Man muss schon was vertragen können auf einer Tagung von Menschenrechtsaktivisten: das Video einer Exekution in Rakka etwa oder den Bericht eines Arztes über die Vergewaltigung eines sechs Monate alten Säuglings im Kongo. Ein Russe humpelt am Stock auf die Bühne des Theaters und trägt vor, warum ihn Putins Geheimdienst vergiften wollte. Die Frauenrechtlerin aus Uganda erzählt bei einer Zigarette auf der Straße freudig von ihrem Muskelkater - zuhause wagt sie sich selbst mit Bodyguard nicht vor die Tür, in Norwegen ist sie den ganzen Tag erst mal ziellos herumgerannt.
Das Oslo Freedom Forum ist für Menschenrechte das, was Davos für die Wirtschaft bedeutet. 243 Demonstrationen fanden letztes Jahr vor dem Parlament in Oslo statt, die Stadt sieht sich in der Pflicht für Meinungsfreiheit und spendiert der Tagung die Hotelzimmer; Sponsoren aus dem Silicon Valley bezahlen Buffet, Wein und einen Comedian, der sich abends über die Weltverbesserer lustig macht. 75 Aktivisten aus 44 Ländern tauschen wie jedes Jahr originelle Protestideen aus, testen eine spezielle Demonstranten-App, die bei Verhaftung Rechtsanwalt, Familie und Mitstreiter alarmiert - und sie hören drei Tage lang zwei Dutzend Vorträge über vergessene Kriege wie den in der Westsahara oder verschleppte Demonstranten in Laos und China. Die härtesten Geschichten erzählen stets die Nordkoreaner: Zum Beispiel der verkrüppelte Mann, der ohne linkes Bein und linken Arm 600 Kilometer über zwei Grenzen gerobbt ist und jetzt mit einer Prothese die Treppe hoch ins Foyer hüpft, weil er sich mit seiner Gummihand nicht am linksläufigen Geländer festhalten kann.
Zwischendrin steht Omar Sharif Junior: Ein auffällig gut aussehender Mann Anfang dreißig mit den Augen und dem markanten, frisch rasierten Kinn seines berühmten, gleichnamigen Großvaters. Er trägt knöchelhohe Schnürstiefel zu schwarzer Jeans und ein gebügeltes T-Shirt unter einer Designer-Wolljacke; er ist so gut durchtrainiert, dass er mal für Unterhosen von Calvin Klein modeln konnte - »Die Fotos stehen noch auf der Homepage. Aber meine Mutter meint, ich sähe gesünder aus, seit ich wieder Kohlenhydrate esse«, sagt er kokett.
Omar Sharif Junior dürfte derjenige im Saal sein, der auf den wenigsten Demonstrationen war. Auf ihn wurde auch noch kein Mordanschlag verübt, er wurde nicht gefoltert, saß nicht einmal im Gefängnis. Ein paar Todesdrohungen auf Facebook hat er erhalten, das ja, und er lebt im Exil. Als man ihm vor vier Jahren seinen ägyptischen Pass entzogen hat, bekam er Depressionen und hat sich ein halbes Jahr in Toronto versteckt. Aber niemand verfolgt ihn. Omar Sharif ist bloß schwul und darf nicht wieder nach Hause nach Ägypten. Auf der Tagung fühlt er sich selbst deplatziert: »Die anderen Redner sind echte Helden, ich bin doch uninteressant, nur ein Unterhosenmodel und der Enkel von irgendjemanden. Aktivist bin ich nur aus Zufall geworden.«
Eine Allergie hat dem Zufalls-Aktivisten zugesetzt. Am Abend zuvor war er in einem norwegischen Restaurant essen, hat den Kellner wie immer vorab informiert: keine Schalentiere, Lachs ist okay. In der Salatsauce muss wohl ein Rest Jakobsmuschel gewesen sein. Die Nacht hat er mit Atemnot im Krankenhaus verbracht. Er wollte das kurze Live-Interview im norwegischen Frühstücksfernsehen absagen, aber als er morgens um fünf gerade ins Hotel zurückgekehrt war, da wartete schon der Aufnahmeleiter. Omar Sharif ist dann doch zäher, als er aussieht.
