Das Beste aus meinem Leben

Paola legt mir nahe, ich solle es mal mit dem Buddhismus versuchen. Mit der aus dem Buddhismus folgenden Gelassenheit. Mit dem Leben in der Gegenwart. Mit dem Immer-nur-an-das-Denken-was-man-gerade-tut. Mit dem Ansammeln von gutem Karma. Ich bin tatsächlich auf unangenehme Weise erregbar. Besonders im Straßenverkehr neige ich zum Pöbelhaften. Neulich bog ich in eine schmale Straße ein, musste aber sofort anhalten, weil mir ein Auto langsam entgegenkam. Ein anderes Auto überholte mich und versuchte, an mir vorbei in die schmale Straße einzubiegen, musste aber natürlich neben mir anhalten. Eine Frau saß darin.»Blinde Kuh«, sagte ich.Sie ließ ihre Scheibe herunter. Ich meine auch.»Tut mir leid«, sagte sie. »Aber deswegen muss man noch lange nicht blinde Kuh zu mir sagen.« Sie hatte es mir offenbar von den Lippen abgelesen, unmöglich konnte sie mich gehört haben.»Was sagt man nicht alles bei geschlossenen Scheiben!«, sagte ich. Von jedem meiner Kinder hätte ich in einer solchen Situation eine Entschuldigung verlangt… Der Arzt gibt mir nun schon Tabletten gegen zu viel Magensäure. Es kann so nicht weitergehen. Ich bin dem Stress zu wenig gewachsen. Ich muss zu einer neuen Lebenshaltung finden.Paola sagt neuerdings in solchen Lebenslagen: »Omm…« Sie sagt das halb ironisch und halb ernst, teils als Zitat, teils als Bekenntnis. Und bleibt ganz ruhig. Sie sucht ihr Handy, atmet durch und sagt: »Omm…« Sie diskutiert mit Luis, atmet durch: »Omm…« Sie trägt die kreischende Sophie durch die Wohnung: »Omm…«»Ich kann nicht gelassen werden«, sage ich. »Wenn ich immerzu gelassen bin, habe ich nichts mehr zu schreiben. Ich lebe von meiner Ungelassenheit.«»Blödsinn«, sagt sie.»Du verstehst mich eben nicht«, sage ich.»Das ist eine Unverschämtheit«, sagt sie. »Wenn ich dich nicht seit fast zwei Jahrzehnten verstehen würde…«»Es ist die reine Wahrheit!«, rufe ich.»Omm…«, sagt sie. Vorher hat sie durchgeatmet. (Es ist erstaunlich. Früher hätten wir uns jetzt gestritten.)Ich sage seit vielen Jahren bei jeder Gelegenheit etwas anderes. Wenn ich einkaufen war und in der Einkaufstüte hat sich ein Joghurtbecher geöffnet, sage ich, halb ironisch, halb aus tiefstem Herzen: »Hass…« Wenn ich beim Aufschließen der Haustür meinen Schlüsselbund durch den Gitterrost fallen lasse und beim Nachbarn klingeln muss, weil man nur durch sein Kellerfenster den Schlüsselbund aus dem Loch unter dem Gitterrost holen kann: »Hass…« Wenn mir morgens Kaffee auf das frische weiße Hemd kleckert: »Hassss…«Es ist ja kein Wunder, wenn ich krank werde. Es muss sich etwas ändern. Ich werde Paolas Beispiel folgen.Neulich fuhr ich mit dem Fahrrad die Sendlinger Straße entlang. Ein Cabrio überholte mich so, dass ich beinahe vom Radl gefallen wäre. Ich rief laut, und ohne weiter nachzudenken: »Omm..!«Das Cabrio hielt an. Ein Mann stieg aus.»Was hast du zu mir gesagt?!«, rief er.»Nichts.«»Du hast dumme Sau gesagt..?«»Sind Sie verrückt?«»Jetzt nennst du mich auch noch verrückt?« Er baute sich drohend vor mir auf.»Ich habe nur Omm… gesagt«, sagte ich. »Wie können Sie mich so missverstehen? Sie sind ja voller Hass. Es wird Sie krank machen.«Dann stieg ich auf mein Fahrrad und flüchtete, in der Gegenrichtung in die nächste Einbahnstraße hinein. Wer weiß, was er noch alles verstand. Und ich wollte mir doch meinen Einstand als gelassener Mensch nicht mit einer Schlägerei versauen.

Illustration: Dirk Schmidt