tochter, die Tochter das der Mutter; in Äthiopien sind die Straßen voll mit jungen Männern, die Händchen halten, nicht weil sie schwul sind, sondern weil sie sich gern haben.

Wir haben als Ersatz für diese fehlende Körperlichkeit die Wellnessindustrie bekommen, die sich von unserem Stress nährt und uns die Streicheleinheiten zur Verfügung stellt, die wir uns früher gegenseitig geschenkt haben. Je digitalisierter sich unser Alltag gestaltet, je seltener wir uns anfassen, desto entschlossener sind wir bereit, uns diese Berührungen mit der Kreditkarte zu erkaufen. Ist ja auch angenehmer, wenn man die Kontrolle hat und sagen kann, wo genau, wie fest und wie lange so eine Niedriglohnarbeiterin aus Südostasien an uns herumdrücken darf.

Gerade sind wir wieder dabei, etwas zu verlieren, was mal ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens war und uns im Gegenzug als gebührenpflichtige Dienstleistung angeboten wird. Und es passiert nicht heimlich und leise, sondern offensichtlich und laut; so laut, dass man sich ruhig mal fragen darf, ob hier was übertönt werden soll, ob vielleicht die Großtrends der letzten Jahre aus dem Silicon Valley, ob die vielen Verleih-, Vermittlungs- und Tauschbörsen und -plattformen wie Facebook (Information), Airbnb (Wohnungen), Joinmymeal (Essen), Parking Panda (Parkplätze), City Dog Share (Hunde) oder Pinterest (Hobbys) uns genau die Annehmlichkeiten andrehen wollen, die uns als Gesellschaft zur gleichen Zeit abhandenkommen.

Die Rede ist von den zwei großen Versprechen und Forderungen unserer Zeit: get connected und share, also sich verbinden und teilen. Zusammen ergeben sie das Mantra des beginnenden 21. Jahrhunderts, das Heilsversprechen der digitalen Ära. Kein Tag vergeht, ohne dass in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen hymnisch dar-über berichtet wird, dass die Menschen endlich gelernt haben zu teilen, statt immer nur besitzen zu wollen. Die sharing economy, heißt es, sei eine postkapitalistische Wirtschaftsform, mit der die drängendsten Probleme der Menschheit gelöst werden könnten. Der amerikanische Star-Ökonom Jeremy Rifkin schwärmt vom Untergang des Kapitalismus und dem Beginn einer Ära des Sozialen. »Wir beginnen eine neue Ära der Intimität, die das Internet ermöglicht«, stand im amerikanischen Technikmagazin Wired. Allein im letzten Jahr wurden weltweit mehr als acht Milliarden Dollar Wagniskapital in Unternehmen der sharing economy gepumpt, bei Facebook und Twitter waren es gerade mal drei.

Eine Frage kann verbinden heißt es im neuen Werbespot für Google, Life’s better when we’re connected in der aktuellen Kampagne der Bank of America. Der amerikanische Netzbetreiber AT&T wirbt mit Reach out and touch someone, die Deutsche Telekom mit Life’s for sharing, Nokia mit Connecting people. Die Botschaft ist klar: Wer sich mit anderen verbindet und teilt, egal ob Informationen, Katzenfotos oder seinen alten Volvo, der hat sich – genau wie die Nichtraucher, Veganer und Elektrorollerfahrer – für die richtige Seite entschieden, der ist modern, moralisch einwandfrei, eine gesellschaftliche Kraft des Guten. Nicht zufällig finden sich beide Begriffe – connect und share – auf der Startseite von Facebook. Längst sind sie die Metapher für ein richtiges Leben, dabei sind sie ein Missverständnis, wahrscheinlich sogar eine Lüge.

