Die Gewissensfrage

»Meine Ärzte rechnen mich als Privatpatienten grundsätzlich ›unter erschwerten Umständen‹ ab, bei allen Fahrzeuginspektionen werden unnötige Teile in meinen Wagen eingebaut, mein Telefonanbieter verrechnet sich regelmäßig zu meinen Ungunsten, mein Apotheker empfiehlt mir nur die Medikamente, an denen er am meisten verdient, meine Bank hält Zinssteigerungen möglichst lange zurück und nun muss ich auch noch beim täglichen Mittagsmahl mit mürbem ›Mumienfleisch‹ rechnen. Darf ich deshalb bei meinem Autoverkauf einen kleinen Blechschaden verschweigen?« HANS-PETER P., HAMBURG

»Durch eine grüne Brille erscheint alles grün«, lautet ein japanisches Sprichwort. Kann es sein, dass Sie eine »Betrugsbrille« aufhaben und überall Schwindel und Gaunerei wittern? Und wenn Sie das dann auch noch zur Begründung für eigene Mauscheleien heranziehen wollen, müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, was zuerst da war: die Vermutung fremden Betruges oder die Idee zum eigenen?Natürlich gibt es die von Ihnen geschilderten Fälle. Daneben gibt es aber auch umgekehrt Patienten, die sich Leistungen oder Atteste erschleichen, sowie Kunden, welche die Werkstatt, den Telefonanbieter, die Apotheke oder ihre Bank prellen. Und am Gammelfleisch ist der schnäppchenjagende Verbraucher nicht ganz unschuldig. Jedoch, und das scheint mir wichtig: Das sind Auswüchse und nicht die Regel!Und selbst wenn Sie keineswegs eine leicht verschobene Wahrnehmung Ihrer Umwelt hätten, sondern tatsächlich alles »immer« so abliefe, wie Sie schreiben, selbst dann wäre das keine Entschuldigung, ein Gleiches zu tun. »Wie der eine mir, so ich dem Nächs-ten«, stellt nicht nur eine wunderbare Ausrede für fast alles dar, sondern ebnet, auf Unrecht bezogen, auch den Weg gerade in die Gesellschaft, die Sie am Anfang beklagen. Pathetisch ausgedrückt: Es entsteht ein sich selbst verstärkender Kreisel, der einen Sog direkt in den Orkus erzeugt.Die Frage ist doch ganz einfach: Finden Sie das alles gut? Nein? Dann dürfen Sie sich auch nicht so verhalten, völlig unabhängig davon, ob und wie viele andere es machen. Und falls Sie es tatsächlich gut finden, dürfen Sie sich trotzdem nicht so verhalten. Betrug und Schwindel sind nämlich in Wirklichkeit nicht gut!Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.