Meer vom Leben

Zwölf alte Frauen in einem italienischen Dorf hängen einem Traum nach: Einmal das Meer sehen, bevor es zu spät ist. Doch ihr Dorf hat was dagegen.

Wenn Erminia Losa vom Meer erzählt, sind sie alle still. Wie wunderbar das klingt. Sie selbst können es sich nur vorstellen; dieses helle, grünliche Blau am Morgen, wenn die Sonne gerade aufgegangen ist. Das schwarze Meer bei Nacht, das man nur hört und riecht. Dieses besondere Gefühl im Salzwasser, wenn der Körper ganz leicht wird, die verklebten Haare danach, den Geruch des Salzes, das auf der Haut trocknet. Dieses Bitzeln im Gehirn, wenn man in kaltem Wasser ganz untertaucht. Dieses Glück, in die Wellen zu rennen und einfach ins Wasser zu kippen.

Es ist schon Jahrzehnte her, dass Erminia Losa da war. Damals, 1965, war sie Kindermädchen in Rom, und einmal ließen ihre Arbeitgeber sie nach Ostia ans Meer reisen, für einen Tag. Aber sie war da, und damit weiß sie weit mehr über das Meer als alle anderen hier.

Es war ein Tag Anfang 2014, zwölf Frauen saßen zusammen in einem kargen Raum mit großen Holztischen. Die Jüngste von ihnen ist 70, die Älteste 86. Ein reiches Leben haben sie alle gelebt. Nur eines fehlt: Einmal am Meer stehen. Einmal aufs Meer sehen, einmal ins Meer gehen.

Meistgelesen diese Woche:

Schwer und unsichtbar hing dieser Wunsch im Raum, seit vielen Jahren. Wie zum Hohn prangt an der Wand dieses Bild vom vergletscherten Gipfel des Carè Alto. Desselben Berges, der sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Den sie schon als Kinder jeden Tag sahen, wenn sie auf den Feldern Heu machten.

Ihr Dorf Daone liegt in den italienischen Alpen, auf etwa 770 Metern. Nur zwei kurvige Straßen führen in das Dorf. Und sie führen auch hinaus. Es ist nicht weit bis zum Meer. Würden die alten Damen sich in ein Auto setzen und hinunterfahren nach Tione, und würden sie dort nicht anhalten und die Großeinkäufe erledigen, wie sonst immer, sondern weiter auf die A22 fahren und dann auf die A4, dann wären sie nach gut drei Stunden in Jesolo, an der Adriaküste, am Meer.

Keine von ihnen hat das je gemacht. Irgendwas war immer. Wenn Valeria Cadona die Jahrzehnte durchgeht, spricht sie, als läse sie einen Einkaufszettel vor: In den Dreißigerjahren war sie ein Baby, in den Vierzigern war Weltkrieg, in den Fünfzigern kamen die ersten Kinder, in den Sechzigern noch mehr, fünf Kinder in 14 Jahren. Als Valeria Cadona nicht mehr stillte und wickelte, war schon 1970, als sie wirklich keinem Kind mehr hinterherräumen musste, war 1980. Ihr Mann und sie kauften eine Pension. Noch so ein Baby, das viel Arbeit machte. Und dann bekamen ihre Kinder die ersten Kinder.

Valeria ist eine kleine Frau, die grauen Haare braun gefärbt und stets ordentlich frisiert, steht sie heute noch immer in der Pension und knetet Nudelteig. Wer mit ihr reden will, muss dorthin kommen, in die schmale Küche ihrer Pension, an den Stahltisch, an dem sie arbeitet. Ihre Augen, die hinter einer kantigen Brille liegen, richten sich auf den Teig, sie arbeitet Salz ein, sie prüft die Festigkeit. Dann nimmt sie das Gespräch wieder auf: »Ja, das mit dem Meer …«, sagt sie. »Es war einfach zu viel los.« Ein ganzes Leben eben. Eines der Kinder ging schon wieder. Vor drei Jahren bekam ihre Tochter Krebs und starb. Keine Muße, es sich gut gehen zu lassen. In all den Jahren, in denen Valeria nicht fuhr, ist die Strecke zum Meer immer länger geworden.

Erminia Losa kennt all diese Geschichten. Das Dorf ist ja voll von Frauen, die sie erzählen. Ein Leben mit Arbeit, ein Leben ohne Meer. Erminia ist Anfang 70, ihre Haare sind toupiert, ihre Nägel knallrot. Sie geht die Dinge etwas anders an. Forscher. In der Dorfbar, wo die Männer zusammensitzen, Karten spielen und Grappa trinken, heißt sie il vulcano, der Vulkan. Sie war es, die an jenem Tag Anfang 2014 in jenem kargen Raum aus dem Klagen darüber, dass es nie für einen Urlaub am Meer gereicht hat, die Frage machte: Warum nicht jetzt? Warum nicht einen Bus mieten und hinfahren, sie alle zusammen? Jetzt, wo viele verwitwet sind und sich nicht mehr um ihre Ehemänner kümmern müssen. Und wer weiß, wie es ihnen selbst ergeht? Irgendwann könnte es zu spät dafür sein, einmal am Meer einzuschlafen und das Rauschen zu hören, aufzuwachen und die Gischt zu riechen, mit den Füßen zu patschen und vor den anschwappenden Wellen davonzulaufen – so schnell es halt noch geht. Die elf anderen Frauen sagten Ja zu ihrer Idee und schlugen ein.

