Wenn die Großmütter außer den streunenden Katzen auf der Straße niemanden mehr finden, mit dem sie reden können, ist ein Dorf so gut wie tot. In Italien gibt es viele solche Orte, weit abgelegen, fast menschenleer und stinklangweilig, rund 2800 sollen es sein. Junge Leute wollen von dort weg, weil es keine Arbeit für sie gibt, Touristen wollen dorthin – weil einsame Dörfer und die umliegende Natur oft so schön sind.
Sauris zum Beispiel. Ein winziges Dorf in den Bergen Friauls, auf 1200 Meter Höhe gelegen. Die Luft ist klar, der Blick auf die Berge unverbaut. Erst Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurde überhaupt eine Straße über den Pass gebaut. Sauris lag auch danach noch so abgelegen, dass die Front im Ersten Weltkrieg einen Bogen darum schlug. In und um Sauris lebten damals 1200 Menschen, und es wurden im Lauf der Zeit weniger.
Das Dorf hat merkwürdigerweise überlebt und sieht heute so aus: Eine gepflegte Straße führt von Sauris di sopra, dem oberen Ortsteil, nach Sauris di sotto, dem unteren. Am Weg zwei Kirchen, ein kleines Heimatmuseum, eine Disco, eine kleine Kneipe mit dem Namen »Speckstube«, ein Mountainbike-Verleih, ein Laden, in dem eine junge Frau alles Mögliche aus Filz verkauft, eine kleine Brauerei und die Schinkenfabrik, in der Sandro eigenhändig jeden Sauris-Schinken 24 Monate lang von einer Reifekammer zur nächsten schiebt, ihn am Ende selbst verpackt und allein hinter dem Tresen verkauft. Es sind nicht gerade viele neue Arbeitsplätze, die das Dorf bieten kann. Früher waren alle Bewohner Bauern, jeder besaß mindestens ein Schwein und eine Kuh. Heute wohnt in Sauris kein Bauer mehr.
Viele arbeiten jetzt als Hoteliers eines einzigen Hotels, das über das ganze Dorf verstreut ist. Leerstehende und verfallene alte Häuser oder Heustadel wurden renoviert und 39 Ferienapartments oder Fremdenzimmer eingerichtet, über den Dorfkern verteilt, im Umkreis von 200 Metern. Jeder Bewohner, der ein Zimmer für das Hotel stellt, ist Miteigentümer. »Albergo diffuso« heißt das Konzept, das es mittlerweile in ganz Italien gibt. Ein Albergo diffuso gehört in der Regel mehreren Eigentümern, meistens haben die alten Besitzer der verlassenen Häuser einfach Anteile des neuen Hoteldorfs übernommen. In Sauris ist die Gemeinde Mitinhaber, es wurden auch staatliche Subventionen gezahlt.
Oft sind die verstreuten Hotels viel kleiner als in Sauris: In der Laguna d’Oro sind es sieben kleine Fischerhütten auf sieben der 200 winzig kleinen Inseln der Lagune vor Grado, mit Platz für insgesamt 14 Personen. Die Überfahrt erfolgt im Fischerboot. Roomservice gibt es keinen. Das Essen muss man mitbringen. In den meisten Alberghi diffusi kann man selbst kochen.
Paola Petris führt die Rezeption in Sauris. Man duzt sich sofort, und man ruft Paola an, wenn man irgendetwas braucht. Paola ist im Dorf geboren und aufgewachsen, hat einige Jahre in Udine gelebt, dort studiert und geheiratet, bevor sie 2009 die Leitung des Albergo diffuso übernahm. Paola ist einer der jüngeren Menschen, die ohne das neue Hotelkonzept nicht zurückgekehrt wären.
