Mit dem Herzen ankommen

Flüchtlinge in Deutschland brauchen Wohnraum, Kleidung, Lebensmittel. Aber viele von ihnen wollen sich hier auch neu verlieben. Unterwegs mit zwei jungen Syrern, die sich das einfacher vorgestellt haben.

Abed und Diaa waren schon in Damaskus Freunde, nun leben sie in Osnabrück. Beide sind Single. Abed (links) trinkt sein Weißbier nur alkoholfrei, wie an diesem Abend in der »Alten Posthalterei«.

Sie hatte schimmerndes dunkelbraunes Haar, das ihr den Rücken hinab bis unter die Schulterblätter fiel, eine sportliche Figur, einen fordernden Blick, er habe sich sofort in sie verliebt, sagt Diaa. Er war mit seinem Cousin unterwegs, der Geburtstag feierte und die Drinks ausgab. Es war spät, die Tanzfläche voll, in der Hand hielt er einen »Blue Kamikaze«, ein hartes Gemisch aus Wodka, Limettensaft und Blue Curaçao. Das »Barada« war einer ihrer Lieblingsclubs in Damaskus. Diaa lächelte, sie lächelte zurück, also ging er zu ihr hinüber.
Wie geht’s? Gut.
Wie heißt du? Farah.
Wie alt bist du? Neunzehn.

Diaa war damals zwanzig und nervös, das Gespräch dauerte nicht lange. Nach zwei Minuten flüchtete er zurück zu seinem Cousin, dem er stolz berichtete, sie habe ihm ihre Nummer gegeben. Nach drei Tagen schrieb er ihr die erste SMS: Ich vermisse dich. Sie trafen sich in einem Restaurant, Diaa übernahm die Rechnung. Beim vierten Date gab sie ihm den ersten Kuss.

Heute, vier Jahre später, fragt sich Diaa, warum er keinen Erfolg mehr hat bei den Frauen. Was er falsch macht in seinem neuen Leben in diesem neuen Land.

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An einem Freitagabend Anfang Januar 2016 stehen er und sein Freund Abed mal wieder im »Grünen Jäger« und suchen einen Platz. Es ist 22 Uhr, beste Ausgehzeit. Der Raum ist erfüllt von molligem Kneipenlicht, auf schweren Holzbänken sitzen gelöst labernde junge Menschen und prosten sich mit Osnabrücker Pils zu. Aus den Boxen scheppert ein Nirvana-Song, die zwei Kickertische sind eng umringt. Diaas und Abeds Blicke schwirren durch diese Freitagabendgelassenheit, als hätten sie sich verirrt. Alle Plätze belegt. »Scheiße«, sagt Abed. Sein Deutsch ist schon recht flüssig, er könnte jetzt irgendwo fragen, ob sie sich dazuquetschen dürfen, aber dann entdeckt er neben den Kickertischen an der Wand, am äußersten Rand, eine unbesetzte Bierzeltbank. Es dauert zehn Minuten, bis die Kellnerin sie bemerkt.

Was wünschen sich Flüchtlinge, um glücklich zu werden in Deutschland? Eine Wohnung, klar. Arbeit und Sprachkurse und Winterkleidung, klar. Aber gehört zu einem Leben nicht auch die Liebe?

Etwa zwei Drittel der Flüchtlinge, die 2015 einen Asylerstantrag in Deutschland gestellt haben, sind Männer. Bei den 16- bis 35-Jährigen ist dieses Geschlechtermissverhältnis noch stärker ausgeprägt: Drei Viertel sind Männer. Selbst wenn die Hälfte davon bereits verheiratet ist und darauf wartet, die Ehefrau nachzuholen, bleibt festzuhalten, dass es in Deutschland nun Zehntausende zusätzliche Single-Männer gibt, die in einem Alter sind, in dem man sich verliebt, den ersten Sex hat, eine Familie gründet. Männer wie Diaa und Abed. Suchende.

