»Natürlich ist Religion erst mal Pflicht«

Der Katholik Martin Mosebach und der Muslim Navid Kermani sind fasziniert vom Glauben des jeweils anderen. Ein Gespräch über falsche und echte Toleranz - und darüber, wie der Islam im Westen missverstanden wird.

Der Muslim Navid Kermani (li.) und der Katholik Martin Mosebach (re.).

Foto: Julian Baumann

SZ-Magazin: Herr Mosebach, Ihr Schriftstellerkollege und Freund Navid Kermani hat gerade eine große Meditation über das Christentum veröffentlicht: ›Ungläubiges Staunen‹ heißt das Buch, in dem er sich über Meisterwerke von Botticelli bis Caravaggio der Schönheit und Sinnlichkeit, aber auch der Rätselhaftigkeit des Christentums nähert. Muss erst ein Muslim kommen, um den Christen zu zeigen, wie faszinierend ihre eigene Religion ist?

Martin Mosebach: Leider scheint es so. Der durchschnittliche Christ kennt seine Religion nicht mehr. Sein religiöses Wissen ist ausgeronnen wie aus einem geplatzten Sack. Dazu kommt, dass Navid einen Vorteil hat: Er ist Muslim. Er kann diese Bilder so intensiv auf sich wirken lassen, weil sie ihn erst mal gar nichts angehen.

Navid Kermani:
Über den Islam könnte ich so ein Buch nie schreiben. Ich würde in einen frömmlerischen Ton fallen. Ich kann nur vom anderen, vom Fremden schwärmen. Die Liebe zum Eigenen – ob es nun die eigene Kultur, Religion oder auch die eigene Person ist – erweist sich in der Kritik. Die Liebe zum anderen kann viel rückhaltloser sein.

Ist Ihr Buch eine Antwort auf das, was im Irak und in Syrien passiert?

Kermani:
Es lässt mich jedenfalls nicht unberührt, was dort geschieht. Andere Muslime entführen Christen, umso dringlicher ist es, dass Muslime sich dem Christentum gerade jetzt mit Achtung widmen.

Mosebach:
Es ist die glücklichste Idee, sich der anderen Religion über die Kunst zu nähern, weil man sich über die Theologie nur entzweien kann, ja muss. Dieses Buch ist einzigartig, weil es nach meiner Kenntnis der erste Versuch eines Muslims ist, sich über die christliche Kunst in das Christentum einzufühlen.

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Hatten Sie die Befürchtung, vor lauter Begeisterung dem eigenen Glauben untreu zu werden?

Kermani:
Es war eher andersherum. Durch die Beschäftigung mit dem Christentum habe ich Aspekte des Islam kennengelernt, derer ich mir in ihrer Tiefe nicht bewusst war.

Zum Beispiel?

Kermani:
Je begeisterter ich vor den Werken christlicher Kunst stand, desto reizvoller fand ich die Bilderlosigkeit im Islam. Und je mehr Kirchen ich betrachtete, desto mehr leuchtete mir der Aufbau einer Moschee ein: Dass es anders als in der Kirche, deren Wege auf den Altar zulaufen, weil dort Gott gegenwärtig ist, in einer Moschee kein Zentrum geben kann, weil Gott überall gegenwärtig ist. Egal wo man in einer Moschee sitzt, man sieht die Kuppel von überall gleich gut – wie den Himmel.

An einer Stelle des Buches gestehen Sie: »In Rom wurde ich neidisch aufs Christentum.«

Kermani
: Bevor ich ein Jahr in Rom lebte, nahm ich das Christentum als etwas Gutes und ethisch Wertvolles wahr, aber nicht als etwas Schönes. Als Jugendlicher in einer sehr protestantischen Stadt aufgewachsen, dachte ich oft: Die Christen sind ja nett, aber warum sind ihre Gottesdienste so langweilig? In Rom habe ich gespürt, wie alt die katholische Tradition ist; dass göttlich nicht heißt, dass etwas vom Himmel fällt, sondern über die eigene Erinnerung hinausgeht, dass Rituale, Formen, Gebete einen Ursprung haben, den wir allenfalls noch erforschen können und den dennoch keine Forschung aufschlüsselt. Leider leben wir in einer Zeit, in der sowohl katholische als auch islamische Traditionen wegbrechen; das ist nicht nur traurig, sondern gefährlich, weil Traditionen, die abgebrochen sind, meistens als Fundamentalismus, als etwas Reaktionäres zurückkehren, und dann entsteht Gewalt.

Aber der Fundamentalismus behauptet doch gerade, zum Ursprung zurückkehren zu wollen.

Kermani:
Ja, aber er will dabei die Tradition sozusagen überspringen. Er wendet sich dezidiert gegen die Tradition, insofern er zu einem Uranfang zurückzukehren behauptet.

Dann sollte man Traditionen gar nicht erst abreißen lassen, oder?

