»Wenn dir etwas auffällt, sprich darüber«

Jedes EM-Spiel und jedes Public Viewing ist auch: eine Großversammlung von Smartphone-Besitzern. Für die Sicherheit der Zuschauer ist das ein Segen, sagt der Technologie-Experte Marc Goodman – und Fluch zugleich.

Marc Goodman ist Spezialist für die Auswirkungen von neuen Technologien auf die globale Sicherheit. Mit seinem Wissen über Cyberkriminalität, Online-Terrorismus und Informationskriege unterstützt er Organisationen wie Interpol, die Vereinten Nationen und die Nato.

SZ-Magazin: Herr Goodman, was kann unsere hohe Aktivität in den sozialen Medien bei Großevents anrichten?
Marc Goodman: Ein Ereignis, bei dem es auf jeden Fall Wechselwirkungen gegeben hat, ist der Boston-Marathon im April 2013. Dort wurden wahnsinnig viele Informationen in Echtzeit über Twitter verbreitet. Die Zuschauer dokumentierten einfach alles in Wort und Bild. Besonders dann, als es zum Terroranschlag kam.

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Und was waren die Folgen?
Die Social-Media-Nutzer spielten den Terroristen unwissentlich in die Hände. Ihre Fotos zeigten, wo sich die Sondertruppen der Polizei positioniert hatten. Geheim zu haltende Strategien wurden damit durchkreuzt. Die Lage wurde letztendlich so heikel, dass die Bostoner Polizei einen Online-Aufruf mit der Bitte startete, nicht mehr zu twittern.

Ist die Schwarmintelligenz einer Menschenmasse denn nicht auch wichtig für die Veranstalter?
Natürlich sind Informationen aus den sozialen Medien ein entscheidendes Rüstzeug von Sicherheitsfirmen. Bei Großveranstaltungen wie der Olympiade in Rio, der Fußball-EM oder dem amerikanischen Super Bowl können sie auf diesem Weg im Blick behalten, worüber sich die Netzgemeinde austauscht – und ob es Hinweise auf eine mögliche Bedrohung gibt. Bei den Anschlägen von Paris im vergangenen November haben wir festgestellt, dass die Menschen vor Ort sehr schnell Anzeichen bemerkt haben, dass etwas Schlimmes geschieht. Und das haben sie dann auch über die sozialen Kanäle nach draußen transportiert.

Auch der moderne Terrorist weiß diese Quelle zu nutzen. Wie reagieren soziale Plattformen darauf?
Die haben schwer mit terroristischen Nutzern zu kämpfen. Alleine Twitter hat kürzlich 125.000 Profile gelöscht, hinter denen sie den selbst ernannten Islamischen Staat vermuteten. Aber neben Twitter gibt es ja noch so viele andere Plattformen. Bei den Anschlägen in Mumbai Ende 2008 haben die Terroristen das Internet so gezielt wie noch bei keinem anderen Anschlag in der Geschichte genutzt, um noch mehr Menschen töten zu können.

Wie haben sie das gemacht?
Im Vorfeld haben sie mithilfe von Google Earth herausbekommen, welche Eingänge und Fluchtwege es gibt und wo Sicherheitspersonal aufgestellt ist. Während des Anschlags blieben sie über BlackBerrys und Satellitentelefone mit ihrer Zentrale in Pakistan verbunden. Dort wurden Live-Berichte aus dem Fernsehen und Internet, unter anderem von Twitter, ausgewertet, um ihnen taktische Hinweise geben zu können. Das ist der Grund, warum es drei Tage gedauert hat, bis die Terroristen außer Gefecht gesetzt werden konnten.

Wäre es also eine Überlegung wert, im akuten Krisenfall die Internetverbindung zeitweise stillzulegen?
So einfach ist es leider nicht, denn die sozialen Medien sind die neuen Medien. Wenn etwas passiert, ist die erste Reaktion der Menschen schon lange nicht mehr, den Fernseher einzuschalten. Besonders die Jüngeren sehen sofort auf Facebook, Twitter, Instagram, Pinterest oder Snapchat nach. Dort bekommen sie ihre Nachrichten geliefert. Und viele davon können sogar Leben retten.

Weil Ersthelfer sofort erfahren, wo sie gebraucht werden.
Nach dem Erdbeben in Haiti wurden auf diese Weise viele verschüttete Menschen gerettet. Sie hatten auf Facebook oder Twitter gepostet, wo sie sich befanden und welche Verletzungen sie sich zugezogen hatten. Und auch von den Terroranschlägen in Mumbai sind uns Geschichten mit gutem Ausgang bekannt, die ohne das Smartphone nicht möglich gewesen wären.

Zum Beispiel?
Ein Mann hatte sich in seinem Hotelzimmer eingeschlossen und kontaktierte seine Mutter. Er sagte ihr, dass er in seinem Zimmer gefangen sei und nicht wisse, wie er da rauskommen solle. Seine Mutter reagierte geistesgegenwärtig, ging auf die Internetseite des Hotels und lud dort für ihren Sohn ein PDF mit dem Lageplan des Hotels herunter. Mithilfe dieser Karte gelang es ihm zu fliehen. Hätte man das Internet oder Telefonnetz abgestellt, dann hätten auch Betroffene wie er keinen Zugang mehr zu Informationen gehabt.

Was raten Sie den Millionen Menschen, die in den kommenden vier Wochen EM-Spiele und Public Viewing-Veranstaltungen besuchen möchten?
Ich rate ihnen, unbedingt hinzugehen, die Spiele zu genießen und die Meister gebührend zu feiern. Darauf müssen wir uns konzentrieren, denn genau das versuchen uns die Terroristen kaputt zu machen. Sie wollen unsere Freiheit einschränken, unseren Lebensstil durcheinanderbringen, das System erschüttern. Ihr Ziel ist es, dass wir uns Sorgen machen. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Wir müssen zurückschlagen, indem wir Spaß haben und feiern.

Haben Sie noch einen praktischen Tipp, wie sich die Besucher sicherer fühlen können?
Geben Sie Ihrer Familie oder Ihren Freunden Bescheid, wo Sie unterwegs sind. Haben Sie immer Ihr Handy dabei und seien Sie wachsam, was um Sie herum passiert. Bei uns sagt man: Wenn Dir etwas auffällt, dann sprich darüber! Außerdem schadet es nicht, sich einen Moment lang zu überlegen, wie man im Notfall am schnellsten entkommen kann, wo sich die Ausgänge eines Stadions befinden oder welche Wege es aus engen Räumen heraus gibt. Haben Sie einen Exit-Plan im Kopf. Und dann konzentrieren Sie sich auf das Vergnügen!

Für alle EM-Besucher empfiehlt Marc Goodman den kostenlosen Download einer Terroralarm-App der französischen Regierung – für iOS und Android. Wie die App funktioniert, lesen Sie hier.

Credit: Gettyimages / Pedro Ugarte