Thor Halvorssen hat ihn nach Oslo eingeladen. Der Präsident und Gründer der HRF, der Human Rights Foundation, macht aus seiner eigenen Homosexualität keinen Hehl, Omar Sharifs Coming-out hält er dagegen für bemerkenswert. Halvorssen ist Anfang vierzig, lebt in New York, arbeitet in Hollywood als Filmproduzent und ist in Venezuela aufgewachsen. Sein Großvater war aus Norwegen eingewandert, sein Vater war Diplomat und untersuchte Drogengeschäfte im Land, saß im Gefängnis, wurde gefoltert, Monate später erst rehabilitiert. Halvorssens Mutter stammt von Simon Bolivar ab, Venezuelas erstem Präsidenten. 2004 wurde sie bei einer Demonstration gegen Hugo Chavez angeschossen, der vermeintliche Auftragstäter schon nach sechs Monaten Haft entlassen.
Lateinamerika ist heute noch ein Schwerpunkt in der Arbeit des HRF. Fünf Millionen Dollar Spendengelder sammeln die gemeinnützige Vereinigung mit Sitz in New York jedes Jahr. Das ist vergleichsweise wenig, aber schon mit 5000 Dollar lässt sich ein Frauenhaus für zwangsverheiratete Teenager in Nepal ein Jahr lang finanzieren. Vaclav Havel war bei der HRF-Gründung 2009 Ehrenvorsitzender, nach dessen Tod hat Garry Kasparow den Repräsentationsjob übernommen. Der frühere Schachweltmeister schüttelt in Oslo Hände, während sein Blick unmerklich Namensschilder abliest.
Omar Sharif spricht noch mehr Sprachen als Kasparow - Englisch, Arabisch, Französisch, Hebräisch -, aber sein Blick ist ungeübt. Er rennt auch nicht im Foyer herum und verteilt Visitenkarten. Das Networken ist nicht seine Sache und er weiß nicht, wie er prüfen könnte, ob sein Handy abgehört wird. Er ist alles andere als ein geborener Aktivist. Halvorssen hat Sharif dennoch gebeten, seine Geschichte zu erzählen. Ein kleiner Vortrag, nicht länger als zehn Minuten.
Omar Sharif ist schüchtern. Die Rede am nächsten Tag im vollen Theater macht ihn nervös und ängstlich - »nervös vor dem Vortrag und ängstlich vor der Reaktion.« Dabei hat er sogar schon einmal bei der UN vor 300 Leuten gesprochen. »Aber es ist immer wieder so, als ob ich mich das erste Mal outen würde.« Regelrechte Angst hat Omar Sharif vor den Wörtern. Dass sie sich wieder gegen ihn wenden könnten. Wie beim ersten Mal.
Jede Geschichte ist wichtig und wert, gehört zu werden, hat Garri Kasparow bei seiner Eröffnungsrede gesagt. Jede Geschichte ist auch gefährlich, hat Omar Sharif erfahren müssen. »Man öffnet eine Tür und lädt die Leute förmlich ein, sein Privatleben zu kommentieren. Deswegen gebe ich eigentlich keine Interviews. Keine, in denen ich über mich selbst rede. Jetzt bin ich auch nervös.«
Omar Sharif Junior wird am 28. November 1983 als Kind eines moslemischen Vaters und einer jüdischen Mutter geboren. Tarek, Omars Vater, hatte seinen Großvater bei Dreharbeiten in Montreal besucht und dabei Debbie kennengelernt. Sie heiraten, ziehen nach Paris und nennen ihr Baby nach dem Großvater, der das für eine alberne Idee hält - »der arme Junge«. Aber Omar Junior liebt seinen Namen, hat ihn immer geliebt: »Die Rollen meines Großvaters besaßen immer auch eine politische Botschaft: Ibrahim, der moslemische Ladenbesitzer, der ein jüdisches Kind adoptiert, oder Hassan, der koptische Christ, der seine Identität mit einem Moslem tauscht. Es ist mir eine Ehre, den Namen meines Großvaters zu tragen.«
Freunde von der High School und Uni nennen ihn später Junior. In der Familie heißt er von Kind auf Omie.
