Tag der Befreiung

Hunderttausende Tote liegen auf deutschen Soldatenfriedhöfen in Osteuropa. Manche Angehörige machen sich noch siebzig Jahre nach Kriegsende auf die Suche - in der Hoffnung, inneren Frieden zu finden.

Block D, Reihe 12. Rosemarie Mühle hat sich die Koordinaten fest eingeprägt. Der Friedhof liegt an einer Böschung oberhalb des Flusses. Gepflegter Rasen, mächtige Bäume. Langsam schiebt sich die Abendsonne unter den Gewitterwolken hervor. So viele Kreuze, so viele Granittafeln, so viele Namen. 11 799 Soldaten liegen auf Estlands größtem deutschen Soldatenfriedhof nahe der Grenzstadt Narva. Ruhig strömt der gleichnamige Fluss vorbei, die hölzernen Häuser am anderen Ufer gehören schon zu Russland. Mühle tritt aus dem Bus auf das Pflaster, dann zum Friedhofstor. Sie trägt eine Tüte am Handgelenk. Den grünen Schnellhefter mit den Papieren presst sie an sich. In Klarsichtfolien hat die 76-Jährige die Erinnerungen an ihren Vater geordnet.

Die Briefe der Kriegsgräberfürsorge. Das Beileidsschreiben des Kompaniechefs. Vergilbte Fotos: die Hundestaffel, in der der Gefreite Hessel seinen Dienst tat. Der stolze Vater auf Fronturlaub. »Das da bin ich«, sagt Mühle und zeigt auf das Baby im Kinderwagen. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Als der Sanitäter zu Beginn des Russlandfeldzugs fiel, war Rosemarie Mühle anderthalb Jahre alt. »Als Kind habe ich ihn immer gesucht«, sagt Mühle. Sie schließt die Augen. »Überall habe ich ihn gesucht.«

Inzwischen hat die Friedhofsangestellte die richtige Stele gefunden. Jeweils fünfzig Namen sind auf jeder Seite der mannshohen Granittafeln eingraviert. Erich Hessel, Gefreiter, geboren 10.7.1905, gefallen 22.9.1941.

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Eine halbe Ewigkeit hat Rosemarie Mühle auf diesen Moment gewartet. Sie wickelt die beiden Blumengebinde aus dem Papier, stützt sich mit einer Hand an der Stele ab und beginnt leise mit ihrem Vater zu sprechen. »Du hast mir so gefehlt.« Ihre Hand knüllt das Taschentuch zusammen.

Sie holt die Sachen aus dem Beutel und legt sie auf den Rasen, der noch nass ist vom Regen. Einen Engel, eine kleine Steintafel mit dem Porträt des Vaters, eine Kerze. Der Docht will im Wind nicht recht brennen. Dann spricht Mühle ein Gebet und liest ein Kirchenlied vor. Die kleine Zeremonie dauert nur wenige Minuten. Aber für Rosemarie Mühle ist sie nicht klein. »Ich wollte immer sehen, wie es dort aussieht«, sagt sie. Sie wirkt erleichtert.

Wie auch Hans Andree. Er hat ein paar Reihen weiter zum ersten Mal das Grab seines Onkels besucht, »im Auftrag der Cousine«. Sein eigener Vater liegt im Osten der Ukraine. Dort, sagt Andree, herrsche ja Krieg, kein guter Moment, um einen deutschen Soldatenfriedhof zu besuchen. Andree hat ein Marmeladenglas mit Heimaterde mitgebracht, das er neben der Grabplatte leert. Es stammt aus seinem Garten, dem Grundstück, auf dem früher sein Vater und Onkel gelebt haben. »Es gibt ein Foto, auf dem die beiden genau an der Stelle stehen, wo ich die Erde genommen habe.«

Andree ist Oberpfälzer, ehemaliger Fernfahrer, kein Mann der großen Worte. Er steht nur kurz am Grab. Aber darum geht es nicht. Er sieht zufrieden aus, als er den Friedhof verlässt. Sein Hinken verstärkt den Eindruck, dass er von weit her gekommen ist. Es sei gut, sagt Andree, zu wissen, wo der Onkel liegt. Ein Bild zu haben. Endlich persönlich Abschied nehmen zu können.

Schon am zweiten Tag der Rundfahrt ist die wichtigste Frage also geklärt: Warum reisen Menschen Tausende von Kilometern an die Gräber von Angehörigen, die vor mehr als siebzig Jahren ums Leben gekommen sind? Von Verwandten, die sie nur aus Erzählungen kennen? Sie tun es für sich. Für die Familie. Für einen Toten, der auch als Leerstelle fester Bestandteil ihres eigenen Lebens ist. Sie tun es, um einen Abschluss zu finden. Meistens erst im hohen Alter. »Zum Glück habe ich das noch geschafft«, sagt Rosemarie Mühle, als sie sich wieder auf ihren Platz im Bus sinken lässt.