Ein weltumspannendes Netz der Solidarität wird entstehen, tönt es aus dem Silicon Valley, wenn erst mal jeder mit jedem in Verbindung steht, eine Art digitaler Sozialismus. Tatsächlich erleben wir Vereinzelung, Abschottung, Einsamkeit. Teilen, so die Hoffnung, macht unsere Welt gerechter, fairer, nachhaltiger. Tatsächlich verdienen ein paar Dutzend Konzerne mit verhältnismäßig wenig Beschäftigten Milliarden, was okay wäre, wenn sie nicht ziemlich aggressiv Regeln formulieren und gleichzeitig jeden Menschen zu einem kalkulierenden Marktteilnehmer degradieren würden, aber der Reihe nach:

Natürlich ist es eine schöne Sache, wenn man mit der Tochter in Australien skypen oder seine Traumwohnung über einen Facebook-Freund finden kann. Natürlich sind wir durch soziale Netzwerke auch zum Guten miteinander verbunden, aber halt auch sehr wirkungsvoll aneinandergekettet, zur Nähe verdammt, zum Dauerkontakt verurteilt. In der asiatischen Philosophie gibt es das Bild, dass sich zwei Menschen nur nah sein können, wenn sie voneinander entfernt sind. »Wenn man der Nähe die Ferne nimmt, verflacht sie zur Abstandslosigkeit«, sagt der koreanische Philosoph Byung Chul-Han und zitiert Paul Celan: »Du bist so nahe, als weiltest du nicht hier.«

Nur da, wo es eine Distanz zwischen Menschen gibt, können sie sich einander liebevoll oder konzentriert zuwenden. Nähe ist eine dialektische Größe. Sie muss ständig austariert werden und beinhaltet die Erfahrung der Sehnsucht genauso wie die des Wartens, der Enttäuschung, der Erfüllung und der Verschmelzung. Wenn jeder mit jedem zu jedem Zeitpunkt vernetzt ist, der Freund mit der Freundin, die Eltern mit den Kindern, die Chefs mit den Mitarbeitern, werden aus Menschen, die sich auf der Basis von Vertrauen mal näher, mal weniger nah sind, siamesische Zwillinge, Drillinge, Vierlinge, die ihrerseits mit Millionen anderer siamesischer Zwillinge, Drillinge, Vierlinge vernetzt sind.

Eine echte soziale Verbindung setzt Offenheit voraus, aber wie sollen wir das hinkriegen, wenn wir es nicht mehr schaffen, mal für zehn Minuten nicht auf unser Telefon zu glotzen oder es einfach mal zu Hause zu lassen? So entsteht keine Spannung, sondern Überdruss, keine Intensität, sondern Lärm, keine Freiheit, sondern Abhängigkeit. Vertrauen wird ersetzt durch Kontrolle, zielgerichtetes Denken und Handeln sind nicht mehr möglich. In den letzten Jahren gab es drei Revolutionen, die mit Hilfe der sozialen Medien eine demokratische Neuordnung gesellschaftlicher Verhältnisse angestrebt haben: der Arabische Frühling, die Occupy-Bewegung und die Piratenpartei. Alle drei sind gescheitert.

Sich verbinden, ja super, aber mit wem und zu welchem Zweck? Teilen, auch gut, aber was, warum und wieder: mit wem? Entscheidend ist nicht die Verbindung, sondern das gemeinsame Wollen, das aber wird im Chaos der Stimmen und Partikularinteressen vernebelt, zerredet, unmöglich. Laut einer aktuellen Umfrage ziehen 44 Prozent der Deutschen automatisch ihr Handy aus der Hosentasche, wenn sie nichts zu tun haben, bei den 18- bis 24-Jährigen sind es 73 Prozent, vierzig Prozent der Befragten gaben an, eifersüchtig auf das Smartphone ihres Partners zu sein. Gehen Sie mal an einem Abend spazieren; es ist gespenstisch: von Displays erhellte Gesichter, roboterhaft, hermetisch, abwesend, gefährdet. Alles ist erleuchtet heißt der Bestsellerroman, den Jonathan Safran Foer vor ein paar Jahren veröffentlicht hat, er könnte von einem Abendspaziergang durch eine deutsche Stadt handeln.

Wir teilen und schenken so viel wie nie zuvor, das lässt sich statistisch belegen, aber halt meistens Dinge, die wir nicht mehr brauchen, gerade nicht benötigen oder um im Gegenzug etwas anderes geschenkt zu bekommen.

Auch die globalen Konzerne wollen an der neuen »Sharing«-Ökonomie mitverdienen: Goldman Sachs und Google haben mehr als eine Milliarde Dollar in den kalifornischen Taxi-Konkurrenten Uber investiert.