Beide sind 24, beide kommen aus Damaskus, wo sie schon beste Freunde waren. Nun leben sie in Osnabrück. Anders als in einer Metropole wie Berlin oder Hamburg gibt es dort keine arabischen Kieze, in denen Neuankömmlinge leicht Anschluss finden können; Flüchtlinge erleben dort aber auch nicht die Einsamkeit eines deutschen Dorfes. Osnabrück ist eine Mittelstadt, 160 000 Einwohner, davon dreißig Prozent mit Migrationshintergrund, das sind mehr als im Bundesdurchschnitt. Zehn Prozent der Osnabrücker sind Ausländer, darunter 560 Syrer, nach statistisch aktuellstem Stand vom 31. Dezember 2014. Seitdem dürften noch ein paar Hundert hinzu gekommen sein, die Stadt hat bisher 2300 Flüchtlinge aufgenommen.

In Osnabrück regnet es häufiger als im Bundesdurchschnitt, an 198 Tagen im Jahr. Ansonsten haben Diaa und Abed keine schlechte Stadt erwischt. Mehr als 25 000 Studenten sind an den Osnabrücker Hochschulen eingeschrieben und viele mittelständische Unternehmen in der Gegend angesiedelt, Coppenrath & Wiese zum Beispiel, die Sahnetortenbäcker. In der Osnabrücker Altstadt gehören die hübsch renovierten Fachwerkhäuser zu den beliebtesten Fotomotiven. Sogenannte Flüchtlingsgegner haben hier noch keine Straße demonstrierend in Beschlag genommen. Der Kreisverband der AfD wurde auf Facebook nur 497 Mal geliked.

Abed lebt seit 21 Monaten in Osnabrück, Diaa seit 14. Beide wohnen in Ein-Zimmer-Apartments, beide besuchen Sprachkurse. Abed arbeitet bereits: in der Küche des »Kartoffelhauses«, eines urigen deutschen Restaurants in der Altstädter Bierstraße. Sie sind angekommen, jetzt soll es weitergehen. Fast jedes Wochenende warten sie im »Grünen Jäger« darauf, dass etwas passiert, haben sich aber noch nie mit einem anderen Gast unterhalten. Auf ihrer Bank in der hintersten Ecke wirken sie wie Touristen, anwesend, aber nicht dabei. Diaa sagt: »Natürlich fühle ich mich einsam.« Später, nach ein paar Pils, witzelt er: »Ich habe schon so lange keinen Sex mehr, schau dir mal meine Hand an.«

Liebe lässt sich weder spenden noch staatlich fördern. Und seit der Silvesternacht, die Deutschland erschüttert hat, haben Diaa und Abed noch ein anderes Problem: Viele Menschen fragen sich nun, welche Einstellungen zu Liebe, Partnerschaft und Sexualität Flüchtlinge mitbringen und ob diese Einstellungen nicht hochbedenklich und kaum integrierbar sind. In Köln ist der Absatz von Pfefferspray im Januar rasant gestiegen. In Bornheim bei Bonn durften männliche Flüchtlinge nicht mehr das städtische Schwimmbad besuchen, weil Frauen belästigt worden waren. Im grün regierten, liberalen Freiburg entschieden sich mehrere Clubbetreiber, männliche Flüchtlinge nur noch begrenzt oder gar nicht in ihre Diskotheken zu lassen, weil es dort ebenfalls vermehrt zu sexuellen Übergriffen gekommen war. Jungen Arabern wie Diaa und Abed wird nun vielerorts mit Skepsis begegnet statt mit offenen Armen. Manchmal auch mit Angst.

Am nächsten Tag, dem Samstag, sitzen sie auf Diaas blauem Ikea-Sofa in seinem Vierzig-Quadratmeter-Apartment und rätseln über die deutschen Frauen. Diaa hat sich neulich in der Disko getraut, eine anzusprechen. Irgendwann habe sie ihn gefragt, woher er komme. Ihre Reaktion: Was? Syrien? Das tut mir leid. Alles Gute für die Zukunft! »Dann war sie weg«, erzählt Diaa.