Neun Soldatenfriedhöfe werden auf der einwöchigen Rundfahrt durch Estland und Lettland angesteuert, und fast jeder der 17 Teilnehmer dieser Gedenkreise sitzt im Bus, um am Grab eines Angehörigen zu trauern. Es geht ihnen nicht um die mittelalterlichen Altstädte, Jugendstilfassaden und Burgen, nicht um die Seen und Wälder, die Seebäder und Strände, die ebenfalls besucht werden. Es sind die Toten, die die Lebenden auf dieser Reise verbinden und sie miteinander ins Gespräch bringen. Beim Abendessen, während der Besichtigungen, und auf den langen Fahrten sowieso. Der Zweite Weltkrieg ist auch eine Erblast, die an die Kriegskinder und Kriegsenkel weitergegeben wurde, sein Trauma wirkt bis heute in den Familien nach. Kein Wunder, dass fast alle Teilnehmer die Fahrt zu den Gräbern als befreiend empfinden.

Wer soll in Zukunft die Friedhöfe besuchen, wenn die Kinder, Nichten und Neffen der Gefallenen nicht mehr da sind? Ihre Freunde, Ehefrauen und Geschwister sind schon fast alle gestorben

Seit Jahrzehnten veranstaltet der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge solche Angehörigenreisen. Viele davon führen inzwischen in ehemalige Ostblockstaaten, die früher kaum zugänglich waren. 15 bis zwanzig Reisen werden pro Jahr angeboten, dazu kommen zirka dreißig, die von den Landesverbänden ausgerichtet werden. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge betreut im Auftrag der Bundesregierung in 45 Staaten 832 Kriegsgräberstätten – die Gräber von 2,7 Millionen Kriegstoten. Dazu gehört auch: Angehörige beraten, Gräber pflegen, Gebeine umbetten, Trauerveranstaltungen und Jugendfreizeiten organisieren – und jene Gedenkreisen. In den Online-Datenbanken der Kriegsgräberfürsorge stehen die Namen von Millionen Toten und Vermissten.

Über die Arbeit des Vereins gibt es im Bus immer wieder kleine Vorträge zu hören. Vorne, neben der estnischen Reiseleiterin, sitzt Wolfgang Hoerle, der Reisebegleiter. Der 72-Jährige hat als Garten- und Landschaftsarchitekt jahrzehntelang Soldatenfriedhöfe instand gehalten und erlebt, wie sich die Arbeit der Kriegsgräberfürsorge seit 1990 verändert hat. Mit dem Ende des Kalten Krieges, erzählt Hoerle, habe eine ganz neue Phase begonnen. Plötzlich wurden Abkommen mit Ländern geschlossen, die früher deutsche Soldatenfriedhöfe überbaut und planiert hatten.

Mehr als 850 000 Kriegstote, darunter auch Deportierte, Flüchtlinge, Zwangsarbeiter und KZ-Opfer, wurden seitdem in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten gefunden und bestattet. Manche von ihnen ließen sich identifizieren, etwa anhand von Erkennungsmarken. Plötzlich mussten neue Friedhöfe errichtet werden. Hunderte neuer Ruhestätten. Jedes Jahr wurden immer mehr Tote gefunden. In Baugruben. In Wäldern und Sümpfen. Unter Sportplätzen. In manchen Gegenden steckt die Erde bis heute voller Knochen. »Darauf waren wir nicht vorbereitet«, sagt Hoerle.

Für die Kriegsgräberfürsorge begann auch ein Wettrennen mit der Zeit. Während die Bergungs- und Umbettungsarbeiten in der Ukraine, Weißrussland, Russland, dem Baltikum und anderen osteuropäischen Ländern laufen, sterben die Angehörigen. Und mit ihnen die Mitglieder und Spender. Bund und Länder übernehmen nur etwa ein Drittel des Budgets.

Wer soll in Zukunft die Friedhöfe besuchen, wenn die Kinder, Nichten und Neffen der Gefallenen nicht mehr da sind? Ihre Freunde, Ehefrauen und Geschwister sind schon fast alle gestorben. In den kommenden Jahren wird die persönliche Erinnerung an die toten Soldaten zwangsläufig erlöschen. Aber noch ist es nicht so weit.