Die Frau des berühmten Großvaters heißt Faten Hamama. Sie ist in Ägypten viel berühmter als ihr Mann, bis der im Alter von 31 Jahren »Lawrence von Arabien« und drei Jahre später „Doktor Schiwago" dreht. »Großmutter versteckte sich regelrecht vor der Öffentlichkeit, gab nie ein Interview, ging nicht aus. Familie und Freunde waren ihr wichtiger als die Schauspielerei, die sie sie nur als ihren Job verstand - so wie ich. Großvater dagegen mochte es, im Rampenlicht zu stehen. Er war es auch gewohnt, hat ja schon auf der High School Theater gespielt.«
Omar Juniors Großeltern mütterlicherseits sind Holocaust-Überlebende, die sich nach dem Krieg in Belgien kennenlernten und nach Kanada auswanderten. Sie bekamen fünf Kinder - »Ich habe viele Cousins.« Omar Junior hat auch einen jüngeren Halbbruder, aus der zweiten Ehe des Vaters.
Die Ehe seiner Eltern hält nur kurz. Sie trennen sich, als das Baby neun Monate alt ist. Omar Junior pendelt schon als Kleinkind zwischen Montreal und Kairo, geht an beiden Orten zur Schule. In Florida besucht er jedes Jahr die Großeltern mütterlicherseits, noch öfter fährt er in den Schulferien nach Paris, wo sein Großvater zwischen Dreharbeiten im Hotel lebt - »Er liebte die Stadt«. Der Großvater schickt ihn zum Reitunterricht, nimmt ihn mit auf die Pferderennbahn, gibt ihm Geld zum Wetten. Es ist ein enges Verhältnis zwischen Großvater und Enkel. Obwohl Juniors Eltern getrennt sind, fühlt er sich überall zuhause, wo auch immer ein Teil seiner großen Familie ist. Er führt das privilegierte Leben eines kleinen Prinzen: »Der Name Sharif besitzt in Ägypten einen ähnlichen Klang wie der eines Kennedys in den USA. Oder sagen wir: eines Kardashian.«
Mit acht Jahren bekommt Junior seine erste kleine Rolle. »Mein Großvater hat mich mit seinem Assistenten zum Vorspielen geschickt. Er sagte: Wenn alle arbeiten, muss der Junge beschäftigt werden. Ich hatte keine Wahl. Ich wusste gar nicht, was das bedeutet. Ich mag die Schauspielerei lieber, seit ich auf englisch arbeiten kann. Ich spreche zwar arabisch, aber im Englischen fühle ich mich wohler.« Auf englisch hat er vor vier Jahren schließlich auch den Zeitungsartikel formuliert, in dem er sich outet.