Er glaubt, dass deutsche Frauen im Grunde das Gleiche wollen wie Syrerinnen, wenn sie eine Beziehung eingehen: Liebe – und Fürsorge, dass also der Mann sich um sie kümmert. Abed meint, dass viele Frauen hier keine Beziehung suchen, die Männer ebensowenig, weil sie auch als Singles immer Sex haben könnten. Warum sollten sie sich binden? Ihm gehe es anders. »Ich sterbe nicht, wenn ich keinen Sex habe«, sagt er. »Ich will auch keine Freundin, ich will heiraten.«

So gut Diaa und Abed befreundet sind, so unterschiedlich sind sie. Diaa ist kräftig gebaut, er trägt einen buschigen braunen Vollbart und an diesem Tag ein grünkariertes Holzfällerhemd. Die obersten beiden Knöpfe hat er offen gelassen, seine Brusthaare sind dicht wie ein Teppich, sein ganzer Körper wirkt knuffig wie ein Teddybär. Er mag Autos, auf seinem Smartphone hat er ein Foto gespeichert: Ein paar Freunde und er grinsen in Damaskus vor einem weißen BMW, den sie sich geliehen haben. Und er mag Actionfilme wie The Transporter. Alkohol trinkt er, seit er 18 ist. Seine erste Freundin hatte er mit zwanzig. Es war Farah, das Mädchen mit den dunkelbraunen Haaren, drei Jahre waren sie ein Paar. Vor drei Wochen hat er Tinder auf seinem Smartphone installiert.

Abed ist schlank und schwarzhaarig, er hat tiefe, dunkle Augen. Er überlegt länger als Diaa, bevor er eine Antwort gibt. Im »Grünen Jäger« stieß er mit alkoholfreiem Hefeweizen an. Er trinkt nicht und hatte in seinen 24 Lebensjahren weder eine Freundin noch Sex. Als ihn neulich in einer Osnabrücker Disko eine Frau antanzte, wusste er nicht, was er sagen sollte, und sagte einfach nichts, bis sie ging.

Diaa hat auf seinem Laptop Hunderte -Fotos aus Syrien gespeichert. Die meisten seiner Freunde leben jetzt irgendwo in Europa.

Diaa und Abed wurden im Zentrum von Damaskus in derselben Straße groß, im Milieu der gehobenen Mittelschicht. Diaas Vater gehört ein dreistöckiges Kindermodegeschäft in der Damaszener Altstadt, Abeds Vater eine Hühnerzucht mit 30 000 Tieren. Zu Hause guckten Diaa und Abed abends Satellitenfernsehen und spielten »Fifa« auf ihren Playstations. Freitags gingen sie mit ihren Vätern in die Moschee, ihre Mütter tragen Kopftuch, ihre Familien sind sunnitisch. Ihren Eltern war immer wichtig, dass die Söhne studieren. Diaa und Abed haben nie gesehen, wie ihre Eltern sich küssen.

Auf der Schule, die Diaa und Abed als Jugendliche gemeinsam besuchten, waren nur Jungs. So ist es üblich in Syrien, nach der Grundschule werden die Geschlechter getrennt unterrichtet. Wenn sie Schluss hatten, flitzten Diaa und Abed manchmal zur benachbarten Mädchenschule und beobachteten den Eingang von der anderen Straßenseite. Sobald sich Schülerinnen zeigten, pfiffen sie hinüber und riefen Komplimente. Näher kamen sie erst einmal nicht. Abed sagt: »Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich mit Mädchen treffe oder auch nur spreche. Vor der Hochzeit sei das haram, verboten. Sie haben noch den alten Kopf.«

Diaa hat seinen Eltern nie erzählt, dass er eine Freundin hatte und Alkohol trinkt. Wenn Farah und er miteinander schlafen wollten, quartierten sie sich bei Freunden ein, die allein wohnten und in dieser Nacht nicht zu Hause waren. Oder sie fuhren mit dem Auto den Qasyun hoch, den Berg, von dem man Damaskus überblickt. Auf den Parkplätzen, erzählt Diaa, standen abends viele Autos, aus denen niemand ausstieg.