Ein Teenager bekommt 3417 SMS im Monat, das sind sieben pro Stunde. Was vor wenigen Jahren als Zwangsneurose therapiert worden wäre, ist Normalität geworden. »Handys«, sagt der amerikanische Psychologieprofessor Daniel Willingham, »stillen unseren Appetit auf Endlosunterhaltung.« Eine menschliche Beziehung ist das Gegenteil von Endlosunterhaltung. Dadurch, dass wir wegklicken, ignorieren und jederzeit entscheiden können, welcher sozialen Situation wir uns aussetzen und welcher nicht, gehen wir einer echten Auseinandersetzung aus dem Weg. »Das Internet verbindet die Menschen nicht«, schimpft der britische Netz-Kritiker Andrew Keen, »es ist zum Resonanzraum Vereinzelter geworden.«

Wir sind miteinander verbunden, damit wir uns spiegeln und das Echo auf das, was wir sagen, denken, schreiben, darstellen, noch besser hören können. Dazu verbinden wir uns mit Leuten, denen wir gefallen wollen und von denen wir uns einen Vorteil erhoffen, fast niemand verbindet sich mit Flüchtlingen oder Hartz-IV-Empfängern. Schon möglich, dass wir einem hübsch gemachten Lichterkettenaufruf ein spontanes Like gewähren, aber haben wir einen Syrer im Freundeskreis? Eine Frau mit Kopftuch? Einen Schwarzafrikaner?

Neulich haben mich meine Eltern, die auf dem Land leben, in München besucht. Als wir von einem Spaziergang durchs Glocken-bachviertel zurückkamen, stand auf dem Gehweg vor meiner Haustür eine Kiste mit einem alten Radio, daneben ein Stoffsessel und ein Schild: »Zu verschenken!« »Du hast aber nette Nachbarn«, meinten sie. Was soll ich sagen? Sie sind eben gutgläubig. Das Radio war alt, die Antenne abgebrochen, der Sessel zerrissen und eklig. Meine Nachbarn sind wirklich ziemlich nett, aber halt auch zu faul, zum Wertstoffhof zu fahren. Teilen kann eine schöne Sache sein – wenn es uneigennützig geschieht. Ein wahrer Experte des Teilens lebte im vierten Jahrhundert nach Christus: Martin von Tours, besser bekannt als Sankt Martin. Er schnitt seinen Offiziersmantel in der Mitte auseinander, um eine Hälfte einem halbnackten Bettler zu schenken. Nur noch mal zum Verständnis: Er hat seinen Mantel, obwohl er ihn bei der Kälte gut selbst hätte gebrauchen können, auseinandergerissen, also kaputt gemacht, anschließend hatte er nur noch die Hälfte. Was er nicht hatte, sind Likes, Follower, positive Bewertungen oder mehr Geld auf dem Konto.

Wir teilen und schenken so viel wie nie zuvor, das lässt sich statistisch belegen, aber halt meistens Dinge, die wir nicht mehr brauchen, gerade nicht benötigen oder um im Gegenzug etwas anderes geschenkt zu bekommen. Das ist nicht verkehrt und schon gar nicht verboten, aber was uns wirklich wichtig ist und wovon wir immer weniger haben, das verschenken wir eben nicht, nämlich Zeit. Dabei wäre das der viel bessere Gradmesser für unsere Selbstlosigkeit und Solidarität. Stattdessen hocken wir auf unserer Zeit wie auf einem Schatz, jederzeit bereit, die Zähne zu fletschen und unangenehm zu werden, sollte jemand vorbeikommen, der uns ein halbes Stündchen davon wegnehmen möchte. Lieber rein mit dem 20-Euro-Schein ins Misereor-Tütchen und rüber mit den alten Ski-Anoraks ins Flüchtlingsheim als persönlich in einem vorbeischauen und reden und staunen, erschrecken oder kennenlernen. Wir teilen, um uns unsere Mitmenschen vom Leib und unser Gewissen rein zu halten. Und unsere Toleranz, die wir dieser Tage so stolz herzeigen, ist oft nur getarnte Gleichgültigkeit.