Kermani: Man kann keine Tradition künstlich am Leben halten. Aber man kann sie dort, wo sie noch existiert, achten und auch schützen und erneuern. Tradition ist die Vermittlung der göttlichen Offenbarung durch Generationen von Menschen hinweg; sie ist mehr, als ein Einzelner wissen oder sich ausdenken kann. Aber heute muss alles nach unserem gesunden Menschenverstand gehen, ohne dass wir bedenken, dass dieser Verstand doch wie jeder menschliche Verstand zuvor auch nur zeitlich bedingt ist. Religion soll so sein, wie wir uns das wünschen, sie soll das aussagen, was wir ohnehin denken, sie soll kompatibel sein mit unserer Zeit. Dabei ist doch das Wesen der Religion, dass sie gerade nicht kompatibel mit unserer oder überhaupt einer Zeit ist. Jesus war ganz offensichtlich nicht kompatibel mit seiner Zeit.

Mosebach: Im Westen glaubt man unter Christen und Atheisten, man könne die Religion in Philanthropie und Menschenrechten aufgehen lassen. Das Christentum will aber nicht Lösungen zur Überwindung gesellschaftlicher Schwierigkeiten vorschlagen, sondern den einzelnen Menschen in die Gegenwart des lebendigen Gottes führen.

Kermani: Die Herausforderung bestünde darin, einer Religion nicht stumpf zu folgen, sondern es hinzukriegen, dass man einen Text, der vor 2000 Jahren geschrieben wurde, ernst nimmt – und zwar jedes Wort und jede Geschichte – und trotzdem menschenfreundlich und aufgeklärt in der Gegenwart lebt. Keiner sagt, dass das leicht ist, aber das menschliche Bewusstsein kann das. Religion ist niemals das göttliche Wort pur. Sie ist das sich stets verändernde Verhältnis von Menschen zu diesem Wort. Aus genau dieser Bewegung des menschlichen Geistes sind die großen Kulturen entstanden.

Warum hält sich das Vorurteil vom antimodernistischen Islam so hartnäckig?

Kermani: Weil heute so viele Muslime den Islam antimodernistisch auslegen. Und weil sie keine Ahnung haben von ihrer eigenen theologischen Tradition. Man muss sich nur mal fünf Minuten mit diesen Menschen unterhalten, die in der Fußgängerzone den Koran in die Höhe halten: Ihr Wissen beschränkt sich meist auf ein paar Schlagwörter und Regeln, an denen sie sich wie an einem Vademecum festhalten. Sie haben keine Ahnung, dass der Koran kein Buch ist, sondern seiner eigenen Textgattung nach ein liturgischer Vortrag. Dass er von den ersten Muslimen und bis weit ins 20. Jahrhundert gesungen wurde und nicht gelesen. Sie haben keine Ahnung, dass es jedem traditionellen Umgang mit dem Koran spottet, ihn in der Fußgängerzone wie eine Werbebroschüre zu verteilen. Wenn ihre Eltern noch fromm gewesen wären, wüssten sie, dass man in einem muslimischen Haushalt den Koran an höchster Stelle, mit einem kostbaren Tuch verhüllt, aufbewahrt und nur mit äußerster Andacht berührt, manchmal nur mit Handschuhen. Es ist für Muslime Gottes Wort, welches in den Fußgängerzonen im nächsten Papierkorb landet. Diese Menschen reduzieren einen hochpoetischen, auch im Arabischen sprachlich hochkomplexen Text, der sich übrigens in jedem einzelnen Vers reimt, auf ein Gesetzbuch, das man bei Google nach Schlagwörtern durchscannt.

Das wäre, als würde man eine Ode von Hölderlin in Alltagssprache bringen …

Kermani: … und nachschauen, was dieser Hölderlin eigentlich zur Demokratie zu sagen hat. Das ist dumm und gefährlich, denn wenn man diese Sprache nicht als das nimmt, was sie ist, wird sie zu Dynamit. Da steht: »Schlag die Heiden aufs Genick«, und die Leute denken, sie können andere Menschen umbringen. Der Koran aber ist seinem sprachlichen Ausdruck nach poetisch. Keine islamische Theologie hat ihn jemals einfach so wörtlich verstanden und eins zu eins umgesetzt. Jeder klassische Korankommentar bietet zu jedem einzelnen Koranvers verschiedene mögliche Deutungen. Denn das Wesen von Poesie ist die Vieldeutigkeit.

Mosebach: Und die Widersprüchlichkeit; sie ist aber auch der Kraftquell der Religion. Religion ist so widersprüchlich wie die Wirklichkeit, das unterscheidet sie von den Ideologien, die Widerspruchsfreiheit anstreben müssen.

Sie sind seit Jahren befreundet. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Mosebach: Als ich 1999 dein erstes Buch mit dem Titel ›Gott ist schön‹ gelesen habe, war ich so begeistert, dass ich mich sofort hingesetzt und dir einen Brief geschrieben habe. Das Buch hat mich getroffen wie ein Blitz, weil es von der Schönheit als Gottesbeweis handelt. Unsere Zeit ist so säuerlich gegenüber der Schönheit. Meistens wird sie mit Oberflächlichkeit assoziiert. Dabei war in der christlichen Philosophie immer die Vorstellung vorhanden, dass Gott schön ist.

