In der Apostelgeschichte, Kapitel 20, Vers 9–11, steht geschrieben:
»Es saß aber ein junger Mann mit Namen Eutychus in einem Fenster und sank in einen tiefen Schlaf, weil Paulus so lange redete; und vom Schlaf überwältigt fiel er hinunter vom dritten Stock und wurde tot aufgehoben. Paulus aber ging hinab und warf sich über ihn, umfing ihn und sprach: Macht kein Getümmel; denn es ist Leben in ihm. Dann ging er hinauf und brach das Brot und aß und redete viel mit ihnen, bis der Tag anbrach.«
Wahnsinn, oder? Da predigt der Apostel Paulus ohne Unterlass, bis ein Zuhörer stirbt, erweckt ihn rasch wieder zum Leben – und predigt weiter bis zum Morgengrauen. Die Kirchenmänner um das Jahr 70 nach Christus waren echte Teufelskerle. Wenn man das so sagen darf. Sie zogen aus und bekehrten nur mit der Kraft ihrer Worte Römer, Germanen, die halbe Welt.
1944 Jahre später: Heiligabend 2014 in einer evangelischen Kirche in Franken, gegen 23 Uhr. Eine kräftige Frau im schwarzen Talar mit weißem Beffchen steigt zur Kanzel empor. Die noch recht junge Pfarrerin greift entschlossen mit beiden Händen ans Pult und beginnt mit fester Stimme ihre Weihnachtspredigt. Es geht um einen alten Koffer, den sie auf dem Dachboden gefunden hat, an mehr erinnere ich mich ein Jahr später beim besten Willen nicht. Sie redete nicht mal eine Viertelstunde, aber hätte es wie bei Paulus Plätze auf dem Fenstersims gegeben, es wären wohl einige Zuhörer ermüdet hinabgestürzt. Paulus heutige Nachfolger können oft nicht einmal die Lebenden unter ihren Zuhörern erwecken.
Papst Franziskus hat im Februar 2015 über die Predigtkultur seiner Kirche geklagt, es sei traurig, dass Priester und Gläubige dabei »oft leiden müssen – die einen beim Zuhören, die anderen beim Predigen«. Der Vatikan hat darum einen 150-seitigen Leitfaden herausgegeben, der den Priestern helfen soll, besser zu werden.
Um nicht ungerecht zu sein: Bestimmt gibt es mitreißende, tief bewegende, lebensverändernde Predigten. Ich höre sie nur nie. In all den Jahren nicht einmal: ob in kleinen Dorfkirchen, in großen Kloster-kirchen oder in Neubaukirchen in der Großstadt. Nie war die Predigt richtig gut, nie hat sie mich über den Moment hinaus beschäftigt. Das ist keine Klage, kein Vorwurf, es ist vor allem ein Bedauern. Eine Sehnsucht nach mehr. Und muss man das nicht genau zu Heiligabend mal laut sagen? An dem einen Abend im Jahr, an dem die Kirchen voll sind mit Folklore-Gläubigen wie mir?
2015 ist das Jahr, in dem man sich an die Terrorwarnungen für Weihnachtsmärkte schon gewöhnt hat und auf dem Weg zur Kirche an der mit Flüchtlingen überfüllten Schulturnhalle vorbeifährt. In so einer Zeit sehnt man sich nach einem Licht in der Finsternis, wie es bei Johannes, Kapitel 12, Vers 46 heißt. Und ist enttäuscht, wenn dieses Licht nicht mehr ist als ein paar funkelnde Elektroglühlämpchen am Kirchentannenbaum – wenn die Christmette es dabei belässt, eine kuschelige Brauchtumspflege mit Echt-Stroh-Krippe zu sein.
Das war doch immer der Vorwurf der Kirche: Früher, in friedlicheren Jahren, klagten die Pfarrer zu Recht über die Verkitschung und den Ausverkauf des Weihnachtsfests. Die Reduzierung von Christi Geburt auf Adventskalenderschokolade, Geschenkeberge, Festessen. Es gehe doch eigentlich um das Kind in der Krippe, um den Mensch gewordenen Gott, um die Frage, warum ein Gottessohn schwach und schutzbedürftig in einem Stall geboren wird.
Die Pfarrer erzählen die größte, die mächtigste, die beste Geschichte der Welt, aber ihre Zuhörer blicken heimlich auf die Uhr. Wenn ein Stadion nur einmal im Jahr ausverkauft ist, macht dann nicht die Mannschaft, die darin spielt, etwas verkehrt?
Ich bin kein klassischer Kirchgänger, aber ich gehe gern in Kirchen – nur lieber außerhalb der Gottesdienste. Ich kann an einem Dienstagvormittag schweigend in der leeren Münchner Frauenkirche sitzen und die Besonderheit dieses Ortes spüren. Ich spreche im Vorbeiradeln manch- mal kleine Fürbitten zu dem geschnitzten Jesus am Holzkreuz nahe dem SZ-Hochhaus. Ich bin nur aus Neugier zu einem Beichtgespräch in meinem Viertel gegangen und hatte mit dem Benediktinermönch von St. Bonifaz eine der gehaltvollsten Unterhaltungen in diesem Jahr. Und ich beneide jeden, der an ein Leben nach dem Tod glauben kann. Für einen dieser typischen atheistischen Großstadtbewohner Ende dreißig bin ich überdurchschnittlich religiös.