Omar Junior studiert Politikwissenschaften in Kanada, nach dem Bachelor absolviert er einen Masterstudiengang an der London School of Economics, danach besucht er eine Schauspielklasse am Lee Strassberg Institute in Los Angeles. Im Jahr 2009 geht er zurück nach Ägypten, um seinem Vater zu helfen, Tarik führt einige Restaurants in Kairo. Nebenbei macht Junior Werbung für Unterhosen und wird das arabische Gesicht von Coca Cola. Er bekommt regelmäßig kleinere Rollen in Fernsehserien. »Ich bin nicht sonderlich talentiert, aber mein Name hat dafür gesorgt, dass ich in Ägypten immer genug zu tun bekam und manchmal auch in den USA.« Es reicht jedenfalls für eine Einladung zur Oscar-Verleihung im Januar 2011. An der Seite von Kirk Douglas darf er den Oscar für die beste Nebenrolle überreichen - »Das war mit Abstand das Wunderbarste, was ich in meinem Beruf bis dahin erleben durfte.«
Noch in Hollywood verfolgt er im Fernsehen den Ausbruch des Arabischen Frühlings in seiner Heimat. Er ist optimistisch, aber er hat auch Angst. »So viele Menschen zu hören, die bisher keine Stimme hatten, war toll, aber die Geschwindigkeit, mit der alles eingerissen wurde, was in Jahrzehnten gewachsen war, war unheimlich. Ich bekam Angst vor der Zukunft, vor Rückschritten nach einem möglichen Scheitern.«
Nach der Oscar-Verleihung reist Omar gespannt zurück nach Kairo. Er erkennt sein Land nicht wieder. Immer mehr Männer tragen Bart, immer mehr Frauen verschleiern sich. Ein Jahr nach Beginn des Arabischen Frühlings finden die Parlamentswahlen statt, bei der die Moslembrüder siebzig Prozent der Stimmen erhalten - ein Erdrutschsieg für den neuen Präsidenten Mursi. »Meine Großmutter hat in ihren über 200 Filmen emanzipierte arabische Frauen gespielt, ich machte mir allmählich Sorgen um alle Minderheiten, gar nicht so sehr um mich selbst.« Als er eines Abends auf der Straße joggen geht, hält hinter ihm ein Auto. Es ist eine gute Wohngegend, es ist auch abends heiß und Sharif hat sein T-Shirt ausgezogen. Die Leute schreien aus einem Auto: »Im neuen Ägypten geht das nicht, dass du draußen ohne Hemd rumläufst.« - »Da dachte ich mir, das wäre eigentlich ein passender Zeitpunkt, mich einmal öffentlich zu Wort zu melden.«
Sharif rennt nach Hause und beginnt, einen Brief zu schreiben. Auf Englisch, der Sprache, in der er studiert hat und in der er glaubt, sich differenzierter ausdrücken zu können. Er wendet sich darin an die neue Regierung, will ihr klarmachen, dass er Teil des neuen Ägyptens sein möchte, teilhaben möchte an den Veränderungen, und dass doch bitte für alle Minderheiten Platz sein müsse: für Frauen wie seine jüdische Großmutter, die Auschwitz, das Warschauer Ghetto und zwei Todesmärsche überlebt hat, oder wie seine andere Großmutter, die als Schauspielerin für die Emanzipation gekämpft hat, auch für ihn selbst, einen Homosexuellen.
Sharif glaubt, er müsse seine Homosexualität in dem Kontext erwähnen, die mache seinen Befürchtungen erst glaubwürdig. Nicht einmal seine Eltern wissen zu diesem Zeitpunkt davon. Er hatte ja Freundinnen in der Schulzeit, ging mit ihnen aus, stellte sie seiner Mutter vor und war zwischendurch immer wieder lange weg, so dass die Eltern nie mitbekamen, dass er Frauengeschichten immer beendete, bevor es mit einer ernst wurde. Der Vater war inzwischen das zweite Mal geschieden, niemand wollte ihn in eine Ehe drängen, mit 28 Jahren gilt Omar zu diesem Zeitpunkt immer noch als jung.
