Warum mich ärgert, dass ständig »mehr Bewusstsein« gefordert wird

Unsere Autorin hat selbst erlebt, wie befreiend ein Bewusstseinswandel sein kann – der aber nicht dadurch entsteht, dass Menschen sich hinter einer hohlen Phrase verstecken.

Illustration: getty images/Jasmin Merdan

Nancy Faeser zum Beispiel. Im August, nachdem ein Mitarbeiter des Beschaffungsamtes der Bundeswehr festgenommen worden war, weil er wohl für Russland spioniert hatte, sagte die Innenministerin, es gebe bereits strenge Sicherheitsprüfungen, man wolle die Standards nun aber noch verschärfen. Und: Es sei wichtig, »mehr Bewusstsein für die Gefahren zu schaffen«.

Oder Steffi Lemke. Man wolle »Bewusstsein schaffen, dass wir mit Naturschutz auch Klimaschutz machen können«, sagte die Umweltministerin im Februar 2022 in einem großen Interview mit RiffReporter.

Oder, Jahre vor ihr, Markus Söder, damals noch bayerischer Umweltminister, zum Start der Biodiversitätskampagne »Bayern Arche«: »Unter Beteiligung der betroffenen Verbände werden wir unsere Artenschutzbemühungen noch einmal deutlich intensivieren und noch mehr Bewusstsein schaffen.«

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Ich mag es nicht mehr hören. Es sind ja nicht nur Politikerinnen und Politiker, die diese Phrase wieder und wieder bedienen. Eines meiner unliebsten Bewusstseins-Zitate stammt aus einem Artikel im Hamburger Abendblatt. Dort heißt es, »bei der Bekämpfung des weltweiten Klimawandels ist der Bewusstseinswandel mindestens so wichtig wie konkrete Maßnahmen zum Schutz der Umwelt«.

Ich kann mich nicht vor meiner Verantwortung drücken mit dem Verweis auf irgendjemandes fehlendes Bewusstsein

Nein. Wenn mir bewusst ist, dass ich für das Klima lieber mit dem Zug fahren sollte, statt mit dem SUV über die Autobahn zu rasen, es aber nicht tue, ändert das gar nichts. Wenn ich mit dem Zug fahre, schon. Und zwar unabhängig davon, was ich mir dabei denke, also ob ich es vielleicht nur tue, weil das Rasen endlich verboten und das Zugfahren billig ist. Und wenn ich ein Ministeramt habe und möchte, dass Bundeswehrmitarbeiter besser überprüft werden oder die Natur sorgsamer behandelt wird, dann kann ich dafür ganz schön viel tun. Stattdessen hat, um nur ein Beispiel zu nennen, Markus Söders CSU erst im Juli einen Gesetzentwurf zur Begrenzung des Flächenfraßes abgelehnt. Natürlich sollte ich mein Handeln erklären und zur Diskussion stellen – aber das heißt nicht, dass ich mich vor meiner Verantwortung drücken kann mit dem Verweis auf irgendjemandes fehlendes Bewusstsein.

Dabei möchte ich gar nicht sagen, dass Bewusstsein nicht wichtig wäre. Ich glaube, das ist es. Aber anderswo, auf eine andere Art. Und ich glaube, dass es anders entsteht.

Ich bin in den Nullerjahren in einer kleinen Stadt in der Oberpfalz aufgewachsen. Als Kind mochte ich die Dösigkeit, sie bedeutete Sicherheit und damit Freiheit. Aber irgendwann schlug das um. Freundinnen begannen, stundenlang darüber zu diskutieren, was diese Nachricht von jenem Jungen bedeutete und wer auf welchen Klassenkameraden stand. Für die Schülerzeitung sammelten wir Lehrersprüche wie: »Wer will denn das Ästhetizismus-Thema als Referat? Ist denn niemand von euch schwul? Das wäre doch ein tolles Thema, um sich als Schwuler auszuleben.« Und Mitschüler schoben, wenn sie einander was Nettes sagten, schnell hinterher: »Aber no homo!« Während ich nicht wusste, warum mein Bauch kribbelte, wenn ich ein bestimmtes Mädchen sah, während ich versuchte, mir einzureden, dass ich mich bestimmt auch bald in einen Jungen verlieben würde, während ich dachte, ich würde niemals jemandem erzählen, dass ich irgendwie anders zu sein schien. Natürlich wusste ich auch damals schon, dass es queere Menschen gibt, aber für mich waren das bunt geschminkte Männer in New York – Menschen, deren Leben so weit entfernt waren von meinem, dass sie gar nichts erklärten.

