Maria und Josef reloaded

Immer mehr Hebammen wechseln den Beruf, immer mehr Kreißsäle schließen. Die Folgen des Hebammenmangels: In Großstädten finden werdende Eltern oft keine Betreuung. Unsere Kolumnistin über verzweifelte Anrufe und  Bestechungsversuche.

»Bitte, bitte, können wir vorbeikommen?« Der Mann am Telefon klang verzweifelt. Das Krankenhaus, in dem sie sich ursprünglich angemeldet hatten, sei akut überlastet und hätte sie abgewiesen. Seitdem hätte er bei drei Kreißsälen angerufen: alle voll. Eigentlich kämen sie aus der Nachbarstadt. Ich überschlug die Entfernung, vierzig Kilometer! Im Hintergrund hörte ich den spitzen Schrei seiner Frau. »Verdammt, können wir uns jetzt ins Auto setzen und losfahren?« – »Natürlich, aber fahren Sie bitte vorsichtig,« sagte ich.

Als die beiden bei uns ankamen, war mein erster Gedanke: Das sind Maria und Josef. Genau so muss es gewesen sein, damals in Bethlehem. Die Frau gebeugt, stumm schluchzend, der Mann sorgenzerfurcht. Und wütend. »Wie kann das sein, dass wir kein Krankenhaus finden, das uns aufnimmt? Im Jahr 2017? In einer Industrienation?«, brüllte er mich an.

Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte: bei den Krankenhäusern, die ganze Geburtshilfe-Abteilungen schließen, weil sie sich nicht »rechnen«? Bei den verbleibenden Kliniken, die – wie unsere – unter der zusätzlichen Belastung ächzen und in manchen Nächten sieben Geburten verzeichnen? Bei den Versicherungen, die das Risiko von Fehlern bei der Geburtshilfe nicht mehr versichern wollen (es gibt noch genau einen Anbieter und der verlangt für die Berufshaftpflicht einer freien oder Beleg-Hebamme 7000 Euro pro Jahr. Was zur Folge hat, dass wiederum Kliniken mit Belegsystem keine Kolleginnen mehr finden und auch zum Aufgeben gezwungen sind)? Oder bei den Hebammen selbst, die früher oder später umsatteln, weil es bei mickriger Bezahlung eben auch ein Knochenjob ist aus Schichtdienst, Stress und Non-stop-auf-den-Beinen-Sein?

Meistgelesen diese Woche:

Ein böser Teil in mir empfindet ja fast Genugtuung, wenn der Hebammenmangel mal so spürbar wird. Es ist wie in anderen Pflege-Berufen auch: Sind die Leute direkt betroffen, finden sie die Umstände skandalös. Frauen, die schwanger sind oder gerade ein Kind bekommen haben, unterschreiben dir jede Online-Petition, und manche Eltern gehen vielleicht auch mal auf eine Demo. Aber das Thema rutscht auch bald wieder von ihrer Agenda. Denn sie sind ja längst mit der nächsten Jagd beschäftigt: nach einer Kita, einer größeren Wohnung, einem Kindergartenplatz.

Die modernen Marias und Josefs vergessen schnell, wie sie nach ihrem positiven Schwangerschaftstest aus Panik, keine Hebamme zu finden, Aushänge in Supermärkten gemacht haben und Postings bei Facebook und wie sie Hebammen wie mich mehr oder weniger deutlich versucht haben zu bestechen: »Können Sie uns nicht noch annehmen für die Wochenbettbetreuung? Wir zahlen ihnen schwarz den Privat-Satz, damit es sich für Sie rechnet! Und wir holen Sie auch immer und fahren Sie wieder zurück.«

Und sie haben dann leider auch vergessen, wie froh sie waren, dass sie mich im Wochenbett, wenn alles neu und ungewohnt ist, bei jedem Bauchgrummeln und wunden Po ihres Kindes anrufen konnten. Mit 32,87 Euro kann ich einen solchen Besuch abrechnen, egal ob er zehn Minuten oder zwei Stunden dauert. Ein Betrag, bei dem ein Handwerker sich nicht mal ins Auto setzt.

Telefonate bringen 5 Euro. Und ich kann auch nur fünf pro Frau abrechnen. Wenn die Eltern mich ein sechstes oder siebtes Mal anrufen, weil ihr Baby hustet oder sich nicht beruhigen lässt – was mache ich dann, wenn ich nach einer Nachtschicht gerade schlafe, wenn ich auf der Tanzfläche stehe oder im Urlaub bin? Ich gehe natürlich ans Telefon. »Freizeit« ist für viele Hebammen ein Fremdwort.

Vor einigen Tagen rief mich eine Schwangere an, Geburtstermin 26.12., eine moderne »Maria« also. Es war Hochsommer, seit Wochen sei sie auf der Suche nach einer Hebamme für die Nachsorge, ob ich noch etwas frei hätte. Verdammt, warum war ich ans Telefon gegangen? Eigentlich wollte ich an den Weihnachtstagen nicht arbeiten, sagte ich ihr. Das hatte ich schon in den letzten Jahren getan. »Wenn ich gewusst hätte«, sagte sie bitter, »dass es so schwierig wird, hätten mein Mann und ich die Schwangerschaft anders terminiert. Wissen Sie, was ätzend es sich anfühlt, wenn man so ungelegen kommt?«

Ich schwieg betroffen. Sie hatte ja Recht. Aber ich eben auch: ein Recht auf Urlaub, um genau zu sein. Seit Monaten machte ich vor und nach meinen Schichten Hausbesuche und gab an »freien« Tagen Geburtsvorbereitungskurse, um Geld für meinen großen Urlaub im nächsten Jahr zu sparen. »Na gut, wenn sich sonst niemand findet«, sagte ich schließlich. »Maria« jubelte am anderen Ende der Leitung.

Wenn ich erzähle, was ich mache, sagen die Leute so oft mit leuchtenden Augen: »Ach, Hebamme! Das ist ein toller Beruf!«. Ja, das stimmt. Nicht nur, wenn Maria und Josef kommen – der Beruf hat tatsächlich etwas biblisches. Aber manchmal packt mich auch ein heiliger Zorn.

Illustration: Cynthia Kittler