Mut zur Lücke

Unsere Autorin hat ihren Schneidezahn verloren und bemerkt dabei, wie riesig sich eine kleine Zahnlücke anfühlen kann. Was ein vermeintlicher Schönheitsmakel über das eigene Selbstwertgefühl lehrt.

Illustration: Getty Images/GeorgePeters

An Weihnachten habe ich mit meinen Eltern und meiner Schwester sämtliche Mülleimer ausgeleert und durchwühlt. Auf der Suche nach meinem Schneidezahn. Nach 20 Minuten tauchte er wieder auf, inmitten von Plastikflaschen und leeren Tomatendosen. In ein Papiertaschentuch gewickelt lag er im gelben Sack. Genau genommen lag da nicht mein echter Zahn, sondern sein Ersatz, mein Provisorium. Den richtigen Zahn hatte ich schon Monate zuvor verloren.

An einem Regentag im April 2022 rutschte ich mit meinem Fahrrad-Reifen in die Trambahn-Schienen und stürzte gegen einen parkenden Dacia. Weder dem Auto noch meinem Fahrrad noch mir war etwas Ernsthaftes passiert, abgesehen von ein paar Schrammen. Dachte ich. Ein Jahr später, im Juni 2023, entdeckte ich eine Blase am Zahnfleisch über dem Schneidezahn. »Mhm, gebrochene Wurzel, der ist nicht mehr zu retten. Der muss raus«, sagte der Zahnarzt. Ich starrte ihn ungläubig an. Es brauchte drei weitere Zahnarzt-Besuche, bis ich es wirklich glauben konnte. Die gute Nachricht: Eine Lücke blieb mir erspart. Bis ich einige Monate später das eigentliche Implantat bekommen sollte, gab es einen provisorischen Ersatz – »Valpast« heißt das Ding und ist seitdem mein ständiger Begleiter.

Bevor es aber zum Kieferchirurgen ging, verabschiedete ich mich während eines Sommerurlaubs in Portugal melodramatisch von meinem Schneidezahn. Meinem Freund erzählte ich täglich, wie furchtbar ich aussehen würde und wie ungerecht das alles überhaupt sei. Während wir am schönsten Ort der Portugal-Reise zwischen zwei Bäumen in der Hängematte lagen, fing ich plötzlich an zu weinen.

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»Niemand wird mich jemals so sehen, beschloss ich«

Auf Bildern retuschierte ich mit Photoshop schon mal probeweise meinen Schneidezahn raus – nur um anschließend schockiert festzustellen, dass die Lücke ja noch viel schlimmer aussah als gedacht. Niemand würde mich jemals so sehen, beschloss ich. Meine Familie nicht, mein Freund nicht, meine Freunde und Freundinnen nicht und am besten ich mich auch nicht. Ich wollte mich schön fühlen und die Fotos waren der Beweis, dass ich das mit Lücke nicht konnte.

Andererseits kam ich mir lächerlich vor. Schließlich war ich abgesehen von meiner Zahnwurzel kerngesund. Mir fehlte es an nichts – außer einem Schneidezahn. Und an Selbstbewusstsein vielleicht. Denn wie sonst konnte so kleiner Makel zu so einer großen Verunsicherung führen?

Nachdem der Kieferchirurg eine halbe Stunde in meiner Mundhöhle gewerkelt hatte, während ich mit geschlossenen Augen hoffte, dass es bald vorbei sein möge, spürte ich, wie der Schneidezahn auf meiner Zunge landete. Wenige Sekunden später erblickte ich im Handspiegel mein neues Zahnlücken-Gesicht. Wie riesig so ein Schneidezahn ist. Sofort überkam mich ein Gefühl von Scham. Je öfter ich mit der Zunge durch die Lücke fuhr, desto schrecklicher fühlte ich mich. Mir kamen die Tränen. Das Provisorium durfte ich zwar ab sofort tragen, sollte es aber, sobald es drückte, sowie beim Schlafen und beim Zähneputzen, herausnehmen. In den ersten Tagen also praktisch andauernd. Das war es also gewesen mit meinem Vorhaben, mich selbst niemals mit Lücke zu sehen.