Kermani: Vor ein paar Tagen bin ich nach einer Lesung übrigens von einer Dame angesprochen worden, ob wir wirklich befreundet sind, sie könne sich das nicht vorstellen, du seist doch so konservativ und reaktionär. Das passiert mir immer wieder.

Mosebach: Die Leute wachen eben gern über die Linientreue.

Kermani: Sie konnte es kaum glauben, als ich ihr erzählt habe, dass Martin Mosebach der toleranteste Mensch der Welt ist, gerade weil er so fest in seinem eigenen Glauben steht. Dass er viele Monate im Jahr auf Reisen ist und sich ganz selbstverständlich in fremden Kulturen bewegt, ohne jeden Dünkel, ohne jedes Überlegenheitsgefühl, sondern mit einer Demut und Neugier, von der ich nur lernen kann. Das bedeutet nicht, dass ich alle seine Ansichten teile – aber mein Gott, meine zu ertragen, ist auch nicht immer leicht.

Mosebach: Dazu kommt, dass mir ein gläubiger Muslim viel näher ist als ein Christ mit wegtheologisierter Religion.

Kermani: Ich weiß noch, wie du mir mal in einem Brief geschrieben hast, wie sehr dich der Anblick betender Muslime beglückt.

Mosebach: Nichts ist so berührend, wie einem muslimischen Großvater dabei zuzusehen, wie er seinem Enkel das Beten beibringt. Der alte Mann kniet auf dem Teppich, das Buch vor sich, neben ihm der Junge, ebenfalls kniend, das weiße Mützchen auf. Der Großvater verbeugt sich, der Junge schaut ihm zu, macht es nach. Das ist die schönste Gestalt, die religiöse Tradition annehmen kann.

Auch in Kirchen beten und singen die Menschen gemeinsam.

Mosebach: Aber in der westlichen Welt haben die Menschen das Knien verlernt. Stattdessen wird auf lächerliche Art und Weise das Bild des mündigen Christen propagiert. Wenn es Gott gibt, ist es das einzig Vernünftige, sich vor ihm niederzuwerfen. Und der Anblick von Muslimen, die vor Gott auf die Knie gehen, ist mir da ein unendlicher Trost.

Stört es Sie nicht, dass sie sich vor dem falschen Gott niederwerfen?

Mosebach: Religionsgeschichtlich ist völlig klar, dass Christen und Muslime sich vor demselben Gott niederwerfen. Der Islam spricht vom »Gott Abrahams«, das tun Juden und Christen auch.

Kermani: Das Wort Allah bedeutet Gott. Es meint keinen Spezialgott. Arabische Christen sagen auch Allah, wenn sie Gott meinen. Und wenn ich Deutsch rede, sage ich Gott, nicht Allah. Die ständige Verwendung von Allah im Deutschen ist Ausdruck einer Exotisierung, einer Aus- und Abgrenzung, die von Islamisten wie von Islamgegnern betrieben wird. Als mein Großvater 1963 durch Deutschland und Frankreich gereist ist, hat er seinen Gebetsteppich ständig in Kirchen ausgebreitet. Meine Mutter war in der Stadt einkaufen, mein Großvater hat in der Kirche gebetet – und wurde kein einziges Mal schief angeschaut.

Mosebach: So etwas wäre heute undenkbar. In der Atmosphäre des gewachsenen Fanatismus hätten viele Angst, dass ihre Kirche zur Moschee wird.

Kermani: Man würde es als Provokation empfinden, als Islamisierung des Abendlandes. Selbst Goethes West-östlicher Divan wäre heute nicht mehr vorstellbar. Ein deutscher Dichter, der Arabisch lernt, den Koran preist und kein Problem damit hat, wenn man ihn Muslim nennt, würde vermutlich vom Verfassungsschutz beobachtet.

»Die Religion, die fordert, dass sich der Mensch von ihr ergreifen lässt, ist dem Publikum in Westeuropa unheimlich«

Beten Sie auch in der Kirche, Herr Kermani?

Kermani: Ja, aber nicht mit gefalteten, sondern ausgebreiteten Händen und still, nicht ostentativ. Wenn ich einen Augenblick der Besinnung brauche, gehe ich in eine Kirche.

Beten Sie in der Moschee, Herr Mosebach?

Mosebach: Selbstverständlich. Kennen Sie nicht den jesuitischen Witz? »Darf man beim Beten rauchen? Nein. Darf man beim Rauchen beten? Natürlich.« Man darf und soll also überall beten, besonders natürlich in einem Gotteshaus, zumal wenn dessen von Navid so schön beschriebene Kuppel nach dem Vorbild der Hagia Sophia von Konstantinopel gebaut worden ist. Vor ein paar Jahren bin ich lange durchs hinduistische Indien gereist. Als ich nach Wochen die Freitagsmoschee in Delhi betrat, hatte ich das Gefühl, als käme ich nach Hause in meine eigene Kultur.