Auch an diesem Heiligabend gegen 23 Uhr werde ich fragen, ob jemand aus meiner Familie mit in den Mitternachtsgottesdienst will. Und niemand außer mir wird vom Sofa aufstehen. »Wir waren doch schon beim Familiengottesdienst«, heißt es dann. Stimmt, aber der 16-Uhr-Gottesdienst ist nicht viel mehr als Krippenspiel, da ist zu viel Unruhe, da möchte niemand die hibbeligen Kinder lange hinhalten, und die Eltern sind zu sehr mit »Pssst!«-Zischen und »Wir gehen ja gleich«-Beschwichtigungen beschäftigt. Die Erwachsenen, denen es ernster ist, treffen sich spät am Abend. Die kratzen die Autoscheibe noch einmal frei, binden sich den neuen Kaschmirschal um und frieren auf kaum beheizten Bänken, obwohl es doch hernach keine Geschenke mehr auszupacken gibt.
Das Besinnlichste an Weihnachten ist für mich Stille Nacht, Heilige Nacht im Spätgottesdienst. Wenn am Ende die Lichter in der Kirche bis auf die am Christbaum gelöscht werden und fremde Erwachsene gemeinsam in die dunkle Stadt hinaus singen: »Alles schläft, einsam wacht«. 200 Jahre alte Strophen, die in dieser letzten Stunde des Heiligen Abends mehr als nur ein Lied oder Kindheitserinnerungen sind. Da ahne ich zwei, drei Refrains lang, wie wohlig warm sich Glauben anfühlen könnte: »Christ, der Retter ist da / Christ, der Retter ist da«.
Liegt hier nicht das große Versäumnis, die verpasste Chance? Die Christmette wirkt wie ein Höhepunkt, sie macht nicht Lust auf den nächsten Sonntagsgottesdienst. Die Weihnachtsbotschaft? Hört man gern, aber halt vom selben Pfarrer und zum 38. Mal. Der Heiland ist geboren? Freut mich, dann bis Ostern.
Es gab in diesem Jahr eine Predigt, über die ein ganzes Land und Menschen in aller Welt bis heute diskutieren. Sie stammt von der Tochter eines evangelischen Pastors, die ihrer großen Gemeinde voller Überzeugung sagte: »Wir schaffen das!« Und als ihr immer weniger Menschen glauben wollten, dass es keine Obergrenze für Kriegsflüchtlinge geben dürfe, mahnte sie: »Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen, dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.« Das war eine zutiefst christliche und sehr konkrete Aussage, die jedem Pfarrer gut gestanden hätte. Es waren untypische Worte für eine Kanzlerin.
Das wäre ein sehr interessantes Thema für eine Weihnachtspredigt 2015: Hat Hilfsbereitschaft eine Grenze? Und wer darf sie ziehen? Durch Deutschland geht ein immer tieferer Spalt zwischen »Wir schaffen das!«-Rufern und »Wir können nicht mehr!«-Mahnern. An Weihnachten werden sie nebeneinander in den Kirchenbänken sitzen und zuhören. Täte es nicht ungemein gut, jetzt mal eine kluge, fern jeder weltlichen Interessen stehende, religiös begründete Meinung zum Streitthema Flüchtlinge zu hören? Wer sich von Politik und Medien nicht mehr repräsentiert fühlt, wer um sein christliches Abendland besorgt jeden Montag durch Dresden oder München zieht, der müsste seinem Gemeindepfarrer doch zuhören. Es könnte gerade die große Stunde der Kirche in Deutschland schlagen.
Aber sie kann leider nicht. Die Predigt darf insgesamt nicht mehr als 15 Minuten dauern, sagt ausnahmslos jeder evangelische Pfarrer und Theologe, den man fragt; zehn Minuten würden auch reichen. Dabei ist die Predigt bei der evangelischen Kirche das Herzstück des Gottesdienstes. Und die Katholiken, die man fragt, finden, für die Predigt seien schon acht Minuten eine gute Länge, obwohl die Kommunion an Heiligabend oft wegfällt.
Bloß nicht die Zuhörer überanstrengen! Bloß nicht die ohnehin geringe Aufmerksamkeitsspanne überbeanspruchen! Geht man mal von den empfohlenen acht Minuten Predigt in katholischen Gottesdiensten aus: Die sollen vor allem mit der Verkündung der frohen Botschaft der Geburt Christi und der theologischen Deutung gefüllt werden. Da muss der Pfarrer dem bibelfernen Feiertagspublikum noch mal erklären, was mit dem berühmten Satz des Johannes-Evangeliums gemeint ist: »Das Wort ist Mensch geworden.« Ist das geschafft, kann die Brücke gebaut werden zum Hier und Jetzt. Sofern der Pfarrer schnell ist, bleiben ihm also vier Minuten, um auf die Weltlage einzugehen.