Essen in Sauris: Die Hotelgäste frühstücken in der »Speckstube« und essen im »Ristorante Neider«. Auf der Karte stehen Flan vom Spargel, Gerstensuppe mit Bohnen, Ravioli mit Wildkräutern und Ricotta, Rinderfiletstreifen auf Rucola mit Käsechips, Kuchen aus Feigen und Walnüssen. Alberghi diffusi sollen helfen, regionale Sonderheiten zu bewahren, und beim Essen gelingt das in Sauris ganz großartig. In einigen Familien spricht man noch Deutsch – Sauris wurde im 13. Jahrhundert von Kärnten aus besiedelt und blieb am Rande der Dolomiten eine deutsche Sprachinsel in Italien. Auch die für die Region typischen Heuschober blieben erhalten: im Erdgeschoss gemauert, oben in Holz ausgebaut.
Ein Albergo diffuso wird nicht gebaut, es entsteht durch die Vernetzung der gewachsenen Bausubstanz. Die Touristen sollen Einblick in das Dorfleben bekommen, und so werden neben Sportmöglichkeiten oft Kurse angeboten – für Italienisch, für das Zubereiten von Pastateig, für Weinverkostung. In Sauris kann man heute die Schinkenfabrik besichtigen. Manchmal zwingt das Hotelkonzept die Bewohner, alte Traditionen neu aufleben zu lassen: Wenn kein lokaler Marmelade- oder Weinhersteller mehr existiert, muss das Dorf eben einen organisieren.
Hundert solcher Hoteldörfer gibt es inzwischen in ganz Italien. Ihre Adressen findet man auf der Homepage des Verbands: alberghidiffusi.it. Sie liegen in den besonders einsamen Abruzzen, im armen Sizilien oder auch im Landesinneren der an der Küste reicheren Insel Sardinien. Die Felsenstadt Matera in der Basilikata besitzt ein Albergo diffuso mit Badewannen von Philippe Starck in verstreuten Höhlenzimmern, aber Luxusausstattung ist die Ausnahme.
Nicht jedes Hoteldorf ist ein Albergo diffuso, selbst wenn es sich so nennt, und nicht jedes würde auch in den nationalen Verband der Alberghi Diffusi aufgenommen werden: Castelfalfi in der Toskana etwa, wo der Reisekonzern TUI elf Quadratkilometer samt Dorf zu einem Club Robinson mit Golfplatz umbaut. Oder Borgho San Felice, ein luxuriöses Hoteldorf, das der Münchner Allianz-Gruppe gehört, Mitglied bei Relais-&-Châteaux-Hotels ist und außerdem als landwirtschaftlicher Betrieb arbeitet. Auch der Familienkonzern Ferragamo, eigentlich auf Schuhe spezialisiert, betreibt zwei Luxushoteldörfer in der Toskana. Four Seasons plant ein Dorf in Umbrien. Der Kaufpreis für ein verlassenes mittelalterliches Dorf ist ja überschaubar: 245 000 Euro hat Calsazio im Piemont vergangenes Jahr auf Ebay gekostet. Die Renovierungskosten allerdings haben schon so manchen Konzern vor der Fertigstellung aufgeben lassen. TUI soll auch schon die Lust verloren haben.
Giancarlo Dall’Ara, ein gelernter Hotelmanager und mittlerweile der Verbandspräsident, hat das Konzept der Alberghi diffusi in den Achtzigerjahren erfunden. Zu Beginn war das Misstrauen der Gemeinden, Hausbesitzer und Urlaubsgäste groß, auch die juristische Umsetzung fiel schwer. Erst 1998 entstand auf Sardinien eine Musterregelung, wie mehrere gleichberechtigte Eigentümer eines einzigen Hotels rechtlich am besten agieren können. Einige Gemeinden in Kroatien und Slowenien versuchen heute, sein Modell zu kopieren. Dall’Ara ist ein höflicher Mann Mitte sechzig und er sagt, dass die Resortdörfer von TUI und Relais & Châteaux nichts mit seiner ursprünglichen Idee zu tun hätten: »In einem Dorf, wo es keine Einwohner mehr gibt, können keine Alberghi diffusi entstehen, die das Lebensgefühl des Dorfes vermitteln: In einem unbewohnten Dorf gibt es kein Leben mehr.« Sauris lebt. An drei, vier Wochenenden im Jahr hat sogar die Disco geöffnet.
Fotos: Mattia Balsamini