Der Publizist Jürgen Todenhöfer hat gesagt: »Was mich immer wieder in den Nahen Osten treibt, ist dieser Hass des Westens auf die muslimische Welt, dieser unberechtigte Hass.« Wie erklären Sie die Panik vieler Europäer vor der Islamisierung des Abendlandes?

Mosebach: Wenn in Deutschland oder Frankreich Religion erlebt wird, die Ansprüche stellt, ist es meistens der Islam.

Aber in Deutschland sind nur fünf Prozent der Bevölkerung muslimisch, in Frankreich sind es acht Prozent.

Mosebach: Dafür ist die christliche Religion in Westeuropa praktisch unsichtbar geworden. Sie hat den Kopf eingezogen und präsentiert sich so angepasst wie möglich. Dauernd betonen die Bischöfe, dass die Kirche einen Beitrag zu diesem oder jenem leisten möchte, aber sie ist eben nicht mehr die Kraft, die bestimmen will, wonach der Mensch sich ausrichten soll. Die Religion, die fordert, dass sich der Mensch von ihr ergreifen lässt, ist dem Publikum unheimlich. Mit ihr würde etwas zurückkehren, was man gründlich ausgemerzt glaubte.

Kann es sein, dass die säkulare Gesellschaft unterbewusst neidisch auf diese Menschen ist, weil sie ernsthafter in ihrer Religion leben, weil sie eine Identität in ihr finden?

Mosebach: Vielleicht ist das so. Wir spüren diese religiöse Kraft in den Menschen, die in unser Land kommen, das verstärkt unser phobisches Verhalten. Ich fürchte, das Wort Islamophobie bezeichnet weniger eine Phobie gegenüber dem Islam, sondern gegenüber der Religion schlechthin. Wir reden ständig von Toleranz, sind in Wirklichkeit aber indifferent. Toleranz heißt doch, dass man etwas duldet, obwohl man es für falsch hält.

Kermani: Etwas dulden, was man für richtig hält, ist ja einfach.

Mosebach:
Wir aber tun so, als wären wir tolerant, in Wahrheit verlangen wir, dass sich die Muslime unserer Zivilreligion unterwerfen und akzeptieren, dass die Religion immer nur die zweite Geige zu spielen hat.

Der Westen empfindet eine moralische Überlegenheit gegenüber der muslimischen Welt?

Mosebach:
Ja. Wir sprechen dauernd von Parallelgesellschaften, die sich assimilieren müssten. Was aber ist die Ursache der großen ethnischen Massaker und Kriege im 20. Jahrhundert, für den Hass zwischen Deutschen und Juden, Türken und Armeniern, Serben und Kroaten, Indern und Pakistani? Das waren alles Konflikte zwischen höchst assimilierten Gruppen mit derselben Sprache, derselben Kultur, denselben Gewohnheiten. Es waren immer nur die letzten kleinen Differenzen, die zum Hass führten. Man müsste mal darüber nachdenken, ob die Existenz von Parallelgesellschaften nicht friedenssichernder sein könnte als die Assimilation. Die USA bestehen ganz und gar aus Parallelgesellschaften, da gibt es die Juden, die Schwarzen, die Latinos, alle leben – bis jetzt – relativ friedlich miteinander. Wir aber versuchen in einer Art Rundfunkratmentalität, die Religionen ununterscheidbar zu machen.

Mit welchen Konsequenzen?

Mosebach: Dass wir in der Volkstanzgruppe landen, bei der jeder mitmachen darf. Wir fordern die Verharmlosung der Religion, weil wir uns weigern, sie nach ihrem eigenen Gesetz zu begreifen. Stattdessen erheben wir mit dem fatalen Begriff der Zivilreligion die Indifferenz selbst zur Religion, die mit der ganzen Unduldsamkeit einer alten Religion fordert, dass die Religionen sich ein- und unterzuordnen haben.

Kermani: Es gibt eine Scheu vor Konflikten, dabei kann und soll man Uneinigkeit bestehen lassen, solange es einen Rahmen gibt, in dem man sich nicht die Köpfe einschlägt. Man darf Unterschiedliches unterschiedlich lassen und muss Fragwürdiges nicht unbedingt hinterfragen.

Mosebach: Nach christlicher Logik ist der andere Mensch prinzipiell zu lieben, auch da, wo er irrt, ja gerade da, wo er irrt.