Es gab nicht den einen Moment, in dem ich verstand, dass ich queer bin. Viele kleinere und größere Dinge haben dazu beigetragen: ein Buch, in dem sich die erwachsene Protagonistin zum ersten Mal in eine Frau verliebt. An der Uni dann Kommilitonen, die ganz selbstverständlich Männer dateten. Eine Dozentin, die feministische Philosophie mit uns las.

In mir musste ein Bewusstsein dafür wachsen, was es heißen kann, queer zu sein. Dass ich das sein kann. Und dass es Gründe dafür gibt, dass ich meine Queerness nicht schon als Jugendliche erkannte und akzeptierte: Die Option, als Frau Frauen zu lieben, war in meinem Umfeld nicht vorgesehen.

Ich glaube, damit Menschen das Leben finden können, das zu ihnen passt, brauchen sie Geschichten

Die Philosophin Miranda Fricker hat für das, was ich erlebt habe, den Begriff »hermeneutische Ungerechtigkeit« geprägt. Hermeneutische Ungerechtigkeit bedeutet in etwa, sich selbst oder anderen Erfahrungen nicht begreiflich machen zu können, weil es keine Konzepte dafür gibt. Und zwar nicht zufällig, sondern weil diejenigen, die diese Konzepte prägen könnten, von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Ein häufig zitiertes Beispiel ist das von Wendy Sanford, die nach der Geburt ihres Sohnes in den Sechzigerjahren an einer postnatalen Depression litt, ohne es zu wissen. Psychische Krankheiten wurden noch stärker verdrängt als heute, Frauen galten noch selbstverständlicher als von Natur aus treusorgend. In Susan Brownmillers Buch In Our Time. Memoir of a Revolution erinnert sich Sanford daran, was ein feministisches Treffen in ihr veränderte, zu dem eine Freundin sie schließlich mitgeschleppt hatte: »In meiner Gruppe begannen die Leute, über postnatale Depression zu sprechen. In diesen 45 Minuten erkannte ich, dass das, wofür ich und mein Mann mir die Schuld gegeben hatten, nicht mein persönliches Versagen war. Es war eine Kombination aus psychischen Faktoren und einem echten, gesellschaftlichen Faktor, Isolation. Diese Erkenntnis war einer dieser Momente, die dich für immer zur Feministin machen.«

Ich glaube, damit Menschen das Leben finden können, das zu ihnen passt, und damit sie Verständnis entwickeln für diejenigen, die anders leben, brauchen sie Geschichten, in die sie sich hineinfühlen können. Vorbilder. Und Wörter. Bewusstsein eben. Und ja, ich glaube schon, dass sie dann eher etwas zum Besseren verändern.

Aber das heißt eben nicht, dass mit Bewusstsein allein alles erledigt wäre. Auch vor dem 1. Oktober 2017 wussten viele Menschen, dass sie selbst oder andere queer sind und dass das okay ist – und trotzdem konnten gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten. Dafür brauchte es eine handfeste Gesetzesänderung. Ein größeres Bewusstsein dafür, wie schön, wie normal queere Liebe ist, war die Grundlage dafür, aber nicht hinreichend.

Manchmal geht es sogar ohne breites Bewusstsein, muss es ohne gehen: Ebenfalls 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass es für intergeschlechtliche Menschen einen dritten, positiven Geschlechtseintrag geben muss – der Gesetzgeber war noch nicht so weit. Zuweilen müssen diejenigen, die die Macht haben, etwas zu ändern, mutig und engagiert genug sein, es einfach zu tun. Wenn Tatsachen geschaffen sind, kann ihnen Bewusstsein folgen.

Und damit wären wir wieder bei dem, was mich so stört: Alldem steht das Gequatsche vom Bewusstsein entgegen. Allein zu sagen, »dafür brauchen wir mehr Bewusstsein«, schreibt keine Bücher, lebt niemandem etwas vor, ändert keine Gesetze, baut nicht den öffentlichen Nahverkehr aus. Umgekehrt aber schon: Zu handeln verändert den Ist-Zustand der Welt und den in den Köpfen der Menschen.