Diaa und Abed haben schon in Syrien bebende Veränderungen miterlebt. Als Baschar al-Assad 2000 seinen Vater beerbte, öffnete er das Land, zumindest wirtschaftlich, bevor er es ins Chaos zog. Satellitenfernsehen, Playstation, Blue Curaçao gab es vorher praktisch nicht. Als Diaa und Abed eingeschult wurden, war Syrien abgekapselt von Westprodukten wie die DDR. Als sie ihr Wirtschaftsstudium begannen, das sie nicht abschließen konnten, hatten sie einen Facebook-Account. Dann brach der Krieg los, dann entschieden sie sich zur Flucht – und wurden wieder in ein anderes Wertesystem geflippert, in dem die Sexualaufklärung oft schon in der Grundschule beginnt.

In seiner offenen Küche prüft Diaa jetzt die Hühnerschenkel, die in einem Topf auf dem Herd in gewürztem Wasser köcheln. Er hebt sie vorsichtig mit einer Gabel heraus und legt sie auf einen Teller. Das Fleisch ist zart, mit den Fingern löst er es von den Knochen. Es ist Abend geworden an diesem Samstag, und Diaa und Abed wollen etwas essen, bevor sie in die Disko gehen. Das gekochte Hühnerfleisch brät Diaa in Butterschmalz an und streut Cashewnüsse darüber. In einem anderen Topf garen Reis und Erbsen. Das Rezept hat ihm seine Mutter am Telefon diktiert, seine Eltern wohnen wie Abeds Eltern noch in Damaskus. Diaa hat vor ein paar Monaten im Asylbewerberheim in Osnabrück zum ersten Mal in seinem Leben gekocht.

»Ich habe 22 Jahre in meiner Kultur gelebt, jetzt brauche ich 22 Jahre, um mich an eure zu gewöhnen«, sagt Abed. In manchen Momenten klingen die beiden aber schon jetzt wie viele deutsche junge Männer. Diaa fände es zum Beispiel »normal«, wenn seine Freundin arbeiten würde, aber er möchte mehr Geld verdienen als sie. Abed kann sich vorstellen, Elternzeit zu nehmen. Beide wünschen sich eine Frau, die sich nicht verhüllt. Beide sagen, dass sie ihren Kindern erlauben würden, vor der Ehe Sex zu haben. Und ja, auch sie guckten Pornos, zum Beispiel die mit Mia Khalifa.

In anderen Momenten wirken sie immer noch wie die Schuljungs, die Mädchen nur aus der Entfernung kannten. Diaa weiß nicht, ob und wie seine Ex-Freundin Farah verhütet hat. Schwanger wurde sie zumindest nicht. Ein Kondom hat er bisher nur einmal benutzt: auf seiner Flucht. Bevor er an der türkischen Küste ins Schlauchboot stieg, hatte er darin sein Geld verstaut, um es vor dem Wasser zu schützen.

In den häufigsten Momenten aber sind sie einfach hin und her gerissen wie blinde Chamäleons, die nicht wissen, welche Farbe sie annehmen sollen. Abed zum Beispiel sagt, ihm sei egal, ob er später eine Syrerin oder eine Deutsche heiratet, eine Syrerin müsste aber als Jungfrau in die Ehe gehen, eine Deutsche nicht. Vor einigen Wochen entdeckte er eine Bekannte aus Damaskus auf Facebook, mit der er als Kind gemeinsam gespielt hat. Das war vor der Pubertät, vor den Jungs- und Mädchenschulen. Er hat ihr auf Facebook geschrieben, weil ihm ihr Foto gefiel; sie lebt noch in Damaskus. Seitdem telefonieren sie mehrmals die Woche, stundenlang, »quatschen einfach«, sagt Abed. »Ich liebe sie noch nicht, aber ich überlege, sie zu fragen, ob sie mich heiratet. Vielleicht kommen dann die Gefühle.«

Und einerseits will er seine Frau selbst wählen, statt verkuppelt zu werden. »Ich mache Sex mit ihr, nicht mein Vater«, sagt er. Andererseits gäbe er seiner Familie, die ihn immer sehr unterstützt hat, gern etwas zurück. Abed ist legal mit einem Visum nach Deutschland gereist, seine Schwester wohnt mit ihrem Mann seit sechs Jahren in Osnabrück, sie haben für Abed bei der Ausländerbehörde gebürgt. Abeds Vater hat ihm das Leben als Student finanziert. Seine Eltern und Geschwister warten ungeduldig auf seine Hochzeit, sagt Abed. Was soll er tun?

