So schön, wie es früher nie war

Diese Seite ist das Gegenteil der Charts: Unser Autor hat eine Seite entdeckt, die wie eine Musikzeitmaschine funktioniert – mit einem entscheidenden Vorteil: Sie ist in den richtigen Momenten unkontrollierbar.

Nein, kein Lied heute. Sondern: viele Lieder. Genauer gesagt, eine Website, die hunderte, tausende von Hits versammelt. Das System von radiooooo.com ist ganz simpel: Man wählt erst ein Jahrzehnt, dann klickt man auf einer Weltkarte die Gegend an, deren Musik aus dieser Zeit man hören möchte, außerdem kann man noch wählen zwischen slow, fast und weird, also langsam, schnell und eigenartig.

Drei Klicks, und die Zeitreise beginnt. Russischer BigBand-Swing der 40er Jahre? Kein Problem. Südafrikanischer Gitarrenbeat der 60er? Hier entlang. Chilenischer Progrock der 70er Jahre? Gern, einfach mit der Maus da links runter. Hat man sich für eine Kombination entschieden, kann man die Musik laufen lassen, es folgt Lied auf Lied, es ist, als laufe ein Radio aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit.

Erfunden hat die Seite ein Franzose namens Benjamin Moreau. Er kam auf die Idee, als sein Vater ihn in einem Oldtimer mitnahm. »Ich saß da drin, strich mit der Hand über das Bakelit-Lenkrad, über das wunderbare alte Autoradio, ich schaltete es ein – und es lief Techno. Ein herber Kontrast zum Charme des Autos, das bis zu dem Moment wie eine Zeitblase für mich war. Da wusste ich: Ich muss eine Musikzeitmaschine bauen.«

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Moreau stellte mit Freunden die Musik zusammen und fordert direkt auf der Seite auch jeden Besucher dazu auf, die Sammlung durch eigene Fundstücke zu erweitern. Seitdem wächst und wächst sie, deckt immer mehr Länder und immer mehr Jahrzehnte ab und wird langsam zu so etwas wie einem musikalischen Weltgedächtnis.

Aber was der Erfinder Moreau da geschaffen hat, ist nicht etwa nur eine Datenbank mit Hits der Weltgeschichte, das Besondere ist, dass man als Hörer zwar Vorgaben einstellen kann, ab da aber immer mit Überraschungen versorgt wird. Man bestimmt Reiseziel und -zeit, was genau einen dann erwartet, kann man nicht bestimmen. Moreau sagt, »mich fasziniert das Medium Radio, weil es eigentlich völlig veraltet ist. In einer interaktiven Welt, in der es nur um Effizienz geht, ist es das Gegenteil des Internets: Du hast keine Wahl, kannst nichts recherchieren, es wird dir etwas vorgesetzt.« Und das ist nicht etwa eine Einschränkung, sondern ein Gewinn. Wer sich auf radiooooo.com verliert (und bitte: Man verliert sich da extrem schnell), lernt, sich einfach treiben zu lassen. Das ist eine Freiheit, auf die man sich erst mal wieder einlassen muss.

Drei besonders schöne Stücke, gerade beim Schreiben dieses Texts auf radiooooo.com entdeckt:

  • Magnus Uggla, »Sommertid«, ein lässig verkiffter Falco-Vorläufer aus dem Schweden der 70er Jahre. 
  • Natasza Zylska mit dem betörenden Song »Kasztany« (Polen, 1956), klingt wie ein Jacques-Tati-Film mit harten Konsonanten. 
  • »Take Me Back To Cairo«, ein souveräner 60s-Schüttler des Sängers Karim Shukry aus Ägypten.

Erinnert an Zeiten, die man selbst gar nicht erlebt hat.
Wer mag das? Jeder, der sich ein bisschen für die weite, weite Welt da draußen interessiert.
Was der Website gut tun würde Noch mehr Songs! Noch mehr Beteiligung! Hurra!

Foto: luxuz::. / photocase.de