Kermani: Ich habe auf meinen Reisen in Kriegsgebiete die Erfahrung gemacht, dass es eine bestimmte Form von Frömmigkeit gibt, egal in welcher Religion, die zwingend mit Güte einhergeht. Bei christlichen Mönchen und Nonnen ist mir dieser Zug der bedingungslosen Liebe gegenüber Fremden und Andersgläubigen besonders aufgefallen. »Liebe deinen Feind« ist ein revolutionärer Gedanke, der über den Sufismus auch in den Islam eingezogen ist, aber von den Sufis immer als christliche Weisheit anerkannt wurde. Der Prophet Mohammed sagt: »Die Wege zu Gott sind so zahlreich wie die Atemzüge eines Menschen.« In der Vielfalt ist Gnade, aber das bedeutet nicht, dass wir alles gleich gut finden müssen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Ihre muslimische Tochter während einer Messe zur Eucharistie eingeladen wurde.

Kermani: Meine Tochter hat sich nach der Fürbitte, die sie vorgetragen hat, etwas vorgedrängelt, und irgendwie ist es dann passiert. Es war kein Programm, sondern eine Nachlässigkeit im multikulturellen Alltag.

Mosebach: Das ist unverzeihlich.

Kermani: Du hast ja Recht, aber ich weiß, wie so was passiert: Man möchte das muslimische Mädchen aus sozialen Gründen nicht ausschließen, das ist lieb gemeint, aber natürlich falsch.

Mosebach: Eine Nettigkeit im Stil einer Barbecue-Party nach dem Motto »Jeder kriegt was, jeder darf dabei sein«.

Kermani: Das klingt jetzt so negativ. Ich bin ein Freund des Gutmeinens. Lieber das Gute wollen und Fehler machen, als das Böse wollen und alles richtig machen. Trotzdem ist das natürlich der falsche Ansatz.

Mosebach:
In der allgemeinen Banalität passiert so was, weil selbst den Pädagogen nicht mehr klar ist, dass die Liturgie ein Mysterium für die Getauften ist, die an der Verschmelzung mit der Gottheit teilnehmen. Die Riten dieses Mysteriums fordern Verbindlichkeit, aber im Westen findet man es empörend, wenn eine religiöse Vorschrift sich der Zeitmode entzieht.

Kermani: Ich habe vor einiger Zeit bei einer Podiumsdiskussion über Religion das Wort »Pflicht« in den Mund genommen. Sie glauben nicht, was für ein Raunen durch das Publikum ging, dabei ist Religion natürlich erst mal Pflicht. Es geht nicht zuerst um uns, sondern um Gott. Und um die Mitmenschen. Das Wort Islam bedeutet übersetzt »sich hingeben, sich ergeben«. Und es gibt zwei Arten von Liebe: die, die nur sich selbst liebt, die narzisstische Liebe. Und die, die sich aufopfert. Welche von beiden die wahrhaftigere ist, darüber müssen wir nicht reden. Und Glaube ist streng genommen sogar die Auslöschung des Ich, aber jetzt muss ich aufpassen, was ich sage.

Warum?

Kermani: Auslöschung des Ich – das klingt ja nach Faschismus. Dabei geht es genau darum: Dass unsere Individualität reicher wird, wenn wir sie ins Allgemeine wenden und das eigene kleine Ich hintanstellen. Wir werden reicher, indem wir weniger werden, weil wir dann eins werden mit der Welt, das ist der mystische, übrigens auch der ästhetische Gedanke. Das geht auch außerhalb der Religion, zum Beispiel in einem Konzert, wenn man die Augenblicke als die reichsten erfährt, in denen man sich verliert, vergisst, auflöst – in denen man eins wird mit der Musik, mit der Welt, die einen umgibt. Indem wir die Zeit vergessen, schmecken wir etwas von der Ewigkeit. Adorno schreibt in seiner Ästhetischen Theorie, es geht um die Wiedergewinnung der Subjektivität durch ihren Verlust.

Mosebach: Johannes der Täufer sagt über Christus: »Er muss wachsen, ich muss abnehmen.« Kermani Ich kriege durch meine Kinder jeden Tag mit, wie stark es der jungen Generation um eine Ich-Aufladung, Ich-Entfaltung, ja Ich-Sucht geht.

Jetzt sagen Sie bitte nicht, dass früher alles besser war.

Kermani: Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung großgeschrieben wurden, aber was wir jetzt erleben, ist die Perversion dieses Gedankens. Das Selfie ist das Gegenteil von Ichwerdung. Ich bin mir sicher, dass eine Generation kommen wird, und zwar sehr bald, der es wieder mehr um die innere Verfasstheit, weniger um Wirkung und Repräsentation gehen wird. Diese jungen Menschen selbst werden es zu einem guten Teil merken. Denn eines ist klar: Immer nur sich selbst betrachten ist auf Dauer eine ziemlich langweilige Angelegenheit.

Mosebach: Deswegen ist die heilige Messe im alten Ritus so kostbar. Man tritt dabei in die Objektivität liturgischer Vollzüge hinein, in denen es nicht darauf ankommt, was man selbst dazu beiträgt oder leistet. Man tritt zu einem Vorgang hinzu, der auch ohne einen geschieht, weil diese Liturgie sich im Ganzen als ein Hinzutreten zu etwas versteht, was ohnehin geschieht, nämlich die Liturgie des Kosmos. Da wird nicht mehr geleistet, da wird nicht mehr gewollt, weil alles erforderliche von Christus selbst getan wird. Wenn wir mit einer islamischen Formel sagen »Von Gott kommen wir, und zu Gott kehren wir zurück«, dann relativiert sich jede Gefahr, jede schicksalhafte Situation, jedes Scheitern.