»Ich fühle mich den gefallenen Kameraden gegenüber verpflichtet«, sagt Diethard Kollat auf die Frage, warum er die Reise nach Estland und Lettland angetreten hat. Der 79-jährige Oberstleutnant a. D. ist einer von drei Reiseteilnehmern, die keine Angehörigen im Baltikum zu betrauern haben. »Von unserer Familie hat es glücklicherweise niemanden erwischt«, sagt er. Kollat ist Offizier durch und durch. Zackig, ein bisschen steif und ein profunder Kenner der Militärgeschichte. Immer der Erste beim Aussteigen aus dem Bus. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, steht er jetzt zwischen den Gräbern des Friedhofs von Jöhvi. »Ich bin der Überzeugung, dass der Tod die Schuld löscht«, sagt Kollat, »deshalb ist es richtig, der Toten zu gedenken, auch wenn sie Unrecht getan haben sollten.«

Der ehemalige Bataillonskommandeur, Taktiklehrer und Berater im Verteidigungsministerium hat viel über ethische Fragen nachgedacht. Zumindest für einen Moment bleibt er immer auch vor den sowjetischen Ehrenmälern stehen. Es gibt sie in fast jedem Dorf. »Ich empfinde dann eigentlich das Gleiche wie bei den deutschen Friedhöfen«, erklärt er: »Die armen Kerle, gestorben für einen Wahnsinn.« Er verharrt vor einem Obelisken, auf dem der Sowjetstern thront. Die anderen aus der Gruppe sind schon weitergegangen ans Ufer des Peipussees. Schön ist es hier, still. Kleine Buchten, Fischernetze, Dörfer, in denen Zwiebeln angebaut und verkauft werden. Auf den Dächern sitzen Storchennester.

Sylke Schulte-Beckhausen, mit fünfzig Jahren die Jüngste in der Gruppe, zieht die Schuhe aus und steht im flachen Wasser. Jemand lässt einen Stein über den See hüpfen, das Ehepaar Hons posiert fürs Fotoalbum in einem gestrandeten Ruderboot. »Herrlich«, sagt Rosemarie Mühle. Sie ist nicht die Einzige, die sich von der bäuerlichen Umgebung in ihre Kindheit zurückversetzt fühlt.

Beim Spaziergang über das Hochufer des Sees durchquert die Gruppe einen Friedhof. Einen örtlichen, zivilen Friedhof diesmal. Die Kreuze stehen, so ist das in Estland üblich, in einem lichten Wald. Ein buntes, lebendiges Durcheinander. Überall Blumen und Bilder, überall wird ausgebessert und geflickt. Wolfgang Hoerle lehnt an der Mauer und freut sich. »Ich finde solche Friedhöfe großartig«, sagt der frühere Gartenbauarchitekt, »so liebevoll.«

Ein Kontrast jedenfalls zu den Kriegsgräberstätten, die alle streng geordnet und gepflegt sind. Die Anlagen ähneln einander, auch wenn der Friedhof von Viljandi, auf dem sich die Gruppe am Abend einfindet, verhältnismäßig klein ist. Identische Kreuze auf grünem Rasen. Namenstafeln. Ein zentraler Platz. Wie alle deutschen Soldatenfriedhöfe, die nach Kriegsende angelegt wurden, ist diese Gedenkstätte frei von Pathos. In solchen Anlagen werden keine Helden verehrt, das soll jeder spüren. »Fast noch Kinder«, murmelt jemand. Viele der Männer, man sieht es an den Jahreszahlen, starben als Jugendliche.

Wenn einer der Reiseteilnehmer das Grab seines Angehörigen besucht, unterstützen ihn die anderen behutsam. Gemeinsam wird nach dem richtigen Block und der richtigen Reihe gesucht. Man zieht sich zurück, wenn der Trauernde allein sein will, man bleibt in der Nähe, wenn ihm nach Reden zumute ist. Manfred Zerban möchte reden. Er erzählt vom Tod seines Vaters. Der Kanonier wurde beim Vormarsch nach Russland von Granatsplittern getroffen, als er mit den Kameraden der Beobachtungsgruppe gemütlich in der Sonne saß. Im Lazarett wurde ihm das Bein amputiert, wenige Tage später starb Herbert Zerban 29-jährig an einer Blutvergiftung.

Sein Sohn wickelt einen Strauß bunter Kornblumen aus dem Zeitungspapier. »Und dann kam der berühmte Brief«, sagt Manfred Zerban: »Für Führer, Volk und Vaterland.« Allzu viel ist es nicht, was er von seinem Vater weiß. Dass er ihm ähnele, hieß es früher immer. Manfred Zerban, 77, ist der Letzte seiner Familie. Er hat keine Kinder, sein Bruder ist gestorben. Im Alter, meint Zerban, rückten die frühen Erinnerungen stärker ins Bewusstsein. Vielleicht sei der Wunsch, das Grab des Vaters zu besuchen, deshalb erst in den vergangenen Jahren immer mehr in ihm gereift.