Diaa und Abed beten nicht mehr, fasten aber im Ramadan. Noch so ein Ausdruck ihrer Ambivalenz.

Natürlich gibt es auch Momente, in denen die beiden das sagen, was viele fürchten. Was haltet ihr davon, dass in Deutschland ein Mann einen Mann heiraten darf?

»Das ist verrückt«, sagt Abed. »Ekelhaft«, sagt Diaa. In Syrien gebe es kaum Homosexuelle, glauben sie ernsthaft. In seinem Sprachkurs hat Abed einen jungen Griechen kennengelernt, der schwul ist. Einmal erzählte der ihm von seinem Freund, und Abed floh. »Ich hasse dieses Thema«, sagt er.

Abed arbeitet in der Küche des »Kartoffelhauses«. Sein Chef war so zufrieden mit ihm, dass er ihn fest angestellt hat.

In Deutschland wird zurzeit ausgiebig über Obergrenzen diskutiert, über Grenzschutz und wie man Abschiebungen effizienter durchsetzt. Auch vor neuen Parallelgesellschaften wird gewarnt, die wieder von Machos und Babos regiert werden und in denen Frauen sich nicht sicher fühlen können. Aber nur selten wird konkret darüber gesprochen, wie man Werte vermittelt. Durch Kulturunterricht? Kultur-Paten? Broschüren? Werden die denn gelesen? Man kann Menschen ja nicht dazu zwingen, ihre Einstellungen zu ändern und zum Beispiel Homosexualität plötzlich als normal zu empfinden. In Syrien ist Homosexualität per Gesetz verboten.

Michael Niggel arbeitet an dieser schwierigen Aufgabe bereits: dem Vermitteln. Niggel, ein Sozialpädagoge, betreibt Sexualaufklärung für Flüchtlinge. Angestellt ist er bei der Sexualberatung Pro Familia in München. Er erklärt jungen Männern, dass ihre Samenproduktion nicht aufhört, wenn sie onanieren. Dass sie sich nicht beim Küssen mit HIV anstecken können. Dass Babys nicht im Magen wachsen. Der Wissensstand der jungen Männer sei sehr unterschiedlich, sagt Niggel, das habe weniger mit den Herkunftsländern als mit den Eltern zu tun: Ein Arztsohn wisse mehr als ein Hirtensohn.

Viele Männer in seinen Seminaren brächten jedoch den gleichen Irrglauben mit, sagt Niggel: dass es in Deutschland keine Regeln gebe für die Liebe und den Sex. Außer der Biologie diskutiert er mit den Teilnehmern also auch deren Verhalten. Natürlich dürfe man ein Mädchen in der S-Bahn anlächeln, man solle sie aber nicht anstarren oder ihr nachlaufen. Sex sei unter Minderjährigen in Deutschland ab 14 Jahren erlaubt, dass heiße aber nicht, dass jeder und jede mit 14 schon Sex haben wolle, ganz im Gegenteil. Und wer einmal zum Sex eingewilligt habe, könne sich beim nächsten Mal genauso gut dagegen entscheiden.

Es sei eine herausfordernde Arbeit, sagt Niggel, schon wegen der Sprachprobleme, ein Dolmetscher muss in den Seminaren übersetzen. Aber die jungen Männer, die zwischen 15 und 18 Jahre alt sind, seien in den zwei Mal neunzig Minuten sehr aufmerksam.

Pro Familia bietet die Seminare nur für minderjährige Flüchtlinge an, für Männer und Frauen, weil schon in diesem Bereich die Nachfrage größer sei als die Kapazität, sagt Niggel. Andere Organisationen, die Sexualaufklärung betreiben, gibt es kaum. Die meisten Flüchtlingsinitiativen kümmern sich um Rechtsberatung und Sprachkurse. Seit der Silvesternacht denkt wohl nicht mehr nur Michael Niggel, dass es an sexualpädagogischen Angeboten für Flüchtlinge mangelt.