Immerhin musste ich zugeben, dass der Zahn weder falsch noch billig ausah, wie ich befürchtet hatte, er war kaum vom anderen Schneidezahn zu unterscheiden. Aber er hatte ja immerhin so viel gekostet wie ein Flug nach New York. Ansonsten aber war er eher enttäuschend: Ich hatte mit einem fest verankerten Provisorium gerechnet, das nur mit viel Mühe zu entfernen wäre. Das Ding, das ich bekommen hatte, bestand aus Nylon und hing mit einer Gaumenplatte und zwei Klammern über den Eckzähnen. Einmal mit der Zungenspitze gegen die Gaumenplatte gedrückt und ich stand wieder mit Lücke da. Zum Abschied bekam ich meinen alten Schneidezahn geschenkt. Wäre ich ein Grundschulkind, hätte ich ihn unter mein Kopfkissen gelegt und mir von der Zahnfee einfach einen Neuen gewünscht. Aber ich bin ja leider erwachsen.

Die nächsten Tage verkroch ich mich, hatte Schmerzen und fühlte mich unglaublich unwohl. Ständig lief ich ins Badezimmer, um meinen Mund durchzuspülen. Jedes Mal erhaschte ich dabei einen Blick im Spiegel und grinste mich mit Lücke an. Mein Selbstbewusstsein war am Tiefpunkt. Dass mein Freund meinte, er fände die Lücke cool, klang für mich weder glaubwürdig noch lustig. Witze, dass ich aussähe wie der Fußballer Niclas Füllkrug oder an Halloween ja als Hexe gehen könne, endeten im Streit. Ich war 23 Jahre alt und fühlte mich allein mit meiner Zahnlücke.

Bei einer Hausparty nahm ich dann, nicht mehr ganz nüchtern, meinen Zahn sogar mal als »Partytrick« raus

Als ich nach zwei Wochen voller Selbstmitleid doch wieder in Bars und auf Partys ging, stellte ich fest, dass ich nicht die Einzige war mit einem künstlichen Zahn. Es sprach nur niemand darüber. Egal, mit welcher Freundesgruppe ich unterwegs war, mindestens einer hatte eine Geschichte parat, wie auch er seinen Zahn verloren hatte: betrunken vom Trampolin gefallen, Unfall mit einem E-Scooter oder bei einer Schlägerei. Je öfter ich das hörte, desto lächerlicher kam es mir vor, daraus ein Drama zu machen. Bei einer Hausparty nahm ich dann, nicht mehr ganz nüchtern, meinen Zahn sogar mal als »Partytrick« raus. Das hieß aber nicht, dass ich mich wohlgefühlt hätte, wenn ich morgens im Aufzug-Spiegel bemerkte, dass ich ihn oben im Badezimmer vergessen hatte. Zumindest wurde ich nicht mehr panisch, wenn der Ersatzzahn mal wieder in eine Falafel Dürüm verschwunden war.

Nach zwei Monaten mit Provisorium traf ich in einem Café eine Freundin, die ich vor zehn Jahren zuletzt gesehen hatte. Sie erzählte mir von einer Bekannten, die ähnliches erlebt, sich aber gegen ein Provisorium entschieden hatte, weil sie es als lästig empfand. Stattdessen hatte sie ein Jahr lang eine Zahnlücke getragen. Ich merkte, wie mich Neid auf ihre Lässigkeit beschlich. Mich nervte dieses Ding ja auch beim Essen und Trinken – überhaupt drückte es ständig. Und trotzdem war die Lücke für mich nie eine Option. Meine Freundin meinte später, so eitel hätte sie mich gar nicht in Erinnerung gehabt. Obwohl ich wusste, dass sie es nicht böse meinte, wurmte mich der Satz. Weil ich ahnte, dass sie Recht hatte und ich sehr wohl eitel bin? 

