Kinder am Abzug

In Amerika werden mehr Menschen von Kleinkindern erschossen als von Terroristen. Die Waffenlobby zieht daraus erste Konsequenzen, aber nicht die, die der gesunde Menschenverstand für sinnvoll hält. Ein Gruselmärchen.

Dass Kleinkinder mit scharfen Waffen herumballern, geschieht in den USA im Duchschnitt zwei Mal pro Woche.

Es war einmal ein kleines Mädchen in Detroit, das mit seinem kleinen Bruder und dem drei Jahre alten Nachbarsmädchen im Haus seiner Großmutter spielte. Dabei fand es unter Omas Kopfkissen eine Pistole, entsicherte die Waffe und schoss sich in den Hals. Bis der Notarzt kam, war die Kleine schon verblutet.

Holston Cole wollte ein Superheld werden, wenn er groß ist. Als er im Rucksack seines Vaters in Dallas, Georgia, eine Pistole fand, spielte er damit herum und erschoss sich.

Der Sohn von Patrice Price in Milwaukee griff nach der Waffe, die unter dem Autositz hervorrutschte und schoss damit seiner Mutter in den Rücken. Sie schaffte es noch, den Wagen zum Stehen zu bringen, aber überlebte nicht.

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Das Mädchen in Detroit war fünf Jahre alt, Holston drei, der Sohn von Patrice Price zwei. Und sie sind keine tragischen Einzelfälle. So sieht eine typische Woche in Amerika aus. Dass Kleinkinder zur Waffe greifen, passiert in Amerika im Durchschnitt zwei Mal pro Woche. Die Bürgerinitiative Everytown for Gun Safety zählt bisher 87 Schussverletzungen durch Kinder allein in diesem Jahr. Im letzten Jahr wurden fast 300 Amerikaner von Kindern und Jugendlichen angeschossen, 30 Amerikaner starben 2015 durch die Schüsse von Kleinkindern unter fünf Jahren. Es werden inzwischen mehr Amerikaner von Kleinkindern erschossen als von Terroristen.

Die meisten »Unfälle« dieser Art passieren, weil Familienmitglieder ihre Waffen geladen und griffbereit in der Nähe haben wollen. Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Haushalte haben Waffen im Haus, und deshalb haben amerikanische Kinder ein 16 Mal größeres Risiko, erschossen zu werden als deutsche. Deshalb sprechen die Waffengegner auch nicht von »Unfällen«, sondern von krimineller Fahrlässigkeit. Diese Woche wurde ein Großvater in Arizona zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil er seine Enkelin nach einer Autopanne vier Stunden lang allein am Straßenrand zurück gelassen hatte. Zur Sicherheit drückte er der Fünfjährigen einen geladenen, entsicherten 45er-Colt in die Hand, damit sie sich gegen »böse Jungs« wehren konnte.

Nun liegt die Lösung natürlich auf der Hand: Wenn Waffen im Haus sind, dann müssen sie gesichert und weggeschlossen werden. Nur in 27 Bundesstaaten gibt es solche Vorschriften, und selbst da werden sie so lax gehandhabt, dass dort die Unfälle kaum signifikant weniger sind. Aber die Waffenlobby hält sogar solche Vorschriften für kontraproduktiv. Denn dann wären die Gewehre im Notfall nicht griffbereit und außerdem würden solche Regelungen gegen das in der Verfassung verankerte Recht verstoßen, Waffen zu tragen.

»Das ist natürlich eine Tragödie, aber es ist nichts, was oft vorkommt,« sagt etwa Larry Pratt, der Sprecher von Gun Owners of America, über die Kinderschützen. »Gesetze aufgrund von gelegentlichen Unfällen zu ändern wäre ein schwerer Fehler.«

So lange sich die Waffennarren nicht auf ein Mindestmaß an Sicherheit einigen können, scheint mir die einzige Alternative, alle Kleinkinder unter fünf Jahren dauerhaft wegzusperren. Damit Sie nicht denken, Kleinkinder seien die einzigen Verbrecher: In den letzten Jahren wurden auch zehn Amerikaner von ihren Hunden erschossen, und einer von seiner Katze.

Die Waffenlobby hat aus den Kinderschüssen ganz andere Lehren gezogen: Kinder müssten schon früh lernen, mit Waffen umzugehen, damit sie eben nicht versehentlich schießen. Deshalb bieten Hersteller unter dem Motto »mein erstes Gewehr« mit einer lustigen Komikfigur spezielle Kinderwaffen aus leichtem Plastik an, damit sie leichter zu handhaben sind, für Mädchen in rosa oder psychedelischem Blau, für Jungs in frischem Pfadfindergrün oder Tarnfarben, geeignet ab fünf Jahren. Gerade im Südwesten der USA ist es völlig normal, dass die Kinder schon mit auf die Jagd gehen.

Um die Kleinen spielerisch an die Waffen heranzuführen, hat eine Autorin der National Rifle Association (NRA) sogar klassische Märchen wie Rotkäppchen und Hänsel & Gretel umgeschrieben.

»Wird Ihnen bei diesen grimmigen Märchen nicht auch ein bisschen mulmig?« fragt die Autorin, die auf Literatur aus dem 18. Jahrhundert spezialisiert ist. »Haben Sie sich jemals gefragt, wie diese Märchen wohl ausgehen würden, wenn das arglose Rotkäppchen gelernt hätte, mit Waffen umzugehen?«

Sie erzählt es uns: Als Rotkäppchen im Wald auf den Wolf trifft, trägt sie natürlich ihr Gewehr über der Schulter, und als der Wolf sie nicht in Ruhe lässt, legt sie es auf ihn an, damit er wegrennt. »Ach, wie der Wolf es hasste, wenn Familien gelernt haben, sich zu verteidigen!«

Und so lebten Rotkäppchen und ihre Oma glücklich bis an ihr Lebensende.

Aber nur, wenn sie nicht von Rotkäppchens kleiner Schwester mit dem rosa Kindergewehr erschossen werden.

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