Diaa und Abed nennen die Männer, die in Köln die Frauen belästigt und angegriffen haben, »Arschlöcher«. Seit Silvester sorgen sich die beiden ein wenig, dass die Deutschen nun Schlechtes über sie denken, haben aber noch nichts dergleichen zu spüren bekommen. »Black Champagne« lautet das Partymotto, und damit sich jeder gleich etwas darunter vorstellen kann, räkeln sich im Vorraum zum Club auf einem Kunstledersofa vier als Playboy-Bunnys verkleidete Osnabrücker Schönheiten neben einer mannshohen, mit Luft gefüllten Plastikflasche Moët & Chandon. »Black« bezieht sich auf die Musik, also Hip-Hop und R & B. Diaa und Abed laufen an den Bunnys vorbei die Treppe hinauf zum Dancefloor, die Türsteher haben sie freundlich durchgewinkt, es ist kurz nach Mitternacht, das »Neo«, so heißt diese Disko an einer Osnabrücker Ausfahrtsstraße, füllt sich allmählich. Diaa bestellt ein Bier an der Bar, Abed eine Cola, und die beiden fangen an zu tanzen.

Diaa (links) und Abed gehen gern in die Disko, hier erstmals in den Technoclub »Dr. Vogel«. Die Musik gefällt ihnen dort aber nicht besonders.

Die meisten Frauen um sie herum haben sich in atemberaubend enge Jeans gezwängt, tragen Pumps und viel Make-up. Die Männer sehen aus wie Fußballstars, die gerade vom Friseur gekommen sind. Alle paar Minuten liefert eine Barfrau einen Kübel mit einer Flasche Wodka darin und einer brennenden Wunderkerze über die aufwendig ausgeleuchtete Tanzfläche zu den Smirnoff-Lounges neben dem DJ-Pult, die man vorab reservieren kann. Das Teuerste auf der Getränkekarte ist eine Viereinhalbliterflasche Grey Goose für 549 Euro. Das »Neo« dient auch dem Angeben, nicht nur dem Abgehen. Diaa sagt, es sei ähnlich wie im »Barada« in Damaskus, nur dass die Gäste nicht ganz so ausgelassen tanzten. »Frauen mögen Geld, das ist doch überall auf der Welt so.«

Bei Cheerleader von OMI rüttelt Diaa an seinem Holzfällerhemd, weil es nun wärmer wird. Abed will rauchen. Er raucht viel, eine Packung am Tag. Sex vor der Ehe sei das Schlimmste für seine Eltern, sagte er vorhin in Diaas Wohnung, dann komme Alkohol und erst dann Zigaretten. Die beiden schlängeln sich zum Raucherraum, in dem es gefühlte 15 Grad kälter ist. Abed zieht sein Smartphone aus der Tasche, er will ein Selfie schießen. Eine blonde junge Frau, die ihrem Blick nach ordentlich gebechert hat, drängt sich aufs Bild und verschwindet. »Die meisten Frauen sprechen hier kein Englisch«, sagt Diaa, der passables Englisch spricht, aber nur wenig Deutsch.

Vorhin hatte er in seiner Wohnung einen seiner Tinder-Chats gezeigt, mit einer Frau namens Nina.
Diaa: Hey wie geht es dir? :)
Nina: Hey :) Gut und dir?
Diaa: Gut was machst du?
Nina: Momentan nicht so viel. Und du?
Diaa: Gucke gerade einen Film.

Das Gespräch plätscherte noch eine Weile vor sich hin, bis Nina nicht mehr antwortete. Diaa schrieb die nächste an, bisher wollte sich aber noch keine mit ihm treffen.

Zurück auf der Tanzfläche entdeckt Abed den schwulen Griechen aus seinem Sprachkurs. Hey! – die beiden umarmen sich wie gute Freunde. Der Grieche ist mit ein paar Freundinnen unterwegs. Abed und Diaa schließen sich ihnen an, tanzen als fröhliches Dancefloorgrüppchen. Es wird spät, gegen vier Uhr will Diaa gehen. Abed hat noch nicht genug, es sei doch gerade super hier. Der Grieche tanzt. Dessen Freundinnen tanzen. Abed überlegt zu bleiben, bringt Diaa zur Garderobe, verabschiedet sich: »Bis morgen!« – und geht dann doch nach Hause.

Fotos: Axel Martens