Weihnachten 2015 drängen sich da gleich zwei Themen auf: der weltweite Terror im Namen der Religion und die Frage, ob Deutschland 2016 wieder eine Million Flüchtlinge aufnehmen soll. »Die Bibel ist so voller Fluchtpassagen, da kann man nicht auf nichts kommen«, sagte Kathrin Oxen, Pfarrerin und Leiterin des Zentrums für Predigtkultur in Wittenberg. »Jetzt sind die Verfolgten, über die in der Bibel so oft gesprochen wird, unter uns!«, sagt Pfarrer Rainer Maria Schießler von St. Maximilian, der in München oft als Gegenbeispiel genannt wird, wenn man über schlechte Predigten klagt. Schießler sagt: »Man darf die handgreifliche Not jetzt nur nicht in hehren Worten breittreten.«
Als die Finanzkrise 2008 völlig außer Kontrolle zu geraten schien, kritisierte Bischof Wolfgang Huber in der Weihnachtspredigt, das von der Deutschen Bank vorgegebene Renditeziel von 25 Prozent sei »eine Form von Götzendienst« und »das Geld zum Gott geworden«. Schon im Januar 2009 entschuldigte er sich für seine Kritik bei Josef Ackermann. Da fällt einem die Bibelstelle ein, in der Jesus die Geldwechsler und Händler mit der Peitsche aus dem Tempel vertreibt (Matthäus 21,12ff). Ohne spätere Entschuldigung. Wenn schon ein Bischof seine klaren und endlich mal aneckenden Worte zurücknimmt, traut sich dann ein Pfarrer, seiner sowieso immer kleiner werdenden Gemeinde unbequeme Worte zu sagen? Da wird die Angst vor der Zumutung selbst zur Zumutung: einer mutlosen Predigt.
Mut allein reicht aber auch noch nicht. Acht Stunden dauere die Vorbereitung einer guten Predigt mindestens, heißt es beim Predigtzentrum in Wittenberg, wo gutes Predigen gelehrt werden soll. Wenn man acht Stunden Zeit findet, im mit Terminen übervollen Advent. Pfarrer Schießler von St. Maximilian in München sagt, er gehe über Wochen schwanger mit so einer entscheidenden Rede: »An Heiligabend müssen wir eine Punktlandung hinsetzen, eine Top-Performance, damit die Leute wiederkommen.« Nie ist der Druck höher als an Weihnachten, nie hören mehr Menschen zu, nie ist das Publikum heterogener, von vier bis hundert Jahren, Bibelfeste und Kirchenaustreter, dazu Bekannte und Nachbarn. In dem Ratgeber Vom Text zur Predigt warnt der Autor gleich vor zehn »Problemzonen« der Predigt, darunter: »Fehlerhaftes Deutsch«, »Sterile Schreibe«, »Superlative«, »Schachtelsätze«, »Sprache Kanaans« und »Verwaschene Kernbotschaften«. Priester sollen laut Ratgeber auch Kleidung, Körperhaltung, Mimik und Blickkontakt beachten.
Eine gute Predigt muss gekonnt vorgetragen sein und selbstbewusst, in passenden Metaphern, mit Pausen an den richtigen Stellen und eindringlicher Körpersprache. Das ist nicht jedem Pfarrer gegeben. Wenn so viel schiefgehen kann, ist die Versuchung bestimmt groß, auf Nummer sicher zu gehen. Etwas vage das Böse in der Welt zu verurteilen und zum Guten aufzurufen. Es bei einem netten Abend zu belassen, die Kinderköpfe zu streicheln, allen ein friedliches Fest zu wünschen und an den nächsten Gottesdienst am Weihnachtsmorgen zu denken. Es kann nicht jeder ein Papst Franziskus sein. Ein bisschen mehr Franziskus würde aber so gut tun: Der Papst hat jede Kirchengemeinde aufgerufen, Flüchtlinge aufzunehmen. Er ist jüngst bei seiner Afrikareise durch unsichere Slums gelaufen. In Rom erzählt man sich, dass Franziskus in der Weihnachtsnacht unter einer Brücke mit Obdachlosen zusammengetroffen sei, ohne Aufsehen darum zu machen. Er fährt einen Kleinwagen. Franziskus stößt viele im Vatikan vor den Kopf. Man ist gespannt darauf, was er als Nächstes vorhat.
So sollte eine gute Weihnachtspredigt sein: unerwartet. Irritierend. Herausfordernd. Früher hat der Dorfpfarrer seinen Schäfchen donnernd die Leviten gelesen. Heutige Pfarrer wirken selbst wie Schäfchen. Man möchte ihnen zurufen wie der Engel einst den Schafhirten in jener Nacht vor 2000 Jahren: »Fürchtet euch nicht!«
Foto: Basti Arlt