Gerade ergab eine Umfrage, dass nur noch sieben Prozent der befragten Deutschen regelmäßig Freunde einladen oder von ihnen eingeladen werden. Vor zwanzig Jahren waren es noch vier Mal so viele. Ein Kaffee aus dem Nichts, ohne Termin, ohne vorherige Anmeldung, das gibt es fast nicht mehr. Stattdessen: Stress, keine Zeit, vielleicht nächste Woche, schmaler werdende Zeitfenster. So was Abenteuerliches wie ein Feierabendbier klappt oft erst im dritten Anlauf und nachdem zwanzig SMS mit Planänderungen hin- und hergeschickt worden sind. Als Kind hat man früher keine Nachricht an die WhatsApp-Gruppe verschickt, man hat das Rad genommen, ist zu einem Kumpel gefahren, hat geklingelt und wenn der erste keine Zeit hatte, ist man zum zweiten, irgendwann hatte man seinen Kameraden, mit dem man den Nachmittag totschlagen konnte. Heute wäre das unmöglich, weil alle Kinder irgendwo sind, wo sie auf den Druck vorbereitet werden, der ihnen demnächst ins Haus steht, und stündlich eine SMS an die Eltern schreiben, dass alles in Ordnung ist, wenn sie nicht sowieso durch eine Tracking-App überwacht werden.

»Die neue Kultur des Teilens braucht eine neue Währung, und die heißt Vertrauen«, schreibt die Oxford-Dozentin Rachel Botsman in ihrem Buch What’s mine is yours. Klingt hübsch, stimmt aber nicht. Durch die Art und Weise, wie wir heute teilen, nämlich kontrolliert, kommerzialisiert, lizensiert und juristisch abgesichert, wird Vertrauen ganz einfach überflüssig. »Die Share Economy ist der ökologische Gegenentwurf zum Turbokapitalismus«, sagt der Soziologe Harald Welzer, »die Kommerzialisierung dessen, was einmal ungeregelte soziale Praxis war. Da ist zu einem riesigen Markt verkommen, was früher als privater Tausch stattfand.« Gleichzeitig verändert uns die Option, jede noch so windige Abstellkammer an einen australischen Oktoberfestbesucher zu verhökern, ja im Grunde jeden Tag und jede Stunde unser mittelmäßiges Gehalt aufbessern zu können, wenn wir nur gewieft genug sind. Wenn jeder ein potenzieller Anbieter und jeder ein potenzieller Kunde ist, entsteht – so nennt das Sascha Lobo – »ein Plattform-Kapitalismus«. Am Ende sind wir zu berechnenden Wirtschaftssubjekten geworden, beständig auf der Suche nach Gewinnmaximierung, genau wie die Investmentbanker, die wir so gierig finden.

Wir sind nicht nur Journalisten oder Briefträger oder Architekten, sondern auch Hoteliers, Chauffeure und Möbelverkäufer. Am Ende ist das letzte Eckchen Privatheit, die letzte persönliche Nische, das letzte freie Stündchen marktförmig gemacht. In einem System, das auf Steigerung angelegt ist, wird alles zur Ware: Kunst, Liebe, Freundschaft, Gesundheit, Parkplätze, und jetzt ist eben die Mitmenschlichkeit an der Reihe, bezahlt wird mit Gebühren, persönlichen Daten und dem Verdacht, dass sich unsere Welt immer weiter von den Fundamenten der menschlichen Zivilisation entfernt. Airbnb, diese charmante Plattform zur Vermietung hübscher Gästezimmer, wurde im Jahr 2008 gegründet, heute ist sie 13 Milliarden Dollar wert. Im Moment probiert das Unternehmen übrigens ein paar Neuerungen aus. In den USA wird getestet, den Gastgebern Service-Pakete zur Verfügung zu stellen, Handtücher und Tassen mit Airbnb-Logo, das von den Vermietern individuell gestaltet werden kann. »Ein Standardprodukt«, erklärt der Marketingchef des Unternehmens, »aber mit einer persönlichen Note. Wir wollen kein Massenprodukt sein, sondern die Individualität der Wohnungen, der Gastgeber und der Gäste feiern.« Das englische Wörtchen share hat in der deutschen Übersetzung eben zwei Bedeutungen. Erstens: Teilen. Und zweitens: Aktie.

Fotos: Fritz Beck