Bereits mit zwölf Jahren hatte er eine Ahnung, dass er schwul sein könnte, aber er wollte es lange nicht akzeptieren und er war sich auch nicht sicher. Wie sollte er? Ohne Rollenmodelle in Ägypten? Die fand er erst in Hollywood-Serien: »Da sah ich endlich Menschen, die auch anders waren. Das war mir als Teenager ein Trost.«
Aber Sharif hatte panische Angst. 2001 war gerade die Geschichte der Kairo 52 durch die Presse gegangen: Bei einer Razzia auf einem Disco-Boot wurden 52 homosexuelle Männer verhaftet, gefoltert und wegen obszönen Verhaltens verurteilt. »Von da an wusste ich, dass ich mein Geheimnis für mich behalten sollte. Schwulenbars oder einschlägige Badehäuser konnte ich nie besuchen. Mein Gesicht war viel zu bekannt.«
Erst in London, mit Mitte zwanzig, wird er sich seiner Sexualität allmählich sicher. Er will nicht mehr mit der Lüge leben, andere täuschen, will den Frauen, mit denen er ausgeht, keine falschen Hoffnungen mehr machen. Mit 28 Jahren ist er jetzt in Ägypten für sein Coming-out bereit. Mit seinen Eltern will er sich lieber nicht besprechen, will nicht um ihren Rat bitten: »Sie hätten mir abgeraten. Und manchmal ist es leichter, um Vergebung zu bitten als um Erlaubnis.«
Abends sitzt er oft vor seinem Artikel am Computer und drückt dann doch nicht auf Senden. Sharif kämpft mit sich. Er feilt drei Monate an den Wörtern, überlegt, wie sie interpretiert werden könnten, nimmt den Artikel mit, als er wieder nach Toronto reist. Hofft, sein Coming-out beiläufig genug formuliert zu haben. Bespricht sich mit einem Freund, dem Herausgeber eines Nachrichtenmagazins. Der rät ab, meint, so eine Nachricht würde im Nu um die Welt gehen. Sharif winkt ab. So berühmt sei er nun auch wieder nicht und Ägypten habe Wichtigeres zu tun als sich mit einem Schwulen zu beschäftigen. Eines Abends im März 2012 drückt er schließlich auf Senden.
Am Tag darauf erscheint der Artikel zuerst online bei The Advocate, einem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin, ein paar Tage später auch in der gedruckten Ausgabe. Da hat sich das Stück schon in Windeseile über Twitter und Yahoo verbreitet. Die New York Times, die ABC-Fernsehnachrichten und auch sämtliche Zeitschriften im Mittleren Osten stürzen sich auf Sharifs Coming-out. Angesichts der vielen Probleme hungern die Leute in Kairo regelrecht nach Ablenkung und Klatsch, den bekommen sie reichlich: Der Schwule, der Perverse, wie kann er das bloß seiner Familie antun? Und Jude ist er auch noch!
Die Reaktionen fallen viel wuchtiger aus, als Sharif sich das vorgestellt hatte. »Ich dachte, mein Outing wäre eine Fußnote in der Geschichte des Arabischen Frühlings, aber es wurde eine Schlagzeile.«
Omar Sharif muss in Kanada mitverfolgen, wie die Moslembruderschaft wenige Wochen nach Veröffentlichung das ägyptische Parlament über seine Ausbürgerung abstimmen lässt; der Antrag wird angenommen, seine Staatsbürgerschaft aberkannt, sein Pass für ungültig erklärt. »Dabei bin ich so stolz auf mein Land, ich liebe Ägypten.«
Sharif bekommt Hassmails und Todesdrohungen - »Man weiß ja nie, welche ernst zu nehmen sind.« Einige ägyptische Freunde sagen sich von ihm los. Er löscht seinen Facebook-Account. Er bekommt Depressionen, denkt an Selbstmord, versteckt sich in Toronto, allein, aber die Mutter in Montreal ist nicht weit. Er bereut seinen Schritt in die Öffentlichkeit und wünscht, er hätte den Artikel nie geschrieben.
Schwule werden in Ägypten dämonisiert. Das Schwulsein selbst gilt nicht als justiziabel. Schwule werden wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder Anstiftung zu öbszönem Verhalten angeklagt. Omar Sharif hält Araber nicht für schwulenfeindlicher als andere. »Ich werde das oft gefragt und dachte auch lange, dass es so wäre. Aber ein schwarzer Schwuler in Missisippi hat es genauso schwer wie ein schwuler Jude in Ägypten. Nicht die Religion, eher der Alltag macht Menschen homophob. Und in Kairo kennt man sowenig Schwule, in Fernsehserien kommen sie gar nicht vor.«
Omar Sharif ist nicht streng religiös. »Ich faste während des Ramadans mit meinem Vater und begehe mit meiner Mutter das jüdische Neujahrsfest, Puzzleteile aus jeder Religion bilden meine Spiritualität.«
Seine Eltern reagieren gelassen auf das Coming-out. »Ich kann mich glücklich schätzen, eine Familie zu haben, die mich bedingungslos liebt. Sie haben sich Sorgen gemacht und gleich überlegt, welche Vorsichtsmaßnahmen für mich zu treffen wären.«
Sharifs Halbbruder ist damals 12 Jahre alt. »Aber die jüngere Generation kennt Hollywood-Serien und hat weniger Probleme mit Homosexualität. Er wurde nicht mal in der Schule gemobbt.«
Der Bruder besuchte ihn in den USA, sie flogen nach Disneyland. Das letzte Mal brachte Karem seine Freundin mit. »Meine Familie ist klein, aber wir haben ein enges Verhältnis.«
Mit seinem Großvater spricht Omar junior nicht über sein Outing. Nicht aus Furcht, sondern einfach weil sich in ihrem Vertrauensverhältnis dadurch nichts geändert hat. »Ich gab dir meinen Namen, ich gab dir meinen Beruf, für alles weitere bist du selbst verantwortlich«, hatte Omar Sharif Senior seinem Enkel stets gesagt.