»Das größte Missverständnis über den Islam in der westlichen Welt ist, dass alle Muslime streng gläubig sind. Wir erleben den Niedergang des Islam«

Herr Kermani, in Ihrem Buch schreiben Sie: »Das Ordinäre tritt als Kontrast gerade da am stärksten hervor, wo sich das Heilige oder die Liebe tatsächlich ereignen.«

Kermani: Das bezieht sich auf das Bild Die Kreuzigung Petri von Caravaggio aus dem Jahr 1604. Wir stellen uns unter Schönheit meistens etwas Poesiealbummäßiges vor, dabei geht das Heilige fast immer einher mit dem Ordinären. Caravaggio zeigt das in seiner ganzen Derbheit und Banalität. Der heilige Petrus wird ans Kreuz geschlagen, aber links und rechts davon tobt das Leben, man sieht einen rausgereckten Hintern, schmutzige Fußsohlen, dreckige Fingernägel. Wäre der Hintergrund ausgeleuchtet, sähe man wahrscheinlich Orangenverkäufer, denen vollkommen egal ist, dass da ein Mensch, nein, dass da der heilige Petrus ans Kreuz geschlagen wird und ratlos und einsam stirbt. Seine heilige Bedeutung bekommt dieses Martyrium erst im Rückblick. Womöglich geschehen jeden Tag Wunder direkt vor unseren Augen, und wir sehen sie nicht, können sie nicht sehen. Wir sind die Orangenverkäufer.

Bestärkt oder verunsichert es Sie in Ihrem Glauben, Teil einer säkularen und narzisstischen Gesellschaft zu sein, die nicht Nächstenliebe, sondern Kalkül, nicht Glauben, sondern Unverfrorenheit belohnt?

Mosebach: Ich habe überhaupt keine Freude daran, eine Sonderposition einzunehmen. Ich fühle mich unbehaglich dabei, auch gar nicht dazu berechtigt. »Herr, hilf meinem Unglauben«, heißt es in der Heiligen Schrift, und ich würde mich davor hüten, mich als Glaubensathleten darzustellen. Mit der Religion steht es am besten, wenn von ihr nicht zu viel die Rede ist. In den großen katholischen Jahrhunderten Europas haben die Laien sich nicht zur Religion geäußert, sie war eine Selbstverständlichkeit.

Kermani: Am Rand zu stehen, Außenseiter zu sein, belächelt zu werden kann für einen Christen nicht so abwegig sein, wenn man bedenkt, dass das Christentum lange Zeit der Glaube einer kleinen, verspotteten, häufig ja auch verfolgten Minderheit war.

Mosebach: Das Christentum ist enttäuschungsresistent. Ihm wurde von seinem Stifter das Scheitern vorhergesagt, so gesehen kann ein Christ vollkommen beruhigt sein.

Solange er scheitert, macht er alles richtig.

Mosebach:
Letztlich ja. Es handelt sich um eine Botschaft, die durch Misserfolg nicht widerlegt werden kann.

Friedrich Schlegel schreibt schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Islam als der erfüllbaren, vom Christentum als der nicht erfüllbaren Religion.

Mosebach: Ja, diese Überforderung aus Prinzip verhindert die Banalisierung des Christentums.

Kermani: Vielleicht ist Religion immer etwas, was sich unter Druck behaupten muss.

Mosebach: Die Wahrheit ist eben nicht auf Zustimmung angewiesen, um wahr zu sein. Trotzdem gibt es ein Bedauern, wenn man davon überzeugt ist, dass etwas richtig und fruchtbar ist, aber nicht so erkannt wird. Aber du hast recht: Religion muss unter einem Druck stehen, um ihre Stärken entfalten zu können. So grauenvoll die Martyrien der Christen sind, denen vom IS der Kopf abgeschnitten wird, aber es ist der Beweis, dass das Christentum so lebendig ist, dass noch jemand dafür zu sterben bereit ist. Wir sprechen von diesen Menschen mitleidig als Opfer, dabei wollen sie wirklich Opfer im religiösen Sinn sein.

Ist die Wahrheit nicht viel banaler und grausamer? Sie werden gefangen, gefoltert, getötet.

Mosebach: Die 21 ermordeten koptischen Christen in Libyen sind einzeln gefragt worden, ob sie ihrer Religion abschwören, und haben Nein gesagt. Das tröstet mich, das ermutigt mich auch.

Auch Selbstmordattentäter sterben für ihren Glauben.

Mosebach: Und vergessen dabei, dass man ein religiöses Zeugnis nur für sich selbst, nie auf Kosten anderer ablegen darf, schon gar nicht durch die Ermordung unbeteiligter Menschen.