Die Reise zu den Toten ist auch eine Reise in die Kindheit. Im Bus wird viel von ihr erzählt. Von der Kindheit ohne den Vater. Mehr als über die Männer wird über die Mütter gesprochen. Junge Frauen, die stark sein sollten. Manfred Zerban erinnert sich daran, wie schwer seine Mutter es hatte. Allein mit den zwei Jungen. Erst im Luftschutzkeller, während der endlosen Fliegerangriffe. Dann, nachdem die kleine Familie ausgebombt worden war, auf der Suche nach einer neuen Bleibe. »Die Frauen haben funktioniert, sie haben alles gemanagt.«

In den kurzen, schmalen Schachteln liegen die Knochen von Wehrmachtssoldaten, die in den vergangenen Monaten auf der Insel geborgen wurden. Nur einer der Gefallenen, heißt es, wurde namentlich identifiziert.

Es wird überraschend offen geredet auf dieser Reise. Über Verhetzung und Propaganda, über Verfolgung und Flucht, über die Vertriebenen von heute. Und auch über die Spuren, die Krieg und Nationalsozialismus in Deutschland hinterlassen haben, vor der eigenen Haustür. Manfred Zerban erzählt im Bus von einer Radtour, die er vor wenigen Wochen auf der Schwäbischen Alb unternahm. Eine seiner Stationen war Grafeneck, ein Schloss, wunderschön auf einem Hügel gelegen. »Das war eine Heil- und Pflegeanstalt, ehe die Nazis es in eine Todesfabrik umgewandelt haben.« Er hat sich die Zahl der in Grafeneck vergasten Patienten gemerkt, 10 564. »Ich fuhr auf dieser Allee mit ihren wunderschönen Bäumen«, sagt er, »genau dort, wo die grauen Busse mit den Kranken kamen.« Dann bricht Zerbans Stimme. Er, der am Grab des Vaters gefasst blieb, hat nun Tränen in den Augen.

Immer wieder stand der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unter dem Verdacht, revanchistisches Gedankengut zu transportieren. Immerhin war die 1919 gegründete Organisation Teil der nationalsozialistischen Propagandamaschine gewesen. Ein Kapitel in der Vereinsgeschichte, das seine Mitglieder in der Nachkriegszeit kaum aufgearbeitet haben. Warum, fragen Kritiker, wurde die Organisation einfach fortgeführt? Nicht einmal der belastete Name wurde verändert. Und es engagierten sich stets auch alte Kameraden in der Kriegsgräberfürsorge, Männer, die mit dem offiziellen Motto von der »Versöhnung über den Gräbern« offenbar wenig hielten. Vereinzelte Vereinnahmungsversuche durch rechte Gruppen gibt es bis heute.

Wie dezidiert sich die Kriegsgräberfürsorge inzwischen von solchen Tendenzen distanziert, wird bei der Gedenkzeremonie auf der größten Insel Estlands deutlich. Anlass ist ein Jubiläum: Vor zwanzig Jahren wurde die Kriegsgräberstätte von Kuressaare eröffnet. Das Wetter ist gekippt. Es regnet in Strömen, der Rasen schmatzt vor Nässe. Örtliche Würdenträger und estnisches Militär sind auf dem Friedhof versammelt, Vertreter der Kriegsgräberfürsorge und der Bundesregierung. Veteranen werden in Rollstühlen auf ihren Ehrenplätzen postiert, ein Musikkorps spielt gegen den Wolkenbruch an.

Ein Graben klafft in der grünen Wiese. Vor ihm sind 16 schwarze Miniatursärge aufgereiht. In den kurzen, schmalen Schachteln liegen die Knochen von Wehrmachtssoldaten, die in den vergangenen Monaten auf der Insel geborgen wurden. Nur einer der Gefallenen, heißt es, wurde namentlich identifiziert.

Der Regen tropft von Pelerinen und Uniformen, von Regenschirmen und Blasinstrumenten. Über das rohe Birkenkreuz am Fuß der Gräber ist ein Stahlhelm gestülpt worden. Auch an ihm rinnt der Regen herunter.