Wie gerne wäre ich die Person gewesen, die Selfies mit Lücke auf Instagram postete und sich nichts aus den Kommentaren anderer machte. Ein paar Wochen später lief ich mit meinem Freund an einem Werbeplakat vorbei, das eine junge Frau mit einem fehlenden Schneidezahn zeigte. Darüber der Slogan: »Jede kann es einmal auf die Schnauze hauen.« Ich fand das Plakat witzig und wir machten ein Foto von mir mit Lücke davor. Auf Instagram teilte ich das Foto – doch nur »für enge Freunde und Freundinnen«. Wann und wo war sie mir abhandengekommen, meine Selbstsicherheit?

Das fragte ich den Psychologen Stefan Brunhoeber, der sich seit Jahren intensiv mit Themen zu Schönheit und Selbstwert auseinandersetzt. »Jugendliche entwickeln in der Pubertät Strategien, wie sie ihr Selbstwertgefühl sichern und Bewältigungskompetenzen, um sich vor Kommentaren zu ihrem Aussehen zu schützen«, so Brunhoeber. Während die einen lernten, mit Humor zu kontern, hätten vor allem Kinder aus einem konfliktvermeidenden Elternhaus große Angst davor, dass sich andere über ihr Aussehen lustig machten. Weil sie nie gelernt hätten sich zu wehren, versuchten sie alles, um keinen Anlass für abfällige Kommentare zu geben. Ich gehörte wohl zu Letzteren. Um meine Unsicherheit zu verbergen, hatte ich mir früher Socken ins Dirndl gestopft und mir wegen meiner Akne die Pille verschreiben lassen, was ich aus heutiger Sicht sehr problematisch finde.

Wir sind nicht mehr an unperfekte Zähne gewöhnt

Ist Eitelkeit also eine Form von erlernter Unsicherheit oder war es nicht doch normal, wenn mich meine Zahnlücke störte? Es gab kaum eine Freundin, die nicht mit dem Satz »Das wäre ja mein Albtraum« auf meinen fehlenden Zahn reagierte. Es gibt in unserer Gesellschaft ja so gut wie keine Zahnlücken mehr, weil Menschen die Möglichkeit haben, sich kieferorthopädisch behandeln zu lassen. Wir sind nicht mehr an unperfekte Zähne gewöhnt.

Im Februar fand ich mich zum Knochenaufbau und Implantat-Setzen auf dem Zahnarzt-Stuhl wieder. Damit die Wunde heilen konnte, durfte ich mindestens zwei Wochen lang auch kein Provisorium mehr tragen. Ich war wütend: Der Arzt hätte mich wenigstens vorwarnen können. Meinem Protest entgegnete er recht pragmatisch: »Wenn die Wunde rechtzeitig abschwillt und das Provisorium nicht mehr drückt, dann ist es okay.« Und wenn nicht? »Mut zur Lücke.«

Wenn ich eine Sache aus dem vergangenen halben Jahr mitgenommen habe, dann, dass ich keinen Mut zur Lücke habe. Zwei Tage vor meinem ersten Arbeitstag beim SZ-Magazin fuhr ich gehetzt zum Zahntechnik-Labor. Das Provisorium drückte und mit Lücke im Büro zu erscheinen, war keine Option. Ein neues Provisorium anzufertigen, dauere leider Tage, verkündete man mir. Vielleicht lag es an meinem verzweifelten Blick, dass die Zahntechnikerin Mitleid hatte und mir doch half. Oder daran, dass sie vor 30 Jahren, als sie so alt war wie ich, auch ihren Schneidezahn verloren hatte. Sie kannte das Gefühl. Eine halbe Stunde schliff sie an meinem winzigen Provisorium herum, bis es wieder passte.

Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass ich meine Zahnlücke cool finden muss. Aber ich muss mich auch nicht für sie schämen. Ich akzeptiere sie und es ist kein Weltuntergang, wenn sie zum Vorschein kommt. Aber es ist auch okay, sie lieber zu verstecken. Ich bewundere immer noch Menschen, die eine Zahnlücke einfach tragen. Ich weiß aber gleichzeitig, dass ich nicht so bin – und auch das in Ordnung ist.