Kermani: Der Selbstmordattentäter spielt Gott, das ist die höchste Häresie. Es gibt keine traditionelle Exegese des Korans, die nicht aufhört mit dem Satz: »Gott weiß es besser.« Seltsam, dass der Opfergedanke heute vor allem mit dem Islam verbunden wird, wo er doch zutiefst im Christentum verwurzelt ist. Leider ist er, bedingt durch die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, für die sich Millionen Menschen blind geopfert haben, bedingt auch durch den Terrorismus, durch den man die Selbstaufopferung mit Mord und Totschlag assoziiert, zutiefst diskreditiert. Auf dem Schulhof möchte keiner als Opfer verspottet werden, dabei hat Jesus Christus sich selbst geopfert, ja die gesamte Geschichte des Christentums ist voll mit Menschen, die sich geopfert haben. Die Geschichte speziell des schiitischen Islam ebenso: Das waren keine Menschen, die wehrlose Menschen getötet haben, sondern von Verbrechern und Usurpatoren getötet wurden. Heute gilt die heiligste Handlung, die ein Mensch vollbringen kann, nämlich sich selbst zu opfern, als lächerlich und pathologisch.

Hat Herr Mosebach schon mal versucht, Sie zu missionieren?

Kermani: Das würde er nicht tun, weil er auf eine höhere Kraft vertraut, welche die Dinge schon richten wird. Er würde mich einladen, seinen Glauben kennenzulernen, das schon. Ich habe übrigens kein Problem damit, dass mich ein Christ als Ungläubiger bezeichnet, wenn ich es aus seiner Sicht bin.

Haben Sie Angst um das Heil von Herrn Kermani?

Mosebach: Ich habe Anlass, um mein eigenes Heil besorgt zu sein.

Kermani: Als Christ gehört es aber zu deinem Glauben, dass du es gerne sehen würdest, wenn dein Gegenüber das Heil findet.

Mosebach: Natürlich. Ich finde durchaus, dass jeder Mensch katholisch sein sollte.

Kermani: Als Muslim habe ich nicht gelernt, dass jemand, der seine Religion hat, konvertieren sollte. Der Ungläubige, der keinen Bezug zur Religion hat, beunruhigt meine Eltern und meine islamischen Lehrer weit mehr als ein gläubiger Christ oder Jude. Glaubst du, dass das Heil für mich nicht vorgesehen ist, weil ich ein Muslim bin?

Mosebach: Das glaube ich nicht. Wenn Menschen im guten Glauben nicht bei Christus sein können, liegt die Schuld bei den Christen, die das Christentum nicht überzeugend genug dargestellt haben.

Kermani: Aber jetzt habe ich mich doch so intensiv damit beschäftigt. Mosebach Es ist eine bezeichnende Pointe, dass der Autor von Gott ist schön aus der Schönheit der von ihm bewunderten christlichen Kunst nicht auf die Wahrheit des ihr zugrunde liegenden Glaubens an die göttliche Menschwerdung schließen will. Die Christen haben große Missionserfolge auf der ganzen Erde erzielt, aber fast nie bei Muslimen.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Mosebach: Nach Jahrhunderten schaffen Religionen ihre eigene Kultur, sie werden, wie der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt sagt »schließlich Geschmackssache«. Ich vermute, dass es schwieriger ist, eine Kultur zu wechseln als eine Religion. Deshalb frage ich mich auch, ob die Begeisterung für die christliche Kunst einfach von ihrem Fundament abgelöst werden kann, dass eben der Schöpfergott Mensch geworden ist. Vielleicht sind sich der Islam und das Christentum einfach zu nah, der Sprung von der einen Religion zur anderen nicht weit genug. Sie wissen ja, wie es ist mit der Annäherung. Man nähert und nähert sich, aber die letzten paar Prozent können nicht vollzogen werden, die werden ein Riesenhindernis, eine radikale Grenze, und sie ist ja da, diese Grenze. Das muss man nicht gut oder bedauernswert finden, sie ist da. Für mich ist Jesus nun mal der inkarnierte Schöpfergott.

Kermani: Natürlich kann ich da nicht mitgehen. Auch für die Sufis stand Jesus für die Möglichkeit eines vollkommenen Menschen, aber eben eines Menschen.

Mosebach: »Wer mich sieht, sieht den Vater«, sagt er. Jesus selbst glaubte jedenfalls, der Gottmensch zu sein. Das muss man ihm nicht glauben – aber dann wäre er nicht ein vollkommener Mensch, sondern ein Betrüger.

Kermani: Sehen Sie? Das sind die Differenzen, die bleiben.

Mosebach: Unüberbrückbare Differenzen. Aber wenn die Positionen geklärt sind, gibt es keinen Streit.

Kermani: Wir wissen ja, wo wir unversöhnlich sind. Und würde man diese Ernsthaftigkeit relativieren, würde ihr etwas Fundamentales genommen. Die Inkarnation gehört nun mal zu seinem Glauben, da fangen wir doch nicht an, einen Mittelweg auszuklamüsern.