Sie treffen sich in Paris und dann noch mal Anfang 2015 bei Dreharbeiten in Dublin; beide Omars wurden für den Film »The secret scripture« engagiert. Jim Sheridan führt Regie, Eric Banna und Vanessa Redgrave spielen die Hauptrollen. Diesen Herbst wird der Film ins Kino kommen.
Omar Sharif, der Großvater, ist zu dem Zeitpunkt bereits an Alzheimer erkrankt. Nach dem Dreh fliegt er zurück nach Ägypten. Kurze Zeit darauf stirbt überraschend seine Frau und wenige Wochen später im Juli er selbst. »Sein Tod war ein Schock. Physisch war er ja recht gesund. Ich glaube, nach dem Tod von Großmutter wollte er nicht weiterleben. Er hat sie sehr geliebt.«
Der Enkel hat die Begräbnisse seiner Großeltern in Kairo nicht besucht. Er wusste nicht, wie groß das Risiko bei der Einreise gewesen wäre. Inzwischen hat ein Gericht alle alten Gesetze, die unter Mursi verfasst wurden, für ungültig erklärt. Aber Sharif kennt seinen aktuellen Status nicht, er hängt in der Luft, hat Angst, am Flughafen verhaftet zu werden. Bis zuletzt wurde eine Reihe von Freunden wegen Anstachelung zu unzüchtigem Verhalten verhaftet.
Die meisten Freunde waren ihm treu geblieben. »Als ich realisiert habe, dass die anderen, die sich von mir lossagten, nie wirklich meine Freunde waren, verschwand die Depression. Es war einfach eine große Lebenskrise. Ich bin an sich kein depressiver Typ.«
Als er sich erholt hatte, zog er nach New York und nahm 2013 das Angebot an, als Sprecher für GLAAD zu arbeiten, die »Gay and Lesbian Allience Against Defamation«. »Ich brauchte Geld. In den USA bin ich als Schauspieler längst nicht so gefragt wie in Ägypten und ich glaube an die Ziele der Organisation. So viel passiert gerade in den USA: Das Militär öffnet sich Lesben und Schwulen, gleichgeschlechtliche Ehen werden möglich.« Omar Sharif verkündet die Meinung der Bewegung zu Toiletten für Transsexuelle und die Warnung vor möglicher Diskriminierung bei der nächsten Fußball-WM in Russland. Donald Trump lernt er auch in seinem Job kennen: bei der Wahl einer Miss Transgender, die Trump überraschenderweise unterstützt. Es gibt jede Woche irgendetwas zu kommentieren und Gesprächsbedarf. Das Disco-Attentat in Orlando erlebt er als doppelten Alptraum: »Es war fürchterlich für mich - als Schwuler und als Araber.«
Die Aufmerksamkeit für seinen eigenen Fall kam in Wellen, zwischendrin verebbte die Empörung in Ägypten. Drei Jahre lang hielt er den Mund, gab keine Interviews, bis er sich das erste Mal in einer arabischsprachigen TV-Sendung zeigte. »Mein zweiter Auftritt wurde viel besser aufgenommnen, ich bekam weniger Hassmails und mehr Unterstützung der Art: Mein Sohn ist schwul, vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, wenn auch Omar Sharif schwul ist. Wenn meine Geschichte anderen Kraft geben kann, dann war es alles wert und ich bereue nichts mehr.«