Mit seiner kleinen runden Brille und dem gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Bart wirkt der deutsche Militärattaché wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Was der Vertreter der Bundesregierung in seiner Ansprache sagt, lässt aber keine Zweifel an seiner Haltung. »Nach dem Zweiten Weltkrieg und Millionen von toten Zivilisten und Soldaten, nach einem Völkermord an den Juden und an den Sinti und Roma«, sagt Konstantin Bellini, »war für viele Deutsche ein ehrenvolles öffentliches Gedenken an Menschen, die während ihres Militärdienstes ihr Leben gelassen hatten, diskreditiert.« Bellini spricht von Massenmord, der unmenschlichen Behandlung von Kriegsgefangenen und der massenhaften Vergewaltigung von Frauen durch Wehrmachtssoldaten. Erst dann fährt er fort. »Heute können wir der deutschen Opfer gedenken, weil wir auch der Opfer der Deutschen gedenken. Doch sind wir uns schmerzlich bewusst, dass unter den gefallen Deutschen, die von ihren Lieben beweint und betrauert wurden, nicht wenige waren, die erst selber töteten, bevor sie getötet wurden.« An den kommenden Tagen wird noch oft über die Gedenkfeier gesprochen. Bellinis Worte kamen in der Reisegruppe gut an.

Inzwischen ist der Bus in Lettland eingetroffen. Ehe die nächste Kriegsgräberstätte auf dem Programm steht, soll in einem entlegenen Weiler ein privates Kriegsmuseum besichtigt werden. Ilgvars Brucis, ein lettischer Sammler, hat in Zante zusammengetragen, was er in den Wäldern fand. Kugeln und Granaten, Helme und Waffen, Soldbücher, Teller, Rasierpinsel und Verbandszeug. Raum für Raum ist vollgestopft mit den Überbleibseln der Kurland-Schlachten. Hunderttausende deutsche Soldaten der Heeresgruppe Nord waren hier zusammen mit lettischen Hilfstruppen monatelang von der Roten Armee eingekesselt. Kapituliert haben sie erst am 8. Mai 1945.

»Wie fast alle Jungen in dieser Gegend bin ich lieber draußen auf Suche nach Militaria gegangen als in die Schule«, erzählt Ilgvars Brucis. In Tarnkleidung steht er zwischen Jeeps, Panzern und Amphibienfahrzeugen. Die »schwarze Archäologie« gilt hier als normales Hobby. »Der Boden ist nach wie vor voll von Munition«, sagt Brucis und deutet auf seine Exponate: »Bei mir können Sie sehen, dass dieser Krieg kein Videospiel war.«

Der Museumsbesuch hinterlässt in der Reisegruppe gemischte Gefühle. »Komischer Kauz«, finden die meisten – und sind doch froh über den bizarren Anschauungsunterricht.

Ein letzter Friedhof noch. Die Anlage in Saldus ist umgeben von raschelnden Birken und knarrenden Kiefern. Weites Land. Man kann sich vorstellen, wie Luchse und Bären durch die benachbarten Wälder streifen.

»Für mich ist es eine große Belastung, dass ich nicht weiß, wo mein Vater liegt«, sagt Rolf Piske. Der 76-Jährige ist der Schweigsamste in der Gruppe. Aufmerksam studiert er überall die Inschriften auf den Bodentafeln, auch jetzt. Vielleicht taucht der Name des Vaters ja doch noch irgendwo auf. »Das ist natürlich völlig irrational«, sagt er. Piskes Vater gehört zu den unzähligen Vermissten des Zweiten Weltkriegs. Vermutlich liegt er irgendwo in Polen, verscharrt in einem Massengrab. Zumindest deutet einiges darauf hin.

Anfang der Neunzigerjahre war Rolf Piske zum ersten Mal mit der Kriegsgräberfürsorge unterwegs. Nach Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. »Ich hatte große Bedenken, beschimpft zu werden«, sagt Piske. »Die Stadt war ja von deutschen Truppen praktisch dem Erdboden gleichgemacht worden.« Aber das Gegenteil sei der Fall gewesen. »Wir sind herzlich aufgenommen worden.« Fast beschämend fand er die Gastfreundschaft der Russen, und das an diesem Ort des Grauens. »Man zeigte uns Bilder von 1943, als die Toten mit Baggern auf die Wolga geschoben wurden, weil der Boden gefroren war, und die Leichen schwammen dann im Frühjahr ins Kaspische Meer.«

Die Kriegstoten haben Piske nicht mehr losgelassen. Er reiste nach El Alamein und Tunis, nach Moskau, Murmansk und Nowgorod, auf die Krim, nach Finnland und Polen. Mehr als ein Dutzend Mal war er mit der Kriegsgräberfürsorge unterwegs. Ein Getriebener, sagt er selbst. »Aber ich habe Versöhnung und Völkerfreundschaft am eigenen Leib erfahren. Das will ich nicht missen.« Dann wendet er sich wieder den Inschriften zu.