Mosebach: Das geht auch nicht. Eine Religion, die zum Gegenstand hat, dass der Gottmensch leibhaftig die Erde betreten hat, kann das nicht zur Disposition stellen. Zweifelst du eigentlich als moderner Intellektueller oder als Muslim an der Menschwerdung Gottes?

Kermani: Sowohl als auch, mit dem Verstand, aber mehr noch mit dem Herzen. Im Übrigen ist es kein Widerspruch, modern zu sein und Muslim.

Was ist das größte Missverständnis über den Islam in der westlichen Welt?

Kermani: Die Vorstellung, dass alle Muslime strenggläubig sind. Ich merke oft an deinen Formulierungen, dass du davon ausgehst, dass die muslimische Welt tief in ihrer Religion verwurzelt ist. Schön wär’s.

Mosebach: Aber ich meine in muslimischen Ländern doch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl im Zeichen der Religion beobachtet zu haben, etwa im Ramadan oder beim Opferfest.

Kermani:
Die äußeren Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam haben in den letzten zwanzig, dreißig Jahren sicher zugenommen, vor allen in der arabischen Welt, Kopftuch, Ramadan, Alkoholverbot. Aber ob die Menschen im Herzen gläubiger sind, das würde ich bezweifeln. Wenn es nicht äußerer Druck ist, hat es oft mehr mit Identität zu tun als mit Spiritualität.

Mosebach: Trotzdem ist es unerhört beeindruckend, wenn sich für dreißig Tage der Rhythmus einer ganzen Stadt verändert. Kermani Im Iran ist das nicht so. Mosebach Auch heute nicht?

Kermani: Erst recht nicht. Empirische Umfragen belegen, dass sehr viel weniger Menschen im Iran die religiösen Gebote einhalten als in der Türkei. Wo eine Religion als Staat auftritt, wird sie natürlicherweise mit allen Unzulänglichkeiten und gegebenenfalls Verbrechen des Staates identifiziert, von Korruption bis Folter. Wem an der Religion etwas liegt, kann eigentlich nur Säkularist sein. Unter den vielen Missverständnissen, die es in Bezug auf den Islam gibt, ist das größte, dass er gerade eine Renaissance erlebt. Was wir erleben, ist der völlige Niedergang einer religiösen Kultur. Was wir erleben, sind die Zuckungen eines Gequälten, eines Siechenden, eines vielleicht schon Todkranken. Die Terroristen sind nicht Ausdruck der Stärke, sondern der kolossalen Schwäche des Islam in unserer Zeit.

Mosebach: Ich habe keine Feldforschungen unternommen, aber in Ägypten, Marokko, Türkei und Indien viele einfache Leute kennengelernt, bei denen ich den Eindruck hatte, dass die Religion ihnen wirklich die Mittel in die Hand gegeben hat, täglich im Angesicht Gottes zu leben. »Inschallah«, sagen sie oft: »So Gott will.« Die Erkenntnis, dass wir nicht die Herren der Zeit sind, dass Gott entscheidet, was morgen sein wird, diese Relativierung des eigenen Willen, die ist wunderbar. Und noch etwas Wichtiges: Diese Leute wollten nie wissen, ob ich Christ sei. Ihre Frage war stets: »Betest du?« Wenn das bejaht wurde, gab es keinen Vorbehalt mehr.

Welche Religion ist die humorvollere?

Kermani Die jüdische.

Die sowieso. Aber zwischen Islam und Christentum?

Kermani:
Ich kann mit so pauschalen Fragen wenig anfangen – der Islam, das Christentum. Es gibt lustige Imame und bierernste Pfarrer. Und umgekehrt. Heute kann man allerdings sagen, dass dem Islam in weiten Teilen der Witz abhanden gekommen ist. Daraus folgt aber kein Gebot, über schlecht gemachte Karikaturen zu lachen. Man soll sich nur nicht lächerlich machen, in dem man bei jeder Beleidigung vor Wut platzt. Es ist wie auf dem Schulhof: Ignoriert man sie, hören die Beleidigungen auf.

Mosebach: Der Anspruch der Kirche, in ihren Zeremonien das Wirken des Geistes materiell sichtbar zu machen, bringt sicher auch komische Situationen hervor. Trotzdem hat das Evangelium wahrlich keine humorvolle Atmosphäre. Jesus lacht nicht, zumindest wird es nicht berichtet. Es steht geschrieben, dass er weint, aber nicht, dass er lacht.

Würde man sich nicht wünschen, dass Jesus lacht?

Mosebach: Man könnte sagen, dass die Menschwerdung Gottes nicht ganz abgeschlossen wäre, wenn der Gottmensch nicht auch die menschliche Fähigkeit zum befreienden Lachen kennengelernt hätte. Trotzdem gibt es die Hoffnung, dass Gott gelegentlich über uns lacht, denn wenn man jemanden komisch findet, hat man ihm doch schon halb verziehen.

Fotos: Julian Baumann