Omar Sharif hat seinen Vortrag für Oslo auf kleinen Karten notiert. Er wird versuchen, sie nicht zu benutzen. Er hat seine Rede auswendig gelernt. Trotzdem ist er nervös: »Es ist viel schwieriger über sich selbst zu reden als über andere. Ich bin immer noch ängstlich, weil ich nicht weiß, wie die Menschen auf meine Geschichte reagieren. Vielleicht komme ich morgen nach jemandem an die Reihe, der gefoltert worden ist. Wer sind Sie bitte? Ein Unterhosenmodel, das jetzt in New York im Exil lebt? Das ist Ihr Schicksal? Ich könnte den Leuten so eine Reaktion nicht einmal verdenken.«
Am nächsten Morgen stellt er sich in seinem Vortrag kurz vor. Erzählt, dass die Situation in Kairo heute die gleiche ist wie unter Mubarak. »Die Gemeinschaft erhebt sich zur moralischen Instanz über Minderheiten, nichts ist besser geworden. Letztes Jahr wurden bei einer Razzia 26 Leute vor laufender Kamera nackt aus einem Badehaus gezerrt. Dabei waren die Männer gar nicht schwul, die Geschichte war komplett erfunden. Die Fernseh-Journalistin hat man später dafür auch verurteilt, aber die Existenz der 26 Männer ist zerstört. Einer wurde im Gefängnis sogar vergewaltigt. Alle mussten sich einer medizinischen Untersuchung unterziehen, mit der man feststellen wollte, ob sie schwul sind. Keiner war es, aber ihr Gesicht war da schon in der Öffentlichkeit. Diese Geschichte passiert jeden Tag, wenn es auch nicht gleich immer 26 Männer sind.«
Er vermeidet direkte Kritik am aktuellen Präsidenten Sisi. Sharifs Stimme wackelt vor Nervosität. Er redet zwölf Minuten lang und schaut manches Mal auf seine Karten mit den Notizen. Der Applaus fällt genauso lang aus wie bei der Kanadierin vor ihm oder dem Nordkoreaner nach ihm. Das Publikum spürt: Omar Sharif wurde nicht gefoltert, aber das Coming-out quält ihn immer noch aufs Neue.
Sharifs Vater Tarek sitzt nicht im Publikum. Dabei ist er nach Oslo gekommen. Vater und Sohn wollen im Anschluss an die Tagung drei Tage durch die Fjorde reisen.
Ohne den Arabischen Frühling hätte Omar Sharif Junior kein Coming-out gehabt, zumindest kein öffentliches. Er tat es in erster Linie aus Sorge um seine Heimat. Vielleicht hätte er es irgendwann seinen Eltern erzählt. Vielleicht auch nicht. »Die Sexualität eines Menschen finde ich für die Persönlichkeit gar nicht so entscheidend.« Er ist Single, er sagt, es bekümmert ihn nicht sehr. Er fühlt sich auch nicht befreit durch sein Outing. Omar Sharif hat nach seinem Coming-out mal ein paar Schwulenbars besucht, aus Neugier, er findet sie nicht sonderlich interessant. Man hat ihn eingeladen, Anfang August die Schwulenparade in Prag anzuführen. Das hat er noch nie gemacht. Er hat zugesagt.
Eher früher als später will er zurückkehren nach Ägypten. Er vermisst das Essen und den Sommer am Roten Meer. »Nein, ich tauche nicht, dafür bin ich zu klaustrophobisch.« Omar Sharif Junior ist ein vorsichtiger Mensch, in die Aktivistenszene ist er eher widerwillig reingerutscht. Aber er ist mutig genug, jetzt das erste Schwulenvorbild in der arabischen Welt zu werden.
Fotos: Andrea Gjestvang