Um Geld zu sammeln, verkaufen die Feuerwehrmänner aus dem Dorf jedes Jahr einen Kalender mit Fotos von sich. Warum nicht auch sie? Zwölf Frauen, zwölf Monate, jede posiert für ein Kalenderblatt. Angezogen natürlich. Heute hängt einer der Kalender in Valeria Cadonas Pension. Sie ist der Mai. Ihre Freundin Valentina Nicolini, 84, früher Landwirtin, heute Uroma, ist der September. Etwas ungelenk stehen sie da. Man sieht ihnen an, dass sie sich unsicher fühlen. Eine alte Frau, ein altes Gesicht, ein alter Körper. Muss das sein?

Was bei den Feuerwehrmännern funktioniert, ist bei ihnen nicht aufgegangen. Für ihre Dorfgemeinschaft sind sie keine Helden, sie löschen keine Feuer, sie fahren keine großen Autos, machen keinen Krach. Sie sind einfach alte Frauen, die ihr Leben lang geputzt, gekocht, Kinder geboren haben. Wer hat die schon als Vorbild? Sie verkauften keine hundert Stück. Und in der Dorfkneipe wurde gelästert: Wer will sich denn alte Frauen anschauen? Und überhaupt: Wieso müssen die jetzt unbedingt noch ans Meer? Da hätten Valeria, Erminia und die anderen ahnen können, dass es nicht gut ausgehen würde. Dabei bekamen sie das nötige Geld plötzlich sehr schnell zusammen. Über das Internet. Der Enkel von Erminia hatte Geld von fremden Leuten gesammelt. 146 Menschen sicherten sich für je fünf Euro eine Postkarte vom Meer, elf kauften den Kalender der Frauen, und acht buchten für 100 Euro einen Kochkurs bei den Frauen. Insgesamt spendeten mehr als 300 Unbekannte Geld. In einer Woche kamen mehr als 6000 Euro zusammen.

Und noch etwas passierte: Die Omas wurden ins Fernsehen eingeladen. Sie wurden gefragt, warum sie ans Meer wollen. Und wer sie sind. Und was sie denken. Und wie sie in ihrem Sechshundertseelendorf darauf kamen, die Welt um Hilfe zu bitten, um ihre Träume zu verwirklichen. So etwas Archaisches klingt paradox: Dass per Crowdfunding Geld gesammelt wird, um eine Software zu entwickeln, Hightechkleidung zu produzieren oder eine unabhängige Konsole zu erfinden, das kennen die Leute ja. Aber alte Frauen, die einmal das Meer sehen wollen? Das Ganze klingt wie eine italienische Komödie. Die Zuschauer sind gerührt. Aber nur außerhalb des Dorfes.

Im Dorf selbst gab es Ärger. In dieser Generation fährt man nicht weg. So denken viele der Älteren in Daone. Auch die- jenigen, die es sich hätten leisten können, blieben ihr Leben lang zu Hause. Auch wegen des Geredes. Und diese Frauen mit ihren unangemessenen Wünschen werden nun auch noch dafür gefeiert! Was jeder Teenager heute als Traum artikulieren kann, ist in der Generation der Omas ungebührlich. Da kennt jemand seinen Platz nicht, heißt es dann. Wer träumt, macht sich lächerlich.

Ein sonniger Sonntag im Sommer 2015. Es ist der Tag der Abfahrt. Hastig überquert Erminia den Dorfplatz. Sie war noch schnell beim Friseur und hat sich die Haare nachfärben lassen für die Reise. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier los ist. Wenn wir uns im Dorf bewegen, werden wir gefragt, ob wir jetzt wirklich fahren wollen und was wir uns davon versprechen«, schimpft sie. Der Vulkan steht kurz vor der Eruption. Sie ist sauer, aber sie ist auch stur. Es wird heute ein Bus aufbrechen, sich die kleine Bergstraße hinunterschlängeln, links abbiegen auf die A22 und zum Meer fahren. Es ist allerdings nicht die ursprüngliche Gruppe, es sitzen auch jüngere Frauen darin, aus anderen Dörfern, und sie kennen das Meer bereits. Aber wo man das Geld schon mal hatte, sollte auch jemand davon profitieren. Und Erminia Losa fährt auch mit, egal, was geredet wird. Sie zieht das durch. Nur die anderen, ihre Freundinnen aus dem Seniorenclub mit dem Bild des verschneiten Berggipfels an der Wand, die fahren nicht. Valeria Cadona nicht, der Mai, ihre Freundin Valentina Nicolini, der September, auch nicht. Der Februar: bleibt. März: bleibt. April: bleibt. Mai: bleibt. Monat für Monat platzen die Träume. Kein Meer, wohl nie mehr.

Die Pensionswirtin Valeria steht am Tag der Abfahrt, wie an jedem anderen Tag, mit weißer Schürze in der Küche und erzählt von ihrem Mann. Er sei von einem Baum gefallen und brauche nun ihre Pflege. Vor allem aber: »Wie hätte ich abfahren können, mit dem Hotel, mitten in der Hochsaison?« Ihre Freundin Valentina sagt, sie hätte eh zu viel Angst gehabt, es sei nicht schlimm, dass es jetzt nichts wird. Außerdem sehe sie ja schon nicht mehr so gut, es hätte sich also gar nicht gelohnt. Beide haben sie diesen unsicheren Blick: Muss ja vielleicht wirklich nicht sein, dass sie noch das Meer sehen, in